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näher angedeutet werden[1].“ Hier ist also nicht zunächst die bloße Einzelheit konzipiert, die dann durch ein sprachliches Formans in die Mehrheitsbedeutung umgesetzt wird, sondern aus der undifferenzierten Vielheit kann sich auf der einen Seite durch Hinzufügung bestimmter Nomina mit allgemein-kollektivem Sinn die Pluralbedeutung, auf der anderen Seite durch Anwendung bestimmter individualisierender Partikeln die Singularbedeutung entwickeln[2]. Die gleiche Anschauung des Einheit-Mehrheits-Verhältnisses liegt auch vielen altaischen Sprachen zugrunde, in denen gleichfalls ein und dasselbe, grammatisch nicht näher differenzierte Wort für den Ausdruck der Einheit und für den der Mehrheit gebraucht werden kann. Dasselbe Appellativum kann daher hier einerseits das einzelne Individuum und das ganze Genus, andererseits eine unbestimmte Anzahl von Individuen bezeichnen[3]. Aber auch diejenigen Sprachkreise, die den Unterschied zwischen Singular und Plural formell klar ausgebildet haben, zeigen noch mancherlei Erscheinungen, die deutlich darauf hinweisen, daß dieser strengen Scheidung ein Stadium relativer Indifferenz vorausgegangen ist. Häufig findet es sich hier, daß ein Wort, das bereits die äußere Prägung des Plurals trägt, seiner grammatischen Konstruktion nach im entgegengesetzten Sinne gebraucht, also mit dem Singular des Verbums verbunden wird, weil es seiner Grundbedeutung nach nicht sowohl als diskrete Mehrheit, als vielmehr als kollektive Gesamtheit und somit als kollektive Einfachheit empfunden wird[4]. Im Indogermanischen erklärt sich die Tatsache, daß im Arischen und im Griechischen der Plural der Neutra mit der Einzahl des Verbums verbunden wird, bekanntlich auf diese Weise: die Endung dieser Neutra


  1. [1] S. Fr. Müller, Novara-Reise, S. 274 f.; vgl. für die australischen Sprachen, S. 246 f.; s. auch Fr. Müller, Grundriß II, 2, 114 ff.
  2. [2] Näheres hierüber bei Codrington, Melanesian Languages, S. 148 f.; H. C. v. d. Gabelentz, Die melanes. Sprachen, S. 23, 255.
  3. [3] Vgl. Boethlingk, Sprache der Jakuten, S. 340 f.; H. Winkler, Der ural-altaische Sprachstamm, S. 137; zur „Pluralbildung“ in den altaischen Sprachen s. auch Grunzel, Vergl. Grammat. der altaischen Sprachen, S. 47 ff.
  4. [4] Im Ägyptischen werden, nach Erman (Ägypt. Grammat., S. 108 f.), viele Begriffe, die ihrem Sinne nach rein pluralisch sind, durch kollektive Abstrakta im Singular umschrieben und die Form des verbalen Prädikats gemäß dieser Auffassung umgestaltet. Ebenso sind in den südsemitischen Sprachen nach Brockelmann (Grundriß I, 437 ff., vgl. II, 77 ff.) die Grenzen zwischen Singular, Kollektiv und Plural noch in ständigem Flusse begriffen, so daß Kollektiva bei leichter Verschiebung wieder zum Singular werden und dann einen neuen Plural bilden können. Für den indogermanischen Sprachkreis s. die Beispiele, die Meyer-Lübke, Grammat. der roman. Sprachen II, 69 ff., III, 26 ff. aus den romanischen Sprachen gibt.
Empfohlene Zitierweise:
Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite 192. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/208&oldid=- (Version vom 5.11.2022)