Textdaten
Autor: Otto Ernst
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Titel: Die größte Sünde
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Auflage: 1. Auflage
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1895
Verlag: Conrad Kloss
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Erscheinungsort: Hamburg
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Quelle: UB Bielefeld und Commons
Kurzbeschreibung: Kirchenkritisches Drama in 5 Akten
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Editionsrichtlinien:
[I]
Die größte Sünde.


Drama in 5 Akten
von
Otto Ernst.


Motto:      Alle Sünde und Lästerung wird den Menschen vergeben; aber die Lästerung wider den Geist wird den Menschen nicht vergeben.
Matth. 12, 31.     



Hamburg 1895.
Verlag von Conrad Kloss.


[III]
Vorwort.

Dieses Drama erscheint hier zunächst für den Büchermarkt, und aus diesem Grunde habe ich mich für berechtigt gehalten, ein paar Scenen, die für die Aufführung, wenigstens für den gegenwärtigen Geschmack des Theaterpublikums, zweifellos gekürzt werden müßten, in ihrem ganzen ursprünglichen Umfange bestehen zu lassen. Im Gegensatze zu der Mehrheit unseres theaterbesuchenden Publikums bin ich der Meinung und werde voraussichtlich noch lange der Meinung bleiben, daß die Gattung des Dramas nicht nur eine theatralische, sondern auch eine litterarische Existenzberechtigung hat und daß der dramatische Dichter noch etwas anderes anstreben darf als die geschickte Mache. Im übrigen bin ich allerdings auch der Ansicht, daß sich die an ein Drama zu stellenden litterarischen Ansprüche mit den strengsten Ansprüchen auf Bühnengerechtheit vereinigen sollen und vereinigen lassen.

Daß ich die Möglichkeit einer öffentlichen Aufführung dieses Dramas überhaupt in Betracht ziehe, wird wohl manchem als eine starke Naivität erscheinen. Gleichwohl war es von einer Berliner Bühne angenommen, und die Polizei hatte nach längerem Bedenken die Aufführung gestattet. Aber jenes Theater ging schon ohne die Aufführung meines Stückes ein. Ob ein zweiter Theaterdirektor den Mut haben wird, es anzunehmen, ist zweifelhaft. Denn von diesem Drama dürfte gelten, war darin von den [IV] Gesinnungen seines Helden gesagt wird, nämlich: daß das Gesetz sie dulde, daß aber die Menschen sie nicht duldeten. Und die Menschen des Parketts, des Parterres und der Logen darf ein Theaterdirektor nicht erzürnen. Einer unserer erfolgreichsten Dramatiker sagte mir: „Wer heutzutage auf die Bühne kommen und sich auf der Bühne behaupten will, darf keine ernsthaften Konflikte aufgreifen.“ In der That ist unser Theaterpublikum auf einen Standpunkt gebracht worden, wo es Streit für Zank hält und eine von der Bühne herabklingende fremde Meinung als eine persönliche Beleidigung empfindet. So werden vielleicht viele dieses Stück trotz der Polizei für ein parteiliches, vielleicht gar für ein konfessionelles Tendenzdrama halten. Daß es das nicht ist, kann ich nur versichern; beweisen muß es die Dichtung selbst. Wenn sie dazu nicht die Kraft besitzt, so wird eine schöne Vorrede sie ihr sicherlich nicht verleihen können.

Hamburg, im Frühling 1895.
Otto Ernst.     


[V]
Personen:

August Wöhlers, Großkaufmann.
Christine Wöhlers, seine Frau.

Magdalene, Behrings Braut, 20 Jahre alt,
Fritz, 12 Jahre alt

}
beider Kinder.

Wolfgang Behring.
Elise Rehkamp.
Pastor Meiling.
Julius Weber, Comptoirist u. Mitglied eines Jünglingsvereins.
Emilie Stebeling, Vorsteherin einer höheren Töchterschule.
Dr. Edwin Scharff, Arzt.
Stein, Schneidermeister.
Schwester Helene.
Roloffs, Zeitungsträger.
Ein Bote der Paketpost.
Ein Diener bei Wöhlers.
Kinder, Spielkameraden Fritzens (hinter der Scene).

Ort der Handlung: Eine mittelgroße deutsche Residenz.
Zeit: Die Gegenwart.


[1]
1. Akt.

(Salon beim Großkaufmann Wöhlers. Prachtvolle, fast überladene Ausstattung. Die Thür im Hintergrunde ist geöffnet und gewährt einen Ausblick auf Freitreppe und Garten. Magdalene und Elise, letztere gesucht einfach, fast schwesternhaft gekleidet, kommen von hinten. Magdalene hält Elisens Hand. Links und rechts vom Zuschauer aus.)

1. Scene.

Magdalene: Wie schön, wie lieb von dir, daß du auf deiner Reise bei mir vorsprichst! du hast mich also nicht vergessen? In all’ der Zeit nicht? Wir haben uns lange nicht gesehen. Wart’ einmal: Das letzte Mal sahen wir uns, als du – (stockt.)

Elise: „Als du dich verlobest,“ wolltest du sagen – sprich es nur aus.

Magdalene: Ganz gewiß, ich wollte dir nicht weh thun –!

Elise (kalt und erhaben): O bitte! – Du thust mir nicht weh. Daß unsere Verlobung zurückging, war Gottes Wille.

Magdalene: Aber du hast mir noch garnicht gesagt, wohin denn deine Reise geht.

Elise: Nach Nieberg.

Magdalene: Nach Nieberg? Was willst du denn in dem langweiligen Nest?

[2] Elise: (überlegen, mit Schärfe) Nicht mich unterhalten, Kind. Der Provinzial-Verband der Frauenvereine für innere Mission hält dort eine Konferenz ab, und ich habe das Protokoll zu führen.

Magdalene: So etwas kannst du auch? Wenn ich nur das nicht sollte! Es muß zum Sterben langweilig sein!

Elise: (mit einem wehmütigen Bedauern) Langweilig und immer nur langweilig! Unterhaltung und immer nur Unterhaltung!

Magdalene: Oh du – das darfst du nicht sagen; ich genieße das Leben von Herzen gern – aber ich arbeite auch gern – und fleißig – und unermüdlich, wenn es sein muß.

Elise: Bete und arbeite! sagt ein schönes Wort.

Magdalene: (trocken) Ja. – (Verlegenheitspause) Aber du – hast du meinen Verlobten schon gesehen?

Elise: Im Garten sah ich – von weitem – einen jungen Mann –

Magdalene: (Mit steigender Wärme) War er groß und schlank? War er schön? War er lieb? Dann ist er’s gewesen!

Elise: Ein Knabe begleitete ihn –

Magdalene: Mein Bruder! Dann ist er’s gewesen! Der Junge kann sich kaum von ihm trennen. Und es ist kein Wunder. Wolfgang kommt jeden Tag zu uns und unterrichtet Fritz, bald in diesem, bald in jenem, wie es der Augenblick mit sich bringt. Ich bin dabei und frage und antworte schüchtern und glücklich und stolz wie ein Kind. Seine Seele [3] saugt die unsere an sich mit heimlicher Gewalt. – Du, – ich habe mir schon oft gedacht, wieviel Begeisterung glühen muß hinter einer solchen Geduld. Weiß Gott, ich wäre dazu nicht imstande! Und wenn’s ihm gelungen ist, wenn wir ihn verstanden haben, dann jubelt er noch lauter als wir, er faßt uns beim Kopf und tanzt und tollt mit uns durch die Stube und (selig in der Erinnerung) mich – mich küßt er – daß mir der Atem ausgeht! – –

Elise: (mit leisem Neid) Ihr seid wohl sehr glücklich, ihr tollen Weltkinder?

Magdalene: Wir? Ob er es ist – ach ja, ich glaub’ es! – und daß ich es bin – (Elisens Hand ergreifend und sie in großer Bewegung an sich ziehend) ach Elise, es ist ein unaussprechliches Glück, einen Menschen so lieb zu haben!

Elise (schweigt ergiffen.)

Magdalene: (sich besinnend) Verzeih’ – ich bin abscheulich –

Elise: Eure Bekannschaft ist sehr jung.

Magdalene: Ja – aber ich finde, wenn man so recht erkannt hat, daß ein Mensch gut ist, so ist es einem, als ob man ihn schon lange kennte.

Elise: Er hat dich aus einer großen Gefahr errettet?

Magdalene: Das weißt du?

Elise: Schon seit Wochen.

Magdalene: Wie habt ihr das so bald erfahren? Ihr in eurem abgelegenen Hermsdorf?

Elise: Man sprach im Frauenverein für innere Mission darüber.

[4] Magdalene: Ja, er hat mir das Leben gerettet – (schnell) nein nein! (schaudernd) mehr als das Leben. –

Elise: Willst du mir nicht erzählen?

Magdalene: O ja – aber mir graut noch, wenn ich daran denke. – Ich war zum Geburtstag einer Freundin – Anna Bauer! Du kennst sie ja auch!

Elise: Natürlich.

Magdalene: Also gut: zu Anna Bauers Geburtstag war ich geladen. Es war ein herrlicher Frühlingstag und ich beschloß, nicht unsern Wagen zu benutzen, sondern zu gehen. Wir waren denn auch ungeheuer vergnügt, und als es etwa 10 Uhr war, sollte eins unserer Dienstmädchen mich abholen und in der Dunkelheit zurückbegleiten. – Elise, an dem Abend hab’ ich einmal recht gefühlt, wie kaltherzig – wie ungeniert wir oft gegen die sind, die uns mit harter Arbeit dienen.

Elise: Wieso?

Magdalene: Das Mädchen sollte den Weg allein gehen. Ist sie denn nicht auch ein Weib?

Elise: Nun, dafür ist sie eben in der Stellung des Dienenden. Außerdem – solche Personen sind seelisch und körperlich in hohem Grade abgehärtet.

Magdalene: Um so schlimmer, wenn sie das sind!

Elise: Du vergißt zu erzählen.

