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bringen. So ist z. B. in der Sprache der Fidschi-Inseln je ein eigenes Wort im Gebrauch, das Gruppen von zwei, von zehn, von hundert, von tausend Kokosnüssen, oder auch eine Gruppe von zehn Kanus, von zehn Fischen u. s. f. bezeichnet[1]. Und auch nachdem die Scheidung eingetreten, nachdem die Zahlbezeichnung gegenüber der Ding- und Eigenschaftsbezeichnung selbständig geworden ist, sucht sie sich noch immer der Mannigfaltigkeit und Verschiedenheit der Dinge und Eigenschaften nach Möglichkeit anzuschmiegen. Nicht jede Zahl gilt für jedes Ding: denn der Sinn der Zahl liegt hier noch nicht darin, die abstrakte Vielheit schlechthin, sondern den Modus dieser Vielheit, ihre Art und Form, auszudrücken. So sind z. B. in den Indianersprachen verschiedene Reihen von Zahlworten im Gebrauch, je nachdem Personen oder Sachen, belebte oder unbelebte Dinge gezählt werden. Auch kann je eine besondere Reihe von Zahlausdrücken eintreten, wenn es sich darum handelt, Fische oder Bälge zu zählen, oder wenn das Verfahren der Zählung auf stehende, liegende oder sitzende Gegenstände angewandt wird. Die Moanuinsulaner haben verschiedene Zahlen von eins bis neun, je nachdem entweder Kokosnüsse oder Menschen, Geister und Tiere oder Bäume, Kanus und Dörfer oder Häuser oder Stangen und Pflanzungen gezählt werden[2]. In der Tsimshiensprache von Britisch-Kolumbien gibt es je eine besondere Zahlenreihe zur Zählung von platten Gegenständen und Tieren, zur Zählung von runden Objekten und Zeiteinteilungen, von Menschen, von Booten, von langen Gegenständen und von Maßen[3]; – und in anderen benachbarten Sprachen kann die Differenzierung der verschiedenen Zahlreihen noch weiter gehen und praktisch fast unbegrenzt sein[4]. Wie man sieht, ist hier das Bestreben der Zählung auf alles andere, als auf „Homogeneität“ gerichtet. Die Tendenz der Sprache geht vielmehr dahin, den quantitativen Unterschied dem generischen Unterschied, der sich in ihren


  1. [1] H. C. v. d. Gabelentz, Die melanesischen Sprachen, S. 23; vgl. Codrington, Melanesian Languages, S. 241. Ähnliche Kollektivworte finden sich in den melanesischen Sprachen auf Neu-Guinea, die z. B. je ein eigenes, in sich selbst ungeschiedenes Wort zur Bezeichnung von 4 Bananen oder 4 Kokosnüssen, von 10 Ferkeln, von 10 länglichen Dingen u. s. f. verwenden. Vgl. Ray, Torres-Expedit. III, 475.
  2. [2] Vgl. P. Jos. Meyer im Anthropos I, 228 (cit. von Wertheimer a. a. O., S. 342).
  3. [3] S. Powell, Introduction to the Study of Indian languages, S. 25, und die Zusammenstellung der verschiedenen Klassen von Zahlwörtern (Zahlworte für flache Gegenstände, für runde Gegenstände, für lange Gegenstände, für menschliche Wesen, für Maße) bei Boas, Tsimshian (Handbook I, 396 f.).
  4. [4] Vgl. hrz. bes. die von Levy-Bruhl aus der sprachwissenschaftlichen u. ethnologischen Literatur gesammelten Beispiele (a. a. O. S. 169 ff.).
Empfohlene Zitierweise:
Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite 189. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/205&oldid=- (Version vom 5.11.2022)