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noch eine gegenständliche Fassung und Formung geben müssen: – wird sie an der Bezeichnung des Objektiven die des Ich gleichsam erst finden müssen.

Diese Voraussetzung findet ihre Bestätigung, wenn man die Art betrachtet, in der die Sprache zum Ausdruck persönlicher Verhältnisse nicht sogleich die eigentlichen persönlichen Fürwörter, sondern die possessiven Pronomina benutzt. In der Tat nimmt die Idee des Besitzes, die in diesen letzteren dargestellt ist, zwischen dem Gebiet des Objektiven und des Subjektiven eine eigentümliche Mittelstellung ein. Was besessen wird, ist ein Ding oder Gegenstand: ein Etwas, das sich schon durch die Tatsache, daß es zum Besitzinhalt wird, als bloße Sache zu erkennen gibt. Aber indem nun eben diese Sache als Eigentum erklärt wird, erhält sie damit selbst eine neue Eigenheit, rückt sie aus der Sphäre des bloß natürlichen in die des persönlich-geistigen Daseins. Es ist gleichsam eine erste Belebung, eine Verwandlung der Seinsform in die Ichform, die sich hierin ankündigt. Auf der anderen Seite erfaßt sich das Selbst hier noch nicht in einem freien und ursprünglichen Akt der Selbsttätigkeit, der geistigen und willensmäßigen Spontaneität, sondern schaut sich sozusagen im Bilde des Gegenstandes an, den es sich als den „seinigen“ zueignet. Diese Vermittlung des rein „personalen“ durch den „possessiven“ Ausdruck zeigt sich nach der psychologischen Seite hin in der Entwicklung der Kindersprache, in welcher die Bezeichnung des eigenen Ich weit früher durch possessive als durch personale Pronomina zu erfolgen scheint. Aber deutlicher als derartige nicht ganz sichere und eindeutige Beobachtungen[1] sprechen auch hier bestimmte Erscheinungen der allgemeinen Sprachgeschichte. Sie zeigen, daß der eigentlichen scharfen Ausbildung des Ichbegriffs in der Sprache ein Zustand der Indifferenz vorauszugehen pflegt, in der der Ausdruck des „Ich“ und der des „Mein“, der des „Du“ und des „Dein“ u. s. f. sich noch nicht geschieden haben. Der Unterschied beider Fälle – so bemerkt Humboldt – wird wohl empfunden, aber nicht mit der formalen Schärfe und Bestimmtheit, welche der Übergang in der Lautbezeichnung erfordert[2]. Wie die meisten amerikanischen Eingeborenensprachen, so gestalten auch die Sprachen des ural-altaischen Kreises die Konjugation des Verbums fast durchgehend


  1. [1] Vgl. über diese Frage C. und W. Stern, a. a. O., S. 41 u. 245 ff.
  2. [2] Humboldt, Einleit. zum Kawi-Werk (W. VII, 1, 231). Die „noch vorhandene Identität des Possessiv und Personalpronomens“ wird auch von K. v. d. Steinen für die Bakairi-Sprache betont. Ein und dasselbe Wort (ura) heiße nicht nur ‚ich‘, sondern auch ‚meines‘, ‚das ist mein‘, ‚das gehört mir‘, wie ein anderes ‚du‘ und ‚deines‘, ein drittes ‚er‘ und ‚seines‘ besage (Bakairi-Sprache, S. 348 f., 380).
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Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite 221. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/237&oldid=- (Version vom 7.1.2023)