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Aber je fester sich das „reine“, das wissenschaftliche Denken hier auf sich selbst stellt und je bewußter es auf alle Stützen und Hilfen der sinnlichen Empfindung oder der Anschauung verzichtet: – so scheint es doch nach wie vor in den Kreis der Sprache und der sprachlichen Begriffsbildung gebannt zu werden. Die wechselseitige Bindung des Sprechens und Denkens tritt an der logischen und der sprachlichen Entwicklung der Zahlbegriffe aufs neue in die Erscheinung – und sie erhält hier ihren vielleicht deutlichsten und bezeichnendsten Ausdruck. Nur durch die Gestaltung der Zahl zum Wortzeichen wird der Weg zur Erfassung ihrer reinen Begriffsnatur frei. So stellen die Zahlzeichen, die die Sprache erschafft, auf der einen Seite für die Gebilde, die die reine Mathematik als „Zahlen“ bestimmt, die unentbehrliche Voraussetzung dar; auf der anderen Seite aber besteht, freilich zwischen den sprachlichen und den rein intellektuellen Symbolen eine unvermeidliche Spannung und ein niemals völlig aufzuhebender Gegensatz. Wenn die Sprache den letzteren erst den Weg bereitet, so vermag sie ihrerseits diesen Weg nicht bis zu Ende zu durchmessen. Jene Form des „beziehentlichen Denkens“, auf welcher die Möglichkeit der Setzung der reinen Zahlbegriffe beruht, bildet für sie ein letztes Ziel, dem sie sich in ihrer Entwicklung fortschreitend annähert, das sie aber innerhalb ihres eigenen Gebiets nicht mehr vollständig zu erreichen vermag[1]. Denn eben jenen entscheidenden Schritt, den das mathematische Denken von den Zahlbegriffen fordert, eben jene eigentümliche Losreißung und Emanzipation von den Grundlagen der Anschauung und der anschaulichen Dingvorstellung, vermag die Sprache nicht zu vollziehen. Sie haftet an der Bezeichnung konkreter Gegenstände und konkreter Vorgänge und bleibt an sie auch dort gebunden, wo sie sich mittelbar zum Ausdruck reiner Beziehungen zu gestalten sucht. Aber wieder bewährt sich hierin das gleiche dialektische Prinzip des Fortschritts: je tiefer die Sprache in ihrer Entfaltung in dem Ausdruck des Sinnlichen versenkt scheint, um so mehr wird sie damit zum Mittel des geistigen Befreiungsprozesses für das Sinnliche selbst. An der Materie des Zählbaren entfaltet sich, so sinnlich, so konkret und beschränkt sie zunächst genommen wird, dennoch die neue Form und die neue gedankliche Kraft, die in der Zahl beschlossen liegt.

Aber diese Form tritt hier nicht sogleich als ein geschlossenes Ganze heraus, sondern sie muß sich successiv aus ihren einzelnen Momenten erst aufbauen. Eben darauf aber beruht nun der Dienst, den die Betrachtung der sprachlichen Entstehung und Herausbildung der Zahlbegriffe


  1. [1] Vgl. hrz. weiter unten: Kap. V.
Empfohlene Zitierweise:
Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite 182. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/198&oldid=- (Version vom 28.10.2022)