Magdalene: Das Mädchen kam, und wir machten uns auf den Heimweg. In der abgelegenen und stillen Gärtnerstraße kam uns ein Trupp Betrunkener entgegen, singend und johlend.

[5] Elise: Natürlich, wo sieht man solche rohen Haufen jetzt nicht! Irrlehrer entfremden das Volk der Kirche, und es versinkt in Sünden und Laster.

Magdalene: Wir hatten entsetzliche Angst – denn weit und breit war niemand zu sehen als die Betrunkenen und wir. Der Haufe kam näher – umzingelte uns – schrie uns an mit entsetzlichen Worten – meine Begleiterin floh – ich fühlte, wie eine Hand meinen Hals umklammerte – – (bedeckt schaudernd das Gesicht mit beiden Händen) Da ist er gekommen, Elise, er, er! – Wie es ihm möglich gewesen ist, mich zu befreien, ich weiß es nicht. Ich hörte eine Stimme; laut und heftig klang sie von Zorn und Wut – dann vernahm ich nichts mehr. Ich erwachte aus einer Ohnmacht in seinen Armen – gerettet!

Elise (schnell): In seinen Armen?

Magdalene: Ja!

Elise: Hm. – Und das Gesindel? ist es entkommen?

Magdalene: Durch einen Menschen, den Wolfgang zu Boden geschlagen und den man verhaftet hatte, wurde man auch der andern habhaft. (Pause.)

Elise (neugierig): Nun – willst du nicht weiter erzählen?

Magdalene: Weiter erzählen? – Was soll ich dir denn noch erzählen?

Elise (höchst begierig): Als er nun andern Tages kam – und sich nach deinem Befinden erkundigte – (stockt)

Magdalene (verwundert): Als er andern Tages kam? (Plötzlich in Lachen ausbrechend) Nein, liebe Elise, so – so höflich war er nicht! Ich mußt’ ihn suchen, [6] wenn ich ihn wiederhaben wollte, und es war nicht schwer, ihn zu finden. Er war freilich erst seit wenigen Monaten hier; aber er gab in vielen Häusern Privatunterricht, meistens in armen Familien und unentgeltlich. Was ich über ihn hörte, was die Leute aus vollem Herzen von ihm erzählten – ich kann dir nicht sagen, wie es mich selig machte vor Hoffnung und – und wie es mich bange machte vor Zweifel!

Elise: Er hatte natürlich nicht nötig, für Geld zu unterrichten –

Magdalene: Doch! Er ist arm!

Elise (gedehnt): Aah – er ist arm? Dann hat er wohl deshalb seine Universitätsstudien abgebrochen?

Magdalene: Auch das weißt du?

Elise: Ich hörte im „Frauenverein für innere Mission“ davon.

Magdalene: Soo! – Er hatte die Stipendien groß nötig. Solange er Theologie studierte, genoß er auch reichlich Unterstützung. Als er sich aber von diesem Studium abwandte –

Elise: Er wandte sich von der Theologie ab? Er ist doch nicht etwa ein Freidenker?

Magdalene: Hahahaha, wie du das sagst! – verzeih’, aber ich konnte nicht anders, ich mußte lachen. Ob er ein Freidenker ist? – Das weiß ich nicht; aber ein freier Mann ist er, das weiß ich. Er hat immer den Mut, zu bekennen, was er denkt, und sieht man ihm in’s Auge, – da strömt einem derselbe Mut in’s Herz! Allerdings hab’ ich ihn [7] schon mal sagen hören: Niemand ist gezwungen zu glauben, was er nicht glauben kann.

Elise: (wie persönlich tief verletzt) O ich bitte! Was für Reden! Wir sollen Gott um Glauben bitten, wenn wir ihn nicht haben! – (Schnell:) Und deine Eltern – wie gefällt ihnen dein Verlobter?

Magdalene: (plötzlich sehr ernst) Du rührst an die wunde Stelle unseres Glücks. Den Retter ihres Kindes nahmen sie mit Dankbarkeit auf – und da mußten sie den Bräutigam ihres Kindes wohl zulassen. Papa hatte mich für den Sohn eines Geschäftsfreundes bestimmt. Eduard Jansen – du kennst ihn.

Elise: (mit Betonung) Eine reiche und angesehene Familie von ehrbarem, kirchlichem Sinn! Wenn der Segen deiner Eltern –


2. Scene.
(Die Vorigen. Man hört Wolfgang und Fritz hinter der Scene.)

Magdalene: Horch – das sind sie! Hörst du sie? Hörst du Wolfgang? Sie kommen hierher!

Wolfgang (hinter der Scene): Holla! Junge! wie du nun wieder gelaufen bist! Ganz außer Atem! Wildfang! Jetzt aber hinein ins Haus! (Treten auf die Terrasse.)

Fritz: Ach laß uns doch weiter spielen! Noch einmal, bitte, bitte! (gibt Wolfgang einen Schlag): Du bist es. (Will davonlaufen.)

Wolfgang: (fängt ihn) Nein, nichts da! Nachher spielen wir weiter. (Treten auf; Fritz hat sich an Wolfgangs Arm gehängt.)

[8] Fritz: Warum denn jetzt nicht mehr?

Wolfgang (in scherzend strengem Tone): Weil wir arbeiten müssen! Hast du denn etwa schon deine Schulaufgaben gemacht?

Fritz (kleinlaut): Nein.

Wolfgang: Nun also! Wenn man den Sausewind zufrieden ließe, setzte er sich erst spät am Abend mit dem müden Kopf an die Arbeit! Das haben wir neulich gesehen; so etwas machen wir nicht wieder. (Einen Schlaftrunkenen nachahmend) Industrii et attenti discipuli(einnickend, dann emporfahrend): linguam latinam amant. (Ebenso. Die Übrigen lachen. Wolfgang wird dabei der Damen gewahr.) Ah, du hier, Magdalene? Und –

Magdalene (stellt vor): Mein Verlobter, Herr Behring – Fräulein Rehkamp.

Elise (zu Wolfgang): Gestatten Sie, daß ich Ihnen auch noch mündlich meinen aufrichtigen Glückwunsch ausspreche. Der Segen des Allmächtigen sei mit Ihrem Bunde.

Wolfgang: Ich danke Ihnen, mein Fräulein.

Magdalene: Und nun komm mit in den Garten, Elise; hier ist es nicht mehr geheuer. Der Herr Professor will Unterricht erteilen. Ich gebe dir die Versicherung, daß das grenzenlos langweilig ist. Er ist der trockenste und grausamste Pedant, den man sich denken kann. Am Ende sind wir gar vor dem Bakel nicht sicher.

Wolfgang: Du Verleumderin! Hab’ ich dich jemals anders gestraft als mit –

[9] Magdalene: (ihm den Mund verschließend): Willst du gleich schweigen!

Wolfgang: Aber so reden alle schlechten Schüler über ihren Lehrer. Es sind nicht alle so unaufmerksam wie du. Du hast ja immer nur deinen Liebsten im Kopf!

Magdalene (in komischer Entrüstung): O du eingebildeter – du – du – Warte, das sollst du büßen! Zur nächsten spanischen Stunde lerne ich keine einzige Vokabel!

Wolfgang: Und für diese unehrerbietige Drohung laß ich dich nachsitzen! Noch heute Abend; zwei, drei, vier Stunden! Bei mir ganz allein!

Magdalene: (unter Lachen mit Elise ab.)

Wolfgang (gegen Elise sich verbeugend): Auf Wiedersehen, mein Fräulein!


3. Scene.
(Wolfgang und Fritz.)

Wolfgang: Vorwärts also – an die Arbeit! Was haben wir denn heute? Her mit dem Tagebuch!

Fritz (springt ins Nebenzimmer, holt seinen Schulranzen, zieht ein Heft daraus hervor und giebt es Wolfgang.)

Wolfgang: Waren denn deine gestrige Arbeiten gut?

Fritz (wichtig): Herr Dr. Helmers sagte: Fritz Wöhlers hat von der ganzen Klasse den besten Aufsatz geschrieben.

Wolfgang: Sieh, sieh! Da sind wir wohl sehr vergnügt gewesen.

Fritz: Ja! Und Fritz Paulsen hatte den schlechtesten gemacht. Ich hab’ ihn aber mal von meinem Apfel abbeißen lassen, da war er wieder lustig.

[10] Wolfgang: So.

Fritz: Ich hab’ aber auch dem Herrn Doktor gesagt, daß du mir tüchtig geholfen hast.

Wolfgang: Fragte er denn danach?

Fritz: Nein, aber er lobte mich so – so, als wenn – so als wenn ich alles allein gemacht hätte.

Wolfgang (den Kopf des Knaben mit Zärtlichkeit zwischen seine Hände nehmend und ihm einen liebkosenden Schlag gebend): Das hast du recht gemacht, Fritz.

Fritz: Der Herr Doktor fragte, ob du mir den Aufsatz vorgesagt hättest.

Wolfgang: Und was sagtest du?

Fritz (entschieden abweisend): Nee! sagt’ ich, Onkel Wolfgang fragt mich immer, und dann weiß ich schon alles ganz von selbst!

Wolfgang: So – Prahlhans! – Was hat euch denn der Herr Kandidat heut’ aufgegeben, laß sehn!

Fritz: Sechs Bibelsprüche und drei Gesangverse.

Wolfgang: Na, dann mach dich nur bald daran. (Kurze Pause.)

Fritz: Du, Onkel Wolf.

Wolfgang: Nun?

Fritz: Betest du eigentlich, Onkel Wolf?

Wolfgang (stutzt, sieht Fritz an, lächelnd): Wie man es nehmen will.

Fritz: Der Herr Kandidat sagt: Wer nicht betet, ist gottlos und wird nicht selig. Hier im Hause betet aber doch niemand, Papa nicht, Mama nicht, Magdalene nicht und ich auch nicht!

[11] Wolfgang: Vom Beten hab’ ich einmal eine Geschichte gehört, soll ich dir die erzählen?

