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Denn eben dies ist die gedankliche Aufgabe, die sie zu bewältigen hat, daß sie beide Forderungen nicht nur für sich erfüllt, sondern daß sie sie als eine einzige begreift. Jede wahrhaft zahlenmäßig bestimmte Vielheit ist eben damit zugleich als Einheit, jede Einheit zugleich als Vielheit gedacht und erfaßt. Nun findet sich freilich diese korrelative Einigung gegensätzlicher Momente in jedem geistigen Grundakt des Bewußtseins wieder. Immer handelt es sich darum, die Elemente, die in die Synthesis des Bewußtseins eingehen, in dieser nicht einfach nebeneinander stehen zu lassen, sondern als Ausdruck und Ergebnis ein und desselben Grundaktes zu begreifen, – die Verknüpfung als Sonderung, die Sonderung als Verknüpfung erscheinen zu lassen. Aber so notwendig diese doppelte Bestimmung ist, so kann doch, je nach der besonderen Eigenart des Problems, in der Gesamtsynthese bald der eine, bald der andere der beiden Faktoren sein Übergewicht behaupten. Wenn in dem exakten mathematischen Zahlbegriff das reine Gleichgewicht zwischen der Funktion der Verknüpfung und Sonderung erreicht scheint, wenn sich hier das Gebot der einheitlichen Zusammenfassung zu einem Ganzen und das Gebot der durchgängigen Diskretion der Elemente in idealer Strenge erfüllen – so überwiegt im Bewußtsein des Raumes und der Zeit je eines dieser Motive und behauptet gegenüber dem anderen den Vorrang. Denn im Raum stellt sich vorzugsweise das Moment des Bei- und Ineinanderseins der Elemente, in der Zeit das Moment ihres Nach- und Auseinanderseins dar. Keine einzelne räumliche Gestalt kann angeschaut oder gedacht werden, ohne zugleich den Raum als Ganzes, „in“ welchem sie enthalten sein soll, mitzudenken: die Besonderheit der Gestalt ist hier immer nur als Einschränkung des allbefassenden „einigen“ Raumes möglich. Auf der anderen Seite ist der zeitliche Augenblick das, was er ist, zwar gleichfalls nur dadurch, daß er als Moment in einer Folge, als Glied in einer Sukzession erscheint: aber eben diese Folge kann nur dadurch konstituiert werden, daß jedes einzelne Moment alle anderen von sich ausschließt, daß ein einfaches unteilbares „Jetzt“, ein reiner Gegenwartspunkt gesetzt wird, der sich von aller Vergangenheit und aller Zukunft schlechthin unterscheidet. Das konkrete Denken der Zahl, wie es in der Sprache seinen Ausdruck findet, nimmt beide Leistungen: die des Raumbewußtseins und die des Zeitbewußtseins, in seinen Dienst – und es benutzt sie, um kraft ihrer zwei verschiedene Momente an der Zahl zur Ausbildung zu bringen. Von der Unterscheidung der räumlichen Objekte her gelangt die Sprache zu ihrem Begriff und ihrem Ausdruck der kollektiven Vielheit – von der Unterscheidung der zeitlichen Akte gelangt sie zu ihrem Ausdruck der Besonderung

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Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite 195. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/211&oldid=- (Version vom 13.11.2022)