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zu kollektiven Verbänden, zu Mengen und Vielheiten[1]. Die sprachlich-gedankliche Bestimmung ist hier weit mehr darauf gerichtet, gewisse Gruppenformen herauszuheben und gegeneinander scharf abzugrenzen, als diese Gruppen selbst wieder in Einheiten und Einzelheiten zu zerbrechen: die Charakteristik der Vielheit als solcher erfolgt dadurch, daß sie ihrem anschaulichen Gesamtgehalt nach erfaßt und von anderen unterschieden, nicht dadurch, daß sie logisch und mathematisch aus ihren einzelnen konstitutiven Elementen aufgebaut wird. –

Die gleiche Grundauffassung tritt uns entgegen, wenn wir statt des Verfahrens, das die Sprache in der Bildung der Zahlworte befolgt, die Mittel betrachten, mit denen sie die formale und allgemeine Unterscheidung des „Singulars“ und „Plurals“ durchführt. Denkt man in der Idee des Plurals die logische und mathematische Kategorie der „Mehrheit“ beschlossen, also die Kategorie einer Vielheit, die sich aus klar geschiedenen gleichartigen Einheiten aufbaut, so zeigt es sich, daß der Plural, in diesem Sinne genommen, vielen Sprachen ganz abgeht. Eine große Zahl von Sprachen läßt den Gegensatz von Singular und Plural völlig unbezeichnet. Das Substantivum kann hier seiner Grundform nach ebensowohl als Bezeichnung der Gattung gebraucht werden, die als solche eine unbestimmte Vielheit von Exemplaren unter sich befaßt, wie es als Ausdruck eines einzelnen Exemplars der Gattung dient. Es steht somit zwischen Singular- und Pluralbedeutung noch mitten inne und hat sich gleichsam zwischen beiden noch nicht entschieden. Nur in einzelnen Fällen, in denen diese Unterscheidung wesentlich erscheint, wird sie durch besondere sprachliche Mittel bezeichnet, wobei jedoch häufig nicht sowohl die Pluralbedeutung, als vielmehr die singularische Bedeutung eine derartige besondere Auszeichnung erfährt. So haben sich z. B. die malayo-polynesischen Sprachen, nach Fr. Müller, „zum Begriffe der Zahl als einer Mehrfaches in eine lebendige Einheit fassenden Kategorie nie erhoben“, so daß ihre Substanzwörter weder eigentlich konkret, noch eigentlich abstrakt, sondern ein Mittelding zwischen beiden sind. „‚Mensch‘ gilt dem Malayen weder für einen Menschen in concreto, noch für Mensch = Menschheit in abstracto, sondern als Bezeichnung für Menschen, die man eben gesehen hat und kennt. Das Wort (ôran) entspricht aber dennoch mehr unserem Plural als Singular und letzterer muß überall durch ein Wort, das ‚eins‘ bedeutet,


  1. [1] Vgl. das System der japanischen und chinesischen „Numerative“ bei Hoffmann, Japan. Sprachlehre, S. 149 ff.
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Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite 191. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/207&oldid=- (Version vom 5.11.2022)