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angewendet, je nachdem es sich um einen von außen kommenden Besitz oder um ein Objekt handelt, das sein Dasein der persönlichen Tätigkeit des Besitzers verdankt[1]. In ähnlicher Weise unterscheiden die Indianersprachen meist zwischen zwei Hauptarten des Besitzes: zwischen natürlichem und unübertragbarem und künstlichem und übertragbarem Besitz[2]. Auch rein zahlenmäßige Bestimmungen können eine Mannigfaltigkeit im Ausdruck des Besitzverhältnisses bedingen, indem bei der Wahl des Possessivpronomens unterschieden wird, ob es sich um einen, um zwei oder um mehrere Besitzer handelt und ob der besessene Gegenstand einzig oder doppelt oder mehrfach vorhanden ist. In der aleütischen Sprache z. B. ergeben sich aus der Berücksichtigung und aus der Kombination all dieser Umstände neun verschiedene Ausdrücke des possessiven Pronomens[3]. Aus alledem geht hervor, daß der homogene Besitzausdruck ebenso wie der homogene Zahlausdruck erst ein relativ spätes Produkt der Sprachbildung ist und daß auch er sich erst aus der Anschauung des Heterogenen herauslösen muß. Wie die Zahl den Charakter der „Gleichartigkeit“ erst dadurch erlangt, daß sie sich fortschreitend aus einem Dingausdruck in einen reinen Beziehungsausdruck wandelt – so gewinnt allmählich auch die Einfachheit und Einerleiheit der Ichbeziehung den Vorrang vor der Vielfältigkeit der Inhalte, die in diese Beziehung eingehen können. Auf dem Wege zu dieser rein formalen Bezeichnung des Besitzverhältnisses und somit auf dem Wege zur mittelbaren Erfassung der formalen Einheit des Ich scheint sich die Sprache überall dort zu befinden, wo sie statt der possessiven Fürwörter den Genitiv als Besitzausdruck verwendet. Denn dieser wird, obwohl auch er in konkreten, insbesondere in räumlichen Anschauungen wurzelt, in seiner Fortbildung mehr und mehr zu einem rein „grammatischen“ Kasus, zum Ausdruck der „Zugehörigkeit überhaupt“, die sich auf keine Sonderform des Besitzes beschränkt. Eine Vermittlung und ein Übergang zwischen beiden


  1. [1] S. Codrington, Melanes. lang., S. 129 f.
  2. [2] Solche Unterschiede der Possessivsuffixe für übertragbaren und unübertragbaren Besitz finden sich z. B. im Haida, im Tsimshian, wo weiterhin zwischen dem übertragbaren Besitz belebter Wesen (mein Hund) und unbelebter Dinge (mein Haus) unterschieden wird, und in den Sprachen der Sioux-Indianer, vgl. Boas’ Handbook I, 258, 393, 946 f.
  3. [3] Vgl. Victor Henry, Langue aleoutique, S. 22; ähnliches gilt für die Eskimosprache, vgl. Thalbitzer in Boas’ Handbook I, 1021 ff. Von den finnisch-ugrischen Sprachen bemerkt Szinnyei (a. a. O., S. 115), daß es hier ursprünglich zwei Paradigmen mit possessiven Suffixen gegeben habe: das eine für singularischen, das andere für pluralischen Besitz. In den meisten Einzelsprachen habe sich aber dieser Unterschied verdunkelt; am besten sei er im Wogulischen erhalten.
Empfohlene Zitierweise:
Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite 226. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/242&oldid=- (Version vom 8.1.2023)