Fritz: O ja, o ja! Erzähl, erzähl! (drängt sich zwischen Wolfgangs Kniee und sieht gespannt zu ihm hinauf.)

Wolfgang (in schlichtem, kindlichen Tone): *)[1] In einem fernen Lande lag einst ein Dorf mit einem Brunnen, dessen Wasser schlecht und ungesund war. Die Bewohner des Dorfes litten viel unter dem schlechten Wasser; fast alle erkrankten, und viele starben. Sie beteten zu ihren Göttern um besseres Wasser; sie opferten ihnen [und suchten auf jede Art, sie zu versöhnen]; aber niemand dachte daran, selbst etwas zur Besserung zu thun. Ein Mann aber lebte in demselben Dorfe, der opferte nicht und betete nicht, und man sah ihn nie im Tempel der Götter. Die anderen Leute haßten und verachteten ihn deshalb und nannten ihn den Gottlosen. Dieser Mann sprach eines Tages: „Ich will euch besseres Wasser verschaffen,“ ging mit einem Spaten hinaus auf’s Feld und begann einen Brunnen zu graben. Die es aber sahen, riefen: „Er will unser ganzes Dorf untergraben, daß unsere Hütten einstürzen und wir von den Trümmern begraben werden. Er ist ein Gottloser, darum ist ihm das Schlimmste zuzutrauen!“ Und sie gingen in der Nacht hin und schütteten das Loch wieder zu, das der Mann gegraben hatte. Als dieser am andern Morgen ihr Werk betrachtete, sprach er zu sich: „Meine Absicht ist gut; darum [12] will ich ausharren. Sie werden mir’s noch danken.“ Er betete nicht; aber seine Zuversicht war so gut wie Gebet. [Und er grub weiter und blieb nun Tag und Nacht bei seinem Brunnen. Aber er mußte doch auch zu essen und zu trinken haben. Die Leute jedoch wollten ihm nichts geben, wenn er sie bat; sie wollten ihm nicht einmal etwas verkaufen, sondern fluchten und drohten ihm. Da nährte er sich von Wurzeln und Beeren, die ihm das Feld und der nahe Wald gaben, und sprach zu sich: „Meine Absicht ist gut; darum will ich ausharren. Sie werden mir’s noch danken.“ Er betete nicht; aber seine Zuversicht war so gut wie ein Gebet.] Da er aber immer weiter grub, wurden seine Feinde sehr erbost; [sie drohten und fluchten ihm aus der Ferne,] sie warfen mit schweren Steinen nach ihm. Er erwehrte sich ihrer Angriffe, so gut er konnte, und dachte bei sich: „Meine Absicht ist gut; darum will ich ausharren. Sie werden mir’s noch danken.“ Er betete nicht; denn er wußte, daß die Götter darum keinen Spatenstich für ihn thun, keinen Stein von ihm abwehren würden; aber seine Zuversicht war so gut wie Gebet. Als er aber nicht aufhörte zu graben, überfielen ihn eines Tages in dunkler Frühe seine Feinde und schlugen ihn tot. Sein letzter Hauch war: „Sie werden mir’s noch danken.“ Er starb ohne Gebet und ohne den Namen eines Gottes auf den Lippen; aber seine Zuversicht war ihm Gebet, und in seiner Brust glühte die ewige Seligkeit eines edlen Herzens. [13] Als seine Feinde in die Grube hinabsahen – sieh, da hatte sich Wasser darin gesammelt. Sie holten davon herauf, und es war so schön, so silberklar und rein, daß es im erwachenden Morgenlicht wie Diamanten von ihren Fingern tropfte. Da begruben sie den Ermordeten, errichteten ihm an derselben Stelle einen Stein zum Gedächtnis und gelobten, niemals wieder jemand zu töten, der – (mit Bitterkeit) einen Brunnen grübe. (Wolfgang ist während der Erzählung in den Stuhl zurückgesunken und hat den letzten Teil mit wachsender Ergriffenheit gesprochen. Fritz hat sich an seine Brust gelehnt und beide blickten nachdenklich und wie träumend in’s Weite.)

Fritz (erhebt langsam das Gesicht gegen Wolfgang): Du – weißt du was?

Wolfgang: Nun?

Fritz: Du erzählst immer viel – viel schönere Geschichten als der Herr Kandidat. (Lebhaft.) Und du sprichst garnicht von der ewigen Verdammnis und vom Glauben. Wie viele schöne Geschichten hast du mir schon erzählt von Helden und Riesen und von Drachen, und nie sagst du, daß man daran glauben muß. Das braucht man doch nicht alles zu glauben, nicht du?

Wolfgang (lächelnd): Nein, du brauchst meine Geschichten nicht zu glauben! Aber schön sind sie doch, wie?

Fritz: Wunderschön! – Was du sagst, kann ich auch immer verstehen. Aber den Herrn Kandidaten kann ich mitunter garnicht verstehen. Und wenn ich dann sagen muß, was ich garnicht verstehe, dann – dann ist mir immer so schlecht zu Mute – – –

[14] Wolfgang (faßt den Knaben mit lebhafter Bewegung bei den Armen und sieht ihn groß an): Junge! – möchtest du so gesund bleiben dein Lebenlang! (Springt auf und geht erregt im Zimmer auf und ab.) Es wird mir zu eng hier, wir wollen im Garten arbeiten.

Fritz: Hurrah! Im Garten! (Rafft schnell seine Sachen zusammen.)

Wolfgang: Spring’ vorauf, ich komm gleich nach. (Fritz ab.)


4. Scene.

Wolfgang (noch immer auf- und abgehend): Herrlicher Kleiner. Sie belästigen dein Gewissen – und ich darf dich nicht einmal von deiner Last befreien, wenn ich nicht alles verderben will. (will abgehen.)

5. Scene.

(Indem Wolfgang abgehen will, begegnen sich hinten auf der Freitreppe Wöhlers, dessen Frau und Pastor Meiling, die von rechts kommen, und Elise und Magdalene, die von links kommen.)

Magdalene: Ah, Herr Pastor –

Wöhlers: Fräulein Rehkamp! Unverhoffte Freude! Herzlich willkommen! (Vorstellung.) Fräulein Rehkamp – Herr Pastor Meiling.

Wöhlers: Meinem Hause ist Heil widerfahren! Zwei so wackere Gottesstreiter zugleich unter meinem Dache! Gnädiges Fräulein, unser Herr Pastor hat Ihnen etwas sehr Interessantes zu erzählen! Ein großes Projekt, das er mir soeben mitteilt: wie man der zunehmenden Entsittlichung der Massen wehren kann. Volksversammlungen im großartigen Maßstabe, Volksunterhaltungsabende –

[15] Pastor Meiling: Und fügen Sie hinzu, Herr Wöhlers, daß Sie diesem „großen Projekt“, wie Sie es freundlichst zu nennen belieben, in großartigster Weise Unterstützung geliehen haben.

Wöhlers: O bitte, bitte –

Elise: Sie überraschen mich nicht, Herr Pastor. Der Frauenverein für innere Mission kennt die stets offene Hand des Herrn Wöhlers.

Wöhlers: O bitte, bitte – aber gehen wir hinein, nicht wahr? Gehen wir hinein!

Pastor Meiling (während sie hereintreten, zu Elise gewendet): Der Frauenverein für innere Mission – (Man wird Wolfgang’s gewahr, der bisher im Hintergrunde rechts gestanden hat.)

Pastor Meiling: Guten Tag, Herr Behring!

Wolfgang: Guten Tag, Herr Pastor. (Reichen sich die Hände.)

Wöhlers: Wolfgang –

Wolfgang: Papa – (Ebenso.)

Wöhlers: Sie geben uns doch die Ehre, Herr Pastor, zu Tische zu bleiben –

Pastor Meiling: Ja – (scherzend) vorausgesetzt, daß mein Seelenheil dabei nicht in Gefahr kommt. An Ihrem Tische kann ja ein christlicher Pastor zum heidnischen Consul werden.

Wöhlers: Hähä – wie meinen Sie das –

Pastor Meiling: Nun – äh – Lucullus –

Wöhlers: Ach so, ach so – hähähä – immer geistreich, Herr Pastor, immer geistreich.

[16] Pastor Meiling (zu Elise): Sie müssen mir erzählen, liebes Kind, wie das Werk Gottes in Ihrem lieben Vereine fortschreitet.

Elise: Mit Vergnügen, Herr Pastor. (Gehen im Gespräch nach hinten links. Wöhlers, dessen Frau, Magdalene und Wolfgang im Vordergrunde rechts.)

Wöhlers: Ich habe vier Plätze im Sommertheater bestellt. (zu seiner Frau) Es ist dir doch recht?

Christine: Was giebt es denn?

Wöhlers: Zum hundertsten Male: „Gräfin Fifi.“

Christine: Ah – schon zum hundertsten Male?

Wöhlers: Ja – Jubiläumsvorstellung.

Christine: Ja, da müssen wir ja hin; ich hab es freilich schon elf oder zwölf Mal gesehen; aber das kann man immer wieder sehen. Der Molary hat immer neue Couplets.

Magdalene: Wenn Ihr’s nicht übelnehmt, Papa und Mama, möcht ich lieber zu Hause bleiben.

Christine (erstaunt): Und warum denn –?

Magdalene: Ich finde das Stück so seicht und so – –

Christine: Nun, und –?

Magdalene: Lassen wir das. Ich weiß, daß auch Wolfgang nicht gern hingeht.

Wöhlers: Ja, du lieber Himmel, was wollt Ihr denn eigentlich sehen? Schiller und Goethe kann man doch nicht ewig sehen; das wird einem bald zuwider. Oder sollen wir uns etwa moderne Schmutzstücke vorspielen lassen, wie zum Exempel – „Der Trunkenbold“ von – nun, wie heißt noch der sogenannte „Dichter.“

[17] Wolfgang: Verzeihung, Papa, aber „Der Trunkenbold“ ist doch mindestens so anständig wie „Gräfin Fifi.“

Wöhlers: Aber widerlich ist es, und das ist „Gräfin Fifi“ nicht.

