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Solange nun diese materielle Bindung besteht, – solange kann auch die Eigentümlichkeit der Zeitform als solche in der Sprache nicht rein heraustreten. Auch die Strukturverhältnisse der Zeit wandeln sich jetzt unwillkürlich in solche des Raumes um. Für das „Hier“ und „Dort“ im Raume besteht nur ein schlichtes Distanzverhältnis; es gilt hier einfach das Auseinander, die Trennung zweier Raumpunkte, während es bei dem Übergang vom einen zum anderen im allgemeinen keine bevorzugte Richtung gibt. Als Momente des Raumes besitzen beide Punkte die „Möglichkeit des Beisammenseins“ und halten einander gleichsam stand; das „Dort“ kann durch eine einfache Bewegung in ein „Hier“ verwandelt werden und das Hier kann, nachdem es aufgehört hat, ein solches zu sein, durch die entgegengesetzte Bewegung wieder in seine frühere Form übergeführt werden. Die Zeit aber zeigt im Gegensatz hierzu, neben dem Auseinander und der wechselseitigen Entfernung ihrer einzelnen Elemente, einen bestimmten einzigartigen und nicht umkehrbaren „Sinn“, in dem sie verläuft. Die Richtung von der Vergangenheit in die Zukunft oder die von der Zukunft in die Vergangenheit ist je ein unverwechselbar Eigenes. Wo indes das Bewußtsein noch vorzugsweise im Kreise der räumlichen Anschauung verharrt und die zeitlichen Bestimmungen nur insoweit ergreift, als es sie durch räumliche Analogien erfassen und bezeichnen kann, – da muß notwendig auch diese Eigenheit der zeitlichen Richtungen zunächst im Dunkel bleiben. Wie im Raume, so ist es auch hier der einfache Unterschied von Ferne und Nähe, auf den alles andere zurückgeführt wird. Die einzige wesentliche Differenz, die ergriffen und scharf zum Ausdruck gebracht wird, ist die zwischen dem „Jetzt“ und Nicht-Jetzt – zwischen dem unmittelbaren Gegenwartspunkt und dem, was sich „außerhalb“ desselben befindet. Dabei ist freilich dieser Punkt nicht als streng einfacher mathematischer Punkt zu denken, sondern es eignet ihm eine bestimmte Ausdehnung. Das Jetzt, nicht als mathematische Abstraktion, sondern als psychisches Jetzt, umspannt die Gesamtheit von Inhalten, die zu einer unmittelbaren zeitlichen Einheit zusammengeschaut, die zum Ganzen eines Augenblicks, als einer elementaren Erlebniseinheit, verdichtet werden können. Es ist kein bloß gedachter Grenzpunkt, der das Frühere vom Späteren trennt, sondern es besitzt in sich selbst eine gewisse Dauer, die so weit als die unmittelbare Erinnerung, als das konkrete Gedächtnis reicht. Für diese Form der primären Zeitanschauung zerfällt die Gesamtheit des Bewußtseins und seiner Inhalte gleichsam in


    Bauch“ für „ich bin im Gehen begriffen“. S. Westermann, Sudansprachen, S. 65, Gola-Sprache, S. 37, 43, 61.

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Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite 169. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/185&oldid=- (Version vom 11.10.2022)