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„Reihung“ gemäß der Besonderheit der zu zählenden Objekte zum Ausdruck bringen. Eine bestimmte Gruppe von Gegenständen muß etwa, um gezählt zu werden, auf den Boden ausgebreitet, eine andere muß in Schichten übereinander gelegt werden, die eine muß in Haufen abgeteilt, die andere in Reihen geordnet werden – und jeder solchen bestimmten „Plazierung“ der Gegenstände entspricht je nach ihrer Eigenart ein verschiedenes verbales Zahlwort, ein anderer „numeral classifier“[1]. Kraft dieses Verfahrens werden die Bewegungen in der Aufreihung der Gegenstände mit bestimmten körperlichen Bewegungen, die in einer gegebenen Reihenfolge ablaufend gedacht werden, koordiniert. Dabei brauchen die letzteren nicht auf die Hände und Füße, die Finger und Zehen beschränkt zu bleiben, sondern können auf alle anderen Glieder des menschlichen Leibes übergreifen. In Englisch-Neu-Guinea geht die Folge beim Zählen von den Fingern der linken Hand auf die Handwurzel, den Ellbogen, die Schulter, den Nacken, die linke Brust, den Brustkasten, die rechte Brust, die rechte Seite des Nackens u. s. f. über; in anderen Gebieten wird in derselben Weise die Achsel, die Schlüsselbeinhöhle, der Nabel, der Hals oder die Nase, Auge und Ohr benutzt[2].

Man hat diese primitiven Zählmethoden in ihrem geistigem Wert oft tief herabgesetzt. „Das ist die Schuld, die auf dem Geiste der Neger lastet“ – so drückt sich z. B. Steinthal in seiner Darstellung des Zählverfahrens der Mande-Neger aus –, „daß er, zur Zehe gelangt, nicht die sinnliche Stütze verlassend, frei schöpferisch die Zehe mit sich selbst vervielfältigte, die kurze Reihe aus ihr selbst zur langen ausdehnte, sondern an seinem Leibe haftend von der Hand, dem edeln Werkzeug aller Werkzeuge, dem Diener des Geistes herabsank zum staubwühlenden Fuß, dem Sklaven des Leibes. Dadurch blieb überhaupt die Zahl am Leibe kleben und ward nicht zur abstrakten Zahl-Vorstellung. Der Neger hat keine Zahl, sondern nur eine Anzahl von Fingern, Fingern der Hand und des Fußes; nicht sein Geist ist es, welcher, vom Drange nach dem Unendlichen getrieben, zu jeder bestimmten Anzahl immer noch darüber hinausginge und aus sich selbst Eins hinzufügte; sondern die existierenden Einzelnen, die Dinge der Natur führten ihn von Eins zu Eins, vom kleinen Finger zum Daumen, von der linken zur rechten Hand, von der Hand zum Fuß, von einem Menschen zum andern; nirgends griff er frei gestaltend ein, sondern kroch an der Natur umher … Das ist nicht die Tat, die


  1. [1] Powell, Evolution of language a. a. O. I, 21; Gatschet, Klamalh language, S. 532 ff.
  2. [2] S. Ray, Torres-Straits-Expedit., S. 364; vgl. bes. das reichhaltige Material bei Levy-Bruhl, Das Denken der Naturvölker, dtsch. Ausg., Wien 1921, S. 159 ff.
Empfohlene Zitierweise:
Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite 185. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/201&oldid=- (Version vom 28.10.2022)