Wolfgang: Es kommt auf den Geschmack an. Mir ist das Laster weniger widerlich, wenn es sich in seiner nackten Brutalität äußert, als wenn es grinst und Couplets singt.

Wöhlers (gereizt): Na – du scheinst darin ja deine besonderen Ansichten zu haben. Das geht auch daraus hervor, daß du uns einen Roman wie Zola’s „Germinal“ empfehlen konntest! Höre mal!

Wolfgang: Nun, was denn?

Wöhlers: Ein solcher Schund!

Wolfgang (lächelnd, mit höchstem Erstaunen): Schund?

Christine: Aber Wolfgang, es ist ein empörendes Buch!

Wöhlers: Einfach scheußlich! Alles grau in grau! Keine Spur von Humor!

Wolfgang: Ja – muß es denn immer Humor sein?

Wöhlers: Und diese versteckte – fast möcht’ ich sagen – Glorifizierung des sozialistischen Pöbels!

Wolfgang: Findest du sie nicht bewunderns- und bemitleidenswert, diese Arbeiter in ihrem heroischen Verzweiflungskampfe?

Wöhlers: Bewundernswert? Ich danke! Diese gewissenlosen Subjekte, die ihre Familien durch ihren Starrsinn zu Grunde richten – die soll ich noch bewundern?

Wolfgang: Sollen sie sich denn lieber ein für allemal in die Hände der Arbeitgeber überliefern und durch diese ihre Familien zu Grunde richten lassen?

[18] Wöhlers: Nun jaaa – Wenn die Herren Arbeiter – selbst in meinem Hause – eine solche Rückenstärkung finden – dann ist es freilich nicht zu verwundern, daß sie immer unverschämter werden und den Streikunfug auf die Spitze treiben. Dann ist es nicht zu verwundern! Aber ich wollte den Herren schon streiken helfen! Den Stock sollte man gebrauchen, hauptsächlich gegen diese elenden Verführer der Arbeitermassen.

Wolfgang (macht eine unwillige Bewegung).

Wöhlers: Diese verbummelten Agitatoren, die von den Groschen der Dummen ein Faulenzerleben führen: die sind an allem schuld. – Freilich haben die Arbeitgeber auch vielfach selbst schuld, weil sie nicht energisch genug sind. Mir sind sie auch gekommen, meine Leute. Höhere Löhne wollten sie haben, weniger arbeiten wollten sie. Was? sagt’ ich: „Mit dem heutigen Tage kündige ich meinen sämtlichen Arbeitern.“ Da lagen sie draußen. Nach 8 Wochen legten sie Hände und Füße zusammen und nahmen die Arbeit wieder auf, aber zu herabgesetzten Löhnen. Ein zweites Mal werden sie sich hüten.

Wolfgang: Nennst Du das nun menschenfreundlich, Papa?

Wöhlers: (herumfahrend) Menschenfreundlich, – wie so! Willst Du meine Handlungen kritisieren?

Wolfgang: Deine ausführliche Darlegung schien ein Urteil herauszufordern.

Wöhlers: Danke verbindlichst. Aber du irrst dich. Ich brauche keinen Schulmeister mehr.

Wolfgang (wendet sich verletzt ab.)

[19] Magdalene: Aber Papa –

Pastor Meiling: (von der Freitreppe kommend, wohin er während des Gesprächs mit Elise hinausgetreten, und von Elise gefolgt) Denken Sie – werden Sie es glauben, meine Verehrtesten, (hält Wolfgang auf, der hinausgehen will) bleiben Sie noch einen Augenblick, Herr Behring, hören Sie auch mit, was mir soeben unsere Freundin mitteilt! Sechsunddreißig – sage sechs–und–dreißig ungetaufte Kinder giebt es bereits in Hermsdorf!

Christine: {  (gleichzeitig)  } Entsetzlich!
Wöhlers: Ist nicht möglich!
Elise: Ja, ja – so ist es – leider!

Pastor Meiling: Ja, meine Freunde, solche Zustände – ein solcher Greuel muß uns denn doch mit tiefer Traurigkeit erfüllen!

Wöhlers: (Mit einem Seitenblick auf Wolfgang) Ein trefflicher Beleg für die Folgen des Nihilismus, der nachgerade sogar in unseren Kreisen beliebäugelt wird. Sie hätten es hören sollen, Herr Pastor, wie ich mich noch eben gegen den Bräutigam meiner Tochter habe wehren müssen, daß mir nicht „Der Trunkenbold“, Zola’s „Germinal“ und ähnliche Machwerke als köstliche Blüten der Poesie aufgedrungen wurden.

Pastor Meiling: (die Hände zusammenschlagend) Aber, meine Freunde – es ist mir nun schon lange rätselhaft, wie man in christlichen Häusern immer von dieser Schmutz- und Schandlitteratur überhaupt nur reden kann! Thun wir doch diesen Pornographen – Sie verzeihen, meine Damen – nicht die Ehre an! Lassen wir sie mit Behagen im Kote wühlen. –

[20] Wolfgang: Haben Sie denn die Werke dieser Schriftsteller gelesen oder gehört, Herr Pastor?

Pastor Meiling: (indigniert, aber gekünstelt = sanft zurechtweisend) Dazu hat ein christlicher Seelsorger keine Gelegenheit. Ich würde solche Bücher in meinem Hause nicht dulden, und daß ich nicht in’s Theater gehe, werden Sie sich denken können. Hm. (Zu Wöhlers:) Wie sehr sind Sie im Rechte, lieber Herr Wöhlers, wenn Sie die Zunahme der unchristlichen und unkirchlichen Gesinnung dem vom Radikalismus vergifteten Zeitgeiste zuschreiben! Welche Mühe es kostet, gegen diesen Satan zu kämpfen, Sie glauben es nicht. Leider kann ich, wie ich fürchte, meinen Amtsbruder in Hermsdorf von der Schuld an jener traurigen Erscheinung nicht ganz freisprechen. Er ist ein frommer, strenggläubiger Diener Gottes – ja ja! – in dieser Hinsicht unantastbar – aber er ist zu weich, zu nachsichtig, und er hat seltsame Begriffe von Toleranz, Sie verstehen!

Wöhlers: Vollkommen!

Pastor Meiling: Mir überhaupt ein unausstehliches Wort: Toleranz! Was heißt Toleranz? Schlaffheit, Schwachherzigkeit, Gleichgültigkeit. Nein, ein Seelsorger hat auch die Pflicht, streng und energisch zu sein. Ich denke, es ist doch z. B. selbstverständlich, daß man gottlose, abtrünnige Gemeindemitglieder nicht noch fördert und unterstützt!

Christine: {  (gleichzeitig)  } Natürlich!
Elise: Selbstverständlich!
Wöhlers: Das wäre noch schöner!

[21] Pastor Meiling: Ja, glauben Sie doch nicht etwa, daß diese Leute nicht die Unverschämtheit hätten, bei der Kirche zu betteln!

Wöhlers: Nicht möglich!

Pastor Meiling: Es ist so. Erst gestern habe ich eine Mutter dieser Art abgefertigt. Ihr Mann habe keine Arbeit, ob sie nicht für ihren Knaben einen Anzug bekommen könne, ihr Mann wisse nicht darum, daß sie zu mir komme. Natürlich benutzte ich die Gelegenheit, die Frau auf das Verbrechen hinzuweisen, das sie an ihrem Kinde begehe. Dem Knaben fiel sozusagen das Zeug in Lumpen vom Leibe; aber glauben Sie, daß diese verstockten Herzen den strafenden Finger Gottes in solchem Mangel erblicken? Ihr Mann werde den Knaben auf keinen Fall taufen lassen, entgegnete mir dieses Wesen, das sei gegen seine „Gesinnung“.

Christine: {  (gleichzeitig)  } Unerhört!
Wöhlers: Frechheit!

Pastor Meiling: Gute Frau, sagte ich natürlich, dann lassen Sie sich dort Kleider geben, wo Ihr Mann solche „Gesinnungen“ empfangen hat. Wer von Gott nichts wissen will, von dem will Gott auch nichts wissen. Ich habe für Sie nichts.

Wöhlers: {  (gleichzeitig)  } Sehr gut!
Elise: Sehr richtig!
Christine: Sehr vernünftig!

Pastor Meiling: Ja, meine Freunde, sollen wir uns denn dieses heidnische Wesen über den Kopf wachsen lassen? Soll ich als von Gott bestellter Hirt [22] meiner Gemeinde zusehen, wie um mich her alles in Unglauben und Gottlosigkeit, in Sünde und Laster versinkt?

Wolfgang: Glauben Sie denn, Herr Pastor, daß Sünden und Laster die notwendigen Folgen sind?

Elise: {  (gleichzeitig)  } Wie?
Wöhlers: Wa –?

Pastor Meiling: (zögernd) Ich verstehe Sie nicht ganz –

Wolfgang: Ob Sie eine sittliche Gefahr für das Kind darin erblicken, wenn es nicht getauft ist? Ich würde das bestreiten müssen. Die ungetauften Kinder, die ich unterrichtet habe, waren merkwürdigerweise leiblich und seelisch ebenso gesund wie die getauften.

Pastor Meiling: (noch immer gelassen) Herr Behring – ich glaube – ich verstehe Sie noch nicht ganz. Wollen Sie etwa die riesenhafte sittliche Gefahr verkennen? Sie werden ja natürlich nicht leugnen wollen, daß Sittlichkeit und Glaube nicht zu trennen sind, daß der Mensch, der die Wohlthaten der Kirche verschmäht, der nichts vom Gebet, vom Gottesdienst, vom Genuß der Sakramente wissen will, kurz: der seinen Gott verloren hat, daß ein solcher Mensch einfach zur Bestie wird!

Wolfgang: Wenn Sie Ihren Gott meinen – (mit leichter, vornehmer Verbeugung, gutmütig) so präsentiere ich mich als Bestie.

Wöhlers: {  (gleichzeitig)  } Unausstehliches Betragen!
Pastor Meiling: (verlegend lächelnd) Sie verzeihen – ich meinte natürlich nicht –

[23] Wolfgang: Ihren Gott habe ich verloren, und ich bin jetzt eifrig dabei, einen neuen zu suchen.

Pastor Meiling: Daß wir uns nicht mißverstehen, meine Freunde! Wir wissen alle, denk’ ich, und finden es selbstverständlich, daß die Gebildeten – ich meine – daß Glauben für den Gebildeten etwas anderes bedeuten kann, als – nun, als für Leute, von denen wir vordem sprachen –

Wöhlers: Gewiß, natürlich!

Pastor Meiling: Und daß die Kirche natürlich Zugeständnisse –

Wöhlers: {  (gleichzeitig)  } Sehr richtig! Versteht sich!
Christine: Ja.

Pastor Meiling: – Zugeständnisse den Kreisen nicht versagen kann, die – nun, die eben durch ihre hervorragende gesellschaftliche Stellung –

Wöhlers: {  (gleichzeitig)  } Ganz richtig!
Christine: Das ist es eben!

Pastor Meiling: – besondere Rücksichten beanspruchen dürfen. Wem würde es z. B. einfallen, unserm verehrten Herrn Wöhlers (mit einer liebenswürdigen Bewegung gegen Wöhlers), weil ihm nun gerade ein häufiger Kirchenbesuch nicht möglich ist, – die Verhältnisse u. s. w. gestatten es eben nicht – wer wird deshalb, sage ich, seinen großherzigen, echt kirchlichen und christlichen Sinn verkennen!

Wöhlers: Sehr verbunden. Natürlich. Das ist es. Jeder kann ja glauben, was er will, – aber das muß man doch jederzeit wissen: daß man Christ ist!

[24] Pastor Meiling: (liebenswürdig, verlegen) Mmmm – na – „glauben, was er will“ ist nun wohl zu weit gegangen; aber sonst ganz richtig, ganz einverstanden, vortrefflich gesagt! Das Bewußtsein aber ist es eben, das dem Bildungslosen durchaus verloren geht, wenn man ihm die geringste Freiheit gestattet. Und wenn man es gar noch zuläßt, daß auch der Pöbel sich frech von der Kirche trennt, so heißt das eben nichts anders, als der allgemeinen Verwilderung und Verrohung die Wege ebnen.

Wolfgang: Sie suchen den Pöbel an einer völlig verkehrten Stelle, Herr Pastor! Der Pöbel bildet doch immer den Troß der machthabenden Majoritäten! Seine Gesinnung ist Faulheit und Feigheit. Mit einer winzigen Minderheit sich gegen die Kirche und den religiösen Pöbel erheben – ich wüßte nicht, wo hier ein Merkmal des Pöbelhaften wäre!

Pastor Meiling: Noch können Sie von einer Minderheit sprechen, mein Herr, aber wie schnell das Geschwür des Unglaubens um sich frißt, das haben Sie wohl noch nicht erfahren, junger Mann! Allerdings wollen wir feststehen im Vertrauen zu dem Allmächtigen, daß er uns Kraft geben werde, dem Greuel der Verwüstung zu widerstehen. Aber die Kirche kann es nicht allein. Ihre Freunde müssen ihr helfen! Männer wie Sie, Herr Wöhlers, alle Arbeitgeber und Brotherren, alle staats- und kirchenfreundlichen Männer, denen ein moralischer Einfluß auf ihre Untergebenen zusteht, alle müßten [25] sich zusammenthun und mit eiserner Energie den Grundsatz durchführen: Dem Gottlosen keine Arbeit!

Wolfgang: (auffahrend) Mann des Glaubens, muß ich Sie daran erinnern, daß Sie mit leichtem Herzen Gesetz und Recht durchbrechen wollen? Daß Sie Ihre Mitbürger aufreizen zur Umgehung eines Gesetzes das jedem Bürger unseres Staates Freiheit des Gewissens gewährleistet? Seltsam, daß ich Ihnen das Gewissen schärfen muß, Herr Seelenhirt! Toleranz, sagten Sie, sei Schwachherzigkeit? Nein, Herr Pastor, seien Sie doch nicht schwachherzig, treten Sie auf den Plan für Ihre Lehre – ich bin der Letzte, der Sie hindern will – aber seien Sie tolerant, d. h. kämpfen Sie mit anständigen Waffen des Geistes, nicht aber mit Gewalt und Chikane!

Wöhlers: Nein, das geht denn doch nicht an! (gegen Wolfgang) Ich muß dir bemerken, daß die beleidigende Art und Weise, in der du den Herrn Pastor –

Pastor Meiling: Nunununu – lassen wir das, Herr Wöhlers! Obwohl ich bekennen muß, daß ich den Ton Ihrer Erwiderungen, der mich etwas – nun sagen wir: an Volksversammlungen erinnert – nicht gewohnt bin, will ich Ihnen doch erwidern. Reden Sie sich wirklich ein, daß es im Sinne der Gesetzgeber lag, unser Volk zu entchristlichen? (mit stillem Triumph) Was glauben Sie wohl, giebt die Regierung Ihnen oder uns recht?

[26] Wolfgang: Was kümmert mich das? Ist das Gesetz nicht unzweideutig? Freilich ist dieses Gesetz den Gewalthabern abgezwungen. Ein Staat, der auf Gleichheit der Pflichten sich gründet, muß, er muß, sage ich Ihnen, für alle auch das gleiche Recht der Gewissensfreiheit anerkennen. Und ein Land, das noch heute seinen Kindern diese Freiheit beschränkt, sei es noch so groß und gewaltig, wird sich selbst den unfehlbaren Untergang bereiten! Natürlich gehört es auch zur Gewissenfreiheit, daß man auf die Taufe verzichten darf.

Pastor Meiling: (lauernd) Soso – auch auf die kirchliche Trauung?

Wolfgang: Natürlich!

Pastor Meiling: (mit kaum noch unterdrücktem Zorn) Also auch das finden Sie in Ordnung, daß man auf die kirchliche Einsegnung der Ehe verzichten darf? Nun – das ist ja nur konsequent, das muß man sagen. (Ausbrechend) Aber ich hätte doch nicht erwartet, daß ein gebildeter junger Mann dergleichen ohne Erröten sagen könnte. Wohlan denn, mein Herr, ich will Ihnen meine Meinung darüber sagen: Eine Ehe, der des Himmels Segen fehlt, ist nichts weiter als ein Concubinat – ja! – verzeihen Sie meine Damen – aber: ist nichts weiter als ein Concubinat!

Wolfgang: (erschrickt) Himmel –! Was fällt mir ein! – Sollte man – Wie seltsam, daß mir erst jetzt der Gedanke kommt! – Es hat hier doch niemand geglaubt, daß ich – Magdalene! Magdalene! [27] komm hierher, ich bitte Dich. (Sie bei den Händen fassend) Sage, hast Du erwartet, daß die Kirche unsere Verbindung segne?

Wöhlers: Ist er von Sinnen?

Christine: Was sagt er?

Elise: Ob sie erwartet –?

Wolfgang: (Da Magdalene vor Überraschung nicht gleich antwortet) Sag’ es mir schnell, Liebchen, damit ich genau erfahre, was du denkst – Hast du erwartet, daß wir uns kirchlich trauen lassen?

Magdalene: (zögernd) Ja – allerdings –

Wolfgang: (Eine ihrer Hände loslassend) So. – Wie seltsam, daß ich erst jetzt daran denke. – Bis zu diesem Augenblick ging ich wie schlafbefangen neben dir, immer nur träumend – immer nur träumend – nur glücklich. Ein – ein goldener Nebel umspann meine Gedanken. Und (wieder beide Hände fassend) und du erwartest von mir, – von mir, daß ich vor den Altar trete –

Magdalene: Nun, von dir – erwart’ ich es – wohl eigentlich nicht, das heißt – ich habe noch kaum darüber nachgedacht –

Wolfgang: (stürmisch) Und würdest du denn mir zu Liebe – – nein, nein! Um des Himmels willen nicht so – das hieße dir dein Wort stehlen – du sollst Zeit haben, mein Lieb, lange Zeit, dich zu besinnen, dich zu entscheiden. Ich – das sag’ ich euch allen – verzeiht, daß ich es erst jetzt sage – ich werde unter keinen Umständen meine Ehe vom Priester segnen lassen!

[28] (Allgemeine momentane Erstarrung. Der Pastor macht sodann eine kurze Bewegung, als ob er sich zum Gehen wende. Wöhlers hält ihn auf.)

Wöhlers (sehr gezwungen lachend): Hähä – verzeihen Sie, Herr Pastor, warten Sie bitte einen Augenblick, – es handelt sich – hähä – es handelt sich wohl um einen Scherz – (in einen entschiedenen Ton übergehend:) denn Ernst kann das ja unmöglich sein! Sie haben ghört, Herr Pastor, daß mein künftiger Schwiegersohn merkwürdige Ansichten hat, recht sehr merkwürdige Ansichten, (resigniert:) das läßt sich nun nicht mehr ändern; aber soweit kennt Herr Behring natürlich seine Pflichten gegen die Gesellschaft, gegen meine Familie und gegen sich selbst, daß er sich kirchlich trauen läßt; er wird das thun, einfach, weil man das muß! Man mag ja der Meinung sein, daß wenn man sich zur guten Gesellschaft rechnet, so läßt man sich selbstverständlich kirchlich trauen und seine Kinder taufen. Es kann sich also nur um einen Scherz handeln.

Christine: Das meine ich auch. Denn die Zumutung, lieber Wolfgang, daß wir uns für alle guten Familien dieser Stadt geradezu unmöglich machen sollten – nicht wahr – die wäre doch wohl gar zu stark.

Wolfgang: Ich weiß nicht – begreift ihr es nicht – oder wollt ihr es nicht begreifen? Seht ihr denn nicht ein, daß ich mich grenzenlos lächerlich und [29] erbärmlich zeigen würde, wenn ich, ein Gegner der Kirche und ihrer Wirksamkeit, nun plötzlich den Nacken beugte und ihren Segen erbettelte? mir durch Heuchelei ihren Segen erschliche und darnach wieder das Haupt erhöbe und sagte: Ich kenn’ euch nicht? Ich würde dem Priester recht geben, der mich mit Verachtung vom Altar wiese! – Magdalene, Magdalene! All’ das reine, selige Glück, das unsere Herzen mit den heiligsten Vorsätzen erfüllt – sie wollen, ich soll es durch eine Lüge beschmutzen, in dem Augenblick, da ich mich dir für immer verbinde, soll ich ein anderer sein, als sonst: ein Feiger, ein Elender – niemals, niemals! Begreift ihr es jetzt? Niemals!

Christine: Also du willst –

Wöhlers: Nein bitte laß mich! – Also niemals! – Sehr gut. – Sehr gut. – Das heißt: Du willst um jeden Preis deine wahnwitzigen Ideen durchsetzen, und die Rücksichten, die wir auf das religiöse Gefühl unserer Mitbürger zu nehmen haben, sind dir im höchsten Grade gleichgültig!

Wolfgang: O über dies zarte Gefühl unserer frommen Mitbürger – wo macht es sich nicht in der unzartesten Weise breit! Wehe dir, wenn sie beten und du betest nicht mit ihnen! Es genügt ihnen nicht, daß du ihre Gefühle achtest, daß du alles vermeidest, was ihre Andacht stören könnte – nein, du mußt die Hände falten und die Augen niederschlagen und ihrem Gott in’s Antlitz heucheln: sonst verletzst du ihr „Gefühl“! O, und wenn das [30] die unverschämteste ihrer Empfindlichkeiten wäre! Unsere Gefühle darf man ungestraft mit Füßen treten: von der Kanzel, vom Richterstuhl, von der Tribüne des Parlaments, vom Throne herab darf man uns Ehre und Pflichtgefühl, Menschlichkeit und Gewissen absprechen und uns in einem Atem nennen mit Verbrechern und Schurken!

Pastor Meiling: Und wohl uns, daß es so ist, wohl uns, daß die gerechte Verachtung der Menschen sie trifft und sie zu Boden wirft, die mit frechem Hohne den Allmächtigen leugnen; denn sie versinken wahrhaftig in den Pfuhl der Sünde und endigen in Grauen und Verzweiflung! Zufriedenheit aber und Glück, Zucht und Sitte, Bürgertugend und Vaterlandsliebe kennt man nur dort, wo man Christum kennt, den Erlöser!

Wolfgang: Bravo, bravo, Herr Pastor, recht so: schlagen Sie Ihr christliches Pfauenrad. Ihr religiöser Hochmut schillert in wundervollen Farben! Gewiß, all jene Herrlichkeiten haben Sie und Ihresgleichen gepachtet. Vor allem besitzen Sie aber eines: Die salbungsvolle Dreistigkeit, mit der Sie ehrenwerte Menschen beschimpfen. Woher nehmen Sie das Recht dazu? Ist es ein göttliches? (Einen heiteren Ton anschlagend.) Aber das ist es ja, was ich sage: Wir sind nicht Gatten unserer Weiber, nicht Väter unserer Kinder, nicht Söhne unseres Vaterlandes, nicht Freunde unserer Freunde, sondern Spießgesellen des Teufels! Schauen sie her, Herr Pastor (seinen Arm um Magdalene legend, die sich ihm genähert hat) [31] – an der Seite dieses Mädchens werde ich Ihren Pharisäerdünkel zu schaden machen!

Christine: Und du kannst auch nur einen Augenblick glauben, Wolfgang, daß Magdalene solche Ansichten – –? Unsere Tochter ist gottlob in den Anschauungen gebildeter Kreise erzogen!

Elise: Und für den Gebildeten, mein Herr, erlauben Sie, daß ich Ihnen das sage, ist die Religion noch kein überwundener Standpunkt.

Wolfgang (höchst galant): Das war eine sehr gebildete Bemerkung, mein Fräulein!

Elise: Daß du, Magdalene, nicht vergessen wirst, was du unserm Geschlechte schuldig bist, das – (langsam und nachdrücklich) darf man ja wohl hoffen. Was ein Mann ohne Religion ist, ist schon entsetzlich genug; was aber ein Weib ohne Glauben ist – das kann man überhaupt nicht sagen.

Magdalene: Von allen Seiten drängt ihr auf mich ein! O dieser unselige Streit – ich wußte, daß das einmal kommen mußte! Ich kann mich nicht so schnell entscheiden ..... vergebt mir .... du bist gütig, Wolfgang, du willst mir Zeit lassen .... (mit hervorbrechender Innigkeit) und das weißt du ja auch, daß meine Liebe dir gehört, für immer dir, nur dir!

Wöhlers (mit ausbrechender Roheit): Was? Was schwatzest du da? An diesen Menschen willst du dich hängen?

Magdalene: Papa!

Wolfgang (aufgebracht): Was sagst du?

[32] Wöhlers: Ich bitte sehr – nennen Sie mich nicht mehr „Du“, mein Herr! Ihr „Du“ war mir von jeher verhaßt! Ich danke für jede familiäre Beziehung zu Ihnen. Mit unserer Einwilligung heiraten Sie meine Tochter nie! Ich hab’s Ihnen schon einmal gesagt: ich brauche keinen Schulmeister – und am allerwenigsten brauche ich ihn zum Schwiegersohn!

Wolfgang: Hahahahaha! Halten Sie’s fest, Herr Wöhlers, halten Sie’s fest; da ist Ihnen ein Stück von Ihrem wahren Christentum entschlüpft! Herrlich, herrlich, das ist der Adel dieser leicht verletzten Seelen! Gewiß konnten Sie für Ihre Tochter keinen armen Teufel brauchen, der sich durch Stundengeben ernährt; Sie wollten sie ja verschachern an den borniertesten Geldprotzen dieser Stadt! O, ich wußt es seit langem. (Mit Beziehung.) Ein Pastor, der das mit sehenden Augen gebilligt hätte, war ja unschwer zu finden. Aber fromme, ehrbare Leute sind wir doch; das muß uns der Klatsch lassen! Wir beten nicht, wir betreten die Kirche nicht – es geschehe denn zur Parade – wir verhandeln unsere Söhne und Töchter, wir versumpfen überhaupt im gemeinsten Materialismus des Geschäfts und des Vergnügens und in unserm Innern ist längst jede Spur des Göttlichen erloschen – aber eines thun wir doch: wir schneiden eine andächtige Fratze, wenn wir das Abendmahl empfangen; eines wissen wir doch: daß wir Christen sind – hahahaha – natürlich: das „muß man ja wissen“!

[33] Wöhlers (in höchster Wut): Hinaus! – In diesem Augenblick! Sie verlassen mein Haus, oder ich lasse Sie hinaus bringen!

Magdalene: Papa, Papa! Vergißt du, was er an mir gethan hat?

Wöhlers: Er wollte sich hübsch dafür bezahlt machen!

(Allgemeines Erschrecken. Pause)

Wolfgang (macht einige Schritte gegen Wöhlers. Mit schneidender Kälte): Sie hatten recht, Herr – Herr Wöhlers, in Ihr Haus gehöre ich nicht mehr. (Wendet sich zum Gehen.)

Magdalene: Wolfgang! (Erhebt im Schmerze, wie Verzeihung erbittend, die Hände gegen ihn.)

Wolfgang (erfaßt sie bei den Händen. Sehr ernst): Vor allem – komm zur Ruhe, Kind. Ich will deinem Glauben keine Gewalt anthun – das wäre der Anfang unseres Unglücks. Geh mit dir zu rate, ob du mir ohne kirchlichen Segen folgen kannst (leidenschaftlich:) und wenn du kannst(seine aufwallende Neigung niederkämpfend; ruhig und milde) – dann komm!

Pastor Meiling: Sie wird nicht kommen; denn sie wird gedenken des Wortes der Schrift; „Des Vaters Segen bauet den Kindern Häuser; aber der Mutter Fluch reißet sie nieder!“

Wolfgang: „Vater und Mutter sollst du verlassen und deinem Gatten anhangen!“ – Entscheiden Sie, Herr Schriftgelehrter, was hat Gott geschrieben? – (Ab.)

(Der Vorhang fällt.)


[34]
2. Akt.

(Wohnzimmer bei Behrings. Sehr einfache Ausstattung. Der ganze Raum macht aber den Eindruck großer Behaglichkeit. Rechts vorn Wolfgang an seinem Arbeitstisch. Links vorn eine Wiege (Kinderwagen). Magdalene sitzt neben dem Wagen, mit einer Näharbeit beschäftigt. In der Nähe des Wagens der Ofen, in dem ein Feuer brennt. Thüren hinten in der Mitte und links.)

1. Scene.

Magdalene: Du, Wolfgang!

Wolfgang: Nun?

Magdalene: Findest du es nicht seltsam, daß du über deinen Roman noch immer keinen Bescheid hast?

Wolfgang: Nur Geduld, wird schon kommen. Sie müssen doch erst sorgsam prüfen – und die Redaktionen sind oft überlastet.

Magdalene: Glaubst du denn, daß sie ihn abdrucken?

Wolfgang: Ja, ich glaub’ es bestimmt. Du weißt, daß ich meine beste Kraft an das Ding gesetzt habe, und du weißt auch, daß ich gegen mich selbst ein unsanfter Kritiker bin.

Magdalene: Du guter, herrlicher Mann – der nur den einen Fehler hat –

Wolfgang: Und welchen?

Magdalene: Den, daß du dir zu leicht Hoffnungen machst.

Wolfgang: Ja – wohin kämen wir Menschen ohne Hoffnung? Sie ist das tägliche Brot der Seele.

Magdalene: Und es thut mir dann so weh, wenn dir eine Hoffnung fehlschlägt, die du so lange, so freudig gehegt hast. Wenn ich dann sehe, wie du [35] deine bitteren Gefühle niederzwingst – dann – dann verehre ich dich, ja Wolfgang, dann verehre ich dich in deiner unerschütterlichen Größe!

Wolfgang (zu ihr eilend und sie küssend): Jetzt ist es aber höchste Zeit, daß man dir den Mund verschließt; du lobst mich sonst wieder so sehr, daß ich den ganzen Morgen nicht arbeiten kann vor Hochmut.


2. Scene.
Roloffs (Zeitungsträger). Die Vorigen.

Roloffs (Trinker, sehr dürftig gekleidet, vor Frost zitternd. Berliner Dialekt): Moign. Zeitung! (will wieder gehen.)

Wolfgang: Kalt heute, was?

Roloffs: Furchtbar kalt! Die Zähne klappern eenen in Munde. Der Reohmir beim Jastwirt Möller zeigt 17 Jrad – im Schatten, heeßt det; in der Sonne meegen’t wol noch mehr sind – ’t kennte wirklich mal wärmer wer’n; aber der liebe Jott muß et wohl besser wissen.

Wolfgang: Sie sind ja aber auch viel zu dünn angezogen –

Roloffs (verlegen an sich herunterblickend): Ja – ja. –

Wolfgang: Haben Sie denn keinen Überzieher?

Roloffs: Ach du lieber Jott, Iberzieher? Wie soll ick zu’n Iberzieher kommen!

Wolfgang (nach kurzem Besinnen): Sprechen Sie doch heut’ Nachmittag mal wieder vor. Ich habe noch einen ziemlich guten Winterrock, der Sie wenigstens einigermaßen vor der Kälte schützt. Den können Sie sich abholen.

[36] Roloffs: Ach, Her Behring – Sie sind immer zu jitig – (will ihm die Hand küssen.)

Wolfgang (zieht energisch seine Hand zurück): Nichts da! Männer küssen einander doch nicht die Hände!

Roloffs: Ach, Herr Behring, ick bin immer demitig. Un ick denke mir immer, wenn der Mensch bloß demitig is, denn kriegt der Teufel keene Jewalt über’n; denn del is et jrade, wat der Teufel am wenigsten verdragen kann.

Wolfgang: Na – der „Teufel“ hat Sie wohl gestern wieder stark in den Fingern gehabt, wie?

Roloffs (trostlos den Kopf schüttelnd): Ach Jott ja, Herr Behring, ja ja – wir sind allzumal Sinder. Un warum dhu ick det nu immer wieder! Ick kann nu eenmal keene Spirituosen nich vertragen. Keene zwee Jlas Bier nich! Un nachher – denn berei’ ick et immer so bitter, so bitter, – ja, Frau Behring. Sie jlooben et ja nich; ick bin so zu sagen fermlich zerknirscht. Un daderum denk ick ooch immer dat mir der liebe Jott nich janz verläßt; wenn der Mensch bloß immer demitig bleibt, is nich wahr, Frau Behring? Der Hochmut is die jreeßte Sinde.

Wolfgang (freundlich-derb): Ach was, Demut hin, Demut her! Wie lange sind Sie nun schon demütig, Roloffs? Sei’n Sie lieber mal trotzig!

Roloffs (erschrocken): Wie?

Wolfgang: Ja, treten Sie mal dem „Teufel,“ wie Sie’s nennen, recht trotzig und hochmütig gegenüber! Sagen Sie ihm: Ich will nicht mehr trinken; [37] ich will kein „Sünder“ mehr sein; ein anständiger, nobler Kerl will ich sein, zum Donnerwetter! (Da Roloffs erschrickt:) Ja ja! Dürfen Sie gern sagen: „zum Donnerwetter.“ Und dabei müssen Sie dann Ihrem Freund dem Teufel so recht keck in die Augen sehn!

Roloffs: Ja – wenn Sie meenen, Herr Behring, dat det hilft –

Wolfgang: Das giebt mehr Kraft als Ihre „Demut.“ Sollen Sie sehen. Vor allem aber – (giebt ihm ein Geldstück) nehmen Sie etwas Wärmendes zu sich.

Roloffs: Danke, danke, Herr Behring, vielen Dank, Frau Behring!

Wolfgang (Roloffs zurückrufend): Pst! (den Finger erhebend) Aber – Kaffee!

Roloffs (mit dem Ausdruck höchster Beteuerung): Natürlich – Kaffee! – (Ab.)


3. Scene.
(Wolfgang und Magdalene.)

Wolfgang: Natürlich – trinkt er Schnaps!

Magdalene: Meinst du?

Wolfgang: Höchst wahrscheinlich!

Magdalene: Aber warum giebst du ihm dann Geld?

Wolfgang: Ihn friert ja.

Wolfgang (nimmt die Zeitung und liest. Während des Lesens) Prachtvoll! – Großartig! Hahahaha! – So! – hm – jawohl – (Das Blatt mit Entrüstung von sich werfend): Gemeinheit sondergleichen!

Magdalene: Was ist denn – ?

[38] Wolfgang: Der Bericht über meinen Vortrag in der „Tonhalle!“ Dieses zusammenhanglose, verworrene Geschwätz soll mein Vortrag sein! Das soll ich gesprochen haben! Diesen Blödsinn! (die Hände zusammenschlagend) Und wie gläubig werden die Leute das nun lesen, was ein Ignorant von einem Reporter ihnen zusammengeschmiert hat! Das Erbaulichste aber ist der Schlußpassus: (die Zeitung hernehmend) Höre nur: „Herr Behring scheint uns zu den Leuten zu gehören, die sich um jeden Preis einen Namen machen wollen und denen dazu jedes Mittel recht ist. Bei uns wird Herr Behring diesen seinen Zweck allerdings nicht erreichen. Über den Wert der Religion für die Sittlichkeit zu urteilen, ist uns der genannte Herr nicht kompetent genug“ – hörst du? nicht „kompetent genug!“ – (fortfahrend im Lesen) „wir sprechen Herrn Behring z.B. das Recht ab, über die sittliche Bedeutung der Ehe zu urteilen.“ Fühlst du’s, fühlst du’s, Magda? „Wie wir hören, ist der Herr Vortragende sogar als Lehrer thätig.“ „Wie wir hören“ – natürlich weiß die Canaille das sehr genau. – „Nun, wenn dem so ist, so kennen wir für den Beruf dieses Mannes, der mit seinem Glauben so völlig Schiffbruch gelitten hat, nur das eine Wort: „Verfehlt!“ Ich bitte dich, laß dir den stilistischen Leckerbissen nicht entgehen: er kennt für meinen Beruf nur das eine Wort: verfehlt! „Unreif“, nennt dieser Cavalier meine Gedanken! Du mußt nämlich wissen: Was diese [39] grauen Zugtiere der Loyalität verdauen, das ist reif; was ihnen Indigestionen macht, ist unreif! Als ob die Distel darum reif wäre, weil die Esel sie fressen!

Magdalene: Soll ich dir’s gestehen? Ich habe gleich wegen dieses Vortrags große Besorgnis gehegt. Du hast selbst gesagt, daß das Gesetz deine Ansichten duldet, daß die Menschen sie aber nicht dulden.

Wolfgang: Nun? Und diesen schimpflichen, diesen unerträglichen Zustand soll ich etwa verlängern helfen? Ich verstehe nicht, wie du das erwarten kannst, Magdalene.

Magdalene (hat indessen die Vorhänge des Kinderbettchens zurückgeschlagen und winkt nun Wolfgang heran. Leise): St – Wolfgang!

Wolfgang: Nun?

Magdalene: Er wacht.

Wolfgang: So? (eilt zum Wagen) Morgen, mein Prinz! Gut geschlafen? – Sieh, wie er lacht!

Magdalene: Es ist ein freundliches Kind. Er lacht mich immer an, wenn er erwacht.

Wolfgang: Ja – Wie sollt’ er wohl nicht lachen, wenn er über sich ein so süßes, liebes, schönes, entzückendes Gesicht – ach du – (er küßt sie mit leidenschaftlicher Heftigkeit.)

Magdalene: Wolfgang! Du machst ja dem Jungen bange! Sieh, wie er uns erschrocken ansieht!

Wolfgang: Ei, was sollt’ er wohl bange werden! – Wirst du bange?

[40] Magdalene (lachend): Ja, das soll ihn wohl beruhigen, wenn du ihn so anfährst. (ihn komisch nachahmend:) „Wirst du bange?“ Sieh nur, er wird gleich zu weinen anfangen! (Das Kind beruhigend:) So so sooo, mein Blondchen, soooo! – Siehst du, nun lacht er wieder. – Wo ist Papa? Sieh, sieh, er kennt dich schon; er sieht dich an!

Wolfgang: Wie alt ist er denn jetzt?

Magdalene: 14 Wochen und 2 Tage.

Wolfgang: Nun, dann hat er ja auch das „dumme Vierteljahr“ hinter sich.

Magdalene: Du, so dumm ist er eigentlich nie gewesen.

Wolfgang (scherzend): Nein! Unser Junge hat natürlich gleich mit einem klugen Vierteljahr angefangen!

Magdalene: Ach du – Spötter! Du hast ja gar kein Gefühl für dein Kind! Rabenvater!

Wolfgang: Nein, nicht die Spur von Gefühl! Wie sollt ich auch! (mit dem Kinde schäkernd:) Ja, ja? Bist du da? Uiii, wie er sich streckt! Hä, Prachtkerl du! So ein Kinderhändchen ist doch das Lieblichste, Zierlichste, was man sich denken kann! Man möcht’ es aufknappern, wie Konfekt! Na na? Was will denn das Händchen? Da da – – Junge! – Er faßt meinen Bart – Willst du loslassen! – Der Tausend nochmal! – Wie hält der Bengel fest! – Es ist doch ein überaus kräftiges Kind!

Magdalene: Natürlich, wie sollte wohl der Sohn des Herrn Wolfgang Behring nicht kräftig sein! So, da hast du’s wieder!

[41] Wolfgang: Höre, du mußt immer boshaft sein! Dann bist du ein über alle Maßen liebliches Geschöpf. (Sie umarmend und küssend.)

Magdalene (sich innig an ihn schmiegend): Ja? Liebst du mich so?

Wolfgang: Ich liebe dich, wie du auch bist!

(Pause, während welcher beide in den Anblick ihres Kindes versunken sind.)

Magdalene: Findest du nicht, daß er dir alle Tage ähnlicher wird?

Wolfgang: Im Gegenteil; ich finde, er sieht dir ähnlich.

Magdalene: Ach nein – laß ihn dir ähnlich werden! Ich möchte so gern, daß er dir ähnlich würde, so schön von Gestalt und Gesicht, wie du! (Sich noch fester an ihn schmiegend, heimlich): Als unser Kind noch nicht geboren war – als es aber geboren werden sollte! – hab’ ich oft des Nachts, wenn du schliefst, dich lange betrachtet – deine breite Brust – deinen schönen Kopf – damit unser Kind so herrlich werden möchte, wie du. Einmal – weißt du –?

Wolfgang (leise): Einmal fühlt’ ich im Schlaf deine Lippen so heiß auf meiner Stirn, daß ich erwachte –

Magdalene: Ja – (plötzlich in Schelmerei übergehend) und da wurdest du bös und schaltst mich –

Wolfgang (heiß): Da umschlang ich dich und preßte dich so wild an mich, daß –

Magdalene (mit erinnerndem Entzücken): Daß du mich fast – ersticktest. (Pause.)

Wolfgang: Ach, Magdalene, wer ist glücklicher als wir! –

[42] Magdalene (plötzlich ernster): Ach ja, wir sind glücklich, nicht wahr? – Und du liebst mich wirklich über alles, nicht wahr?

Wolfgang: Liebchen! Was soll diese überflüssigste aller Fragen!

Magdalene: Ich will wissen, ob du mir böse sein wirst.

Wolfgang (erstaunt): Dir böse sein –?

Magdalene: Ja – wenn ich dir etwas gestehe.

Wolfgang: Und was hast du mir zu gestehen?

Magdalene: Nein, erst sollst du mir versprechen, daß du nicht zürnen willst.

Wolfgang: Nun gut, ich versprech’ es Dir.

Magdalene: Vor vierzehn Tagen war Pastor Meiling hier.

Wolfgang (zurückfahrend): Pastor Meiling? – Wußte er, daß ich nicht zu Hause sei?

Magdalene: Daß weiß ich nicht.

Wolfgang: Hm. – Warum hast du mir das denn verheimlicht?

Magdalene: Siehst du, nun wirst du doch böse –!

Wolfgang (zerstreut): Nein, nein – er wollte dich natürlich überreden, den Kleinen taufen zu lassen.

Magdalene: Ja – und daß wir uns trauen ließen.

Wolfgang: So, daß wir uns trauen ließen. – Aber ich sehe gar keinen Grund, mir das zu verheimlichen.

Magdalene: Ich fürchtete, daß es dich in Zorn bringen würde.

Wolfgang: Mich in Zorn bringen? Warum soll der Mann nicht versuchen, der Kirche Anhänger zu gewinnen? Es würde mir schlecht anstehen, wenn ich ihm das Recht dazu streitig machen wollte!

[43] Magdalene: Wenn wir nichts von Trauung und Taufe wissen wollen, ob wir dann nicht wenigstens diese Stadt verlassen wollten – meiner Eltern wegen.

Wolfgang: Wieso deiner Eltern wegen?

Magdalene: Papa erwartet eine hohe Auszeichnung von der Regierung – und – da –

Wolfgang: Und da soll das Ärgerniß möglichst verdeckt werden.

Magdalene: Seine Hoheit der Herzog halte sehr streng auf kirchlichen Sinn –

Wolfgang: Ja ja, ich verstehe! Also so weit verstieg man sich? Das glaube ich; das könnte den Herren passen, wenn man überall vor ihnen wiche, wie der Paria vor dem Brahminen! Nein, meine Herren, gerade das will ich Ihnen zeigen, daß Sie noch nicht so ganz allmächtig sind! Hier, gerade hier will ich Ihrer Allmacht in’s Gesicht trotzen. Sie sollen sich daran gewöhnen, unsereins zu vertragen. – Wenn ich tot bin, dann mögen sie mich beiseite drängen, an die Kirchhofsmauer; so lange ich lebe, halt’ ich stand, wo ich stehe! – Was antwortetest du? Du wiesest ihn natürlich ab!

Magdalene (zögernd): Nein –

Wolfgang: Nein?

Magdalene: Ich sagt’ ihm, er möchte wiederkommen, wenn du hier wärest.

Wolfgang: Das begreif’ ich nicht. Du bist dir doch völlig klar über alles, nicht wahr? Wir haben doch so oft darüber gesprochen und du warst doch ebenso fest entschlossen wie ich, daß wir solche Zumutungen abweisen wollten!

[44] Magdalene: Ich war plötzlich so unentschlossen, – ich weiß nicht – vergieb mir, Wolf! Du weißt ja, daß ich gerade so denke wie du; aber – er redete so lange auf mich ein, daß ich – daß ich ganz verwirrt wurde.

Wolfgang: So. Und er redete wohl sehr eindringlich –?

Magdalene: Ja.

Wolfgang: Sagte er auch, daß das Kind nicht gedeihen werde, oder daß es nicht selig werde ohne Taufe? Oder dergleichen?

Magdalene: Er deutete es an.

Wolfgang: So. – (geht schweigend auf und ab. Wendet sich dann plötzlich gegen Magdalene) Wünschest du, daß wir von hier fortziehen?

Magdalene: (mit Hast, ängstlich) Nein, nein! Gewiß nicht! Nicht noch weiter von den Eltern fort! Dann käm’ es nie zur Verzeihung.

Wolfgang: Verzeihung? Wofür?

Magdalene: Daß ich sie heimlich verließ.

Wolfgang: Ja ja – nicht wahr, du wünschest jetzt, daß du nicht geflohen wärst, daß du offen und mutig vor sie hingetreten wärst und ihnen gesagt hättest: Ich verlaß euch und folge meinem Manne!?

Magdalene (weinend) Ach, ich hatte ja nicht den Mut dazu.

Wolfgang (mit zärtlichster Schonung): Sieh, ich will dir keine Vorwürfe machen; aber die eine Lehre – das möcht’ ich, daß du dir die eine Lehre daraus entnähmst: Was man für recht hält, soll man mutig bekennen und thun. Wenn man es furchtsam und verstohlen thut, ist es oft nicht mehr das [45] Rechte. – So – ich bitte dich – weine nicht mehr – ich bitte dich, liebes, gutes, herziges Lieb, weine nicht mehr; sie werden dir noch einmal verzeihen. Ja ja, ich weiß es, du bist nachher zu ihnen gegangen, als ich dich darum bat, und sie haben dich abgewiesen – aber das war im ersten Zorn, und sie werden ihren Sinn ändern.

Magdalene: Glaubst du das? Glaubst du, sie würden uns beistehen, wenn wir in Not kämen –

Wolfgang (nach einer kurzen Pause mit Betonung): Wenn wir in Not geraten, Magdalene, dürfen wir nicht deine Eltern in Anspruch nehmen. Würde man nicht sagen, unser Mut und unsere Gesinnung dauerten nur so lange wie unsere Küchenvorräte? Nein, liebes Weibchen, aus aller Not wollen wir uns selbst zu helfen suchen. Du – nicht wahr? – Du wirst mir immer tapfer beistehen, mein guter Kamerad, he?

Magdalene: Gewiß, gewiß, Wolfgang! (Sie küssen sich. Wolfgang wendet sich wieder dem Arbeitstisch zu, Magdalene will mit dem Wagen nach links abgehen, dreht sich aber plötzlich mit einem leichten Aufschrei, als ob ihr etwas einfiele, wieder nach Wolfgang um.)

Magdalene: Ach! – im Augenblick vergess’ ich’s ganz! Ich habe kein Hausstandsgeld mehr, Wolf!

Wolfgang (heftig erschrocken und fast ängstlich): Kein Hausstands – Ist das vom Montag schon verbraucht – ? Ja natürlich – entschuldige –

Magdalene (gekränkt): Aber du weißt doch, daß ich mehrere große Rechnungen davon –

[46] Wolfgang: Ja ja – gewiß – ich sagt’ es nur so – entschuldige! – Es hat dich gewiß verletzt, nicht wahr?

Magdalene (wieder heiter, aufrichtig): Nein, du Lieber, du Guter!

Wolfgang (seine Börse ziehend): Sieh’, ich habe noch – da – das ist alles, was ich noch habe. Kannst du dir vorläufig damit helfen? – Ich meine – nur vorläufig!

Magdalene: Bis morgen Mittag komm’ ich wohl damit aus. Wir müssen uns eben noch mehr einschränken.

Wolfgang: Du weißt ja, daß ich mit allem zufrieden bin. Ich muß ja dieser Tage etwas bekommen – – ich weiß nur noch nicht – – sobald ich Nachricht über meinen Roman habe, laß’ ich mir einen größeren Vorschuß darauf geben – – wenn er angenommen wird. – – Aber du und das Kind, ihr sollt euch nicht einschränken, hörst du? ihr dürft –

Magdalene: Dafür laß du mich nur sorgen, Liebster. (Will abgehen, steht dann aber wieder still, wendet sich gegen Wolfgang, der sich an seine Arbeit begeben hat, und betrachtet ihn längere Zeit. Sie ringt ersichtlich nach einem Entschlusse. Aus gedrückter Stimmung) Wolfgang!

Wolfgang: Nun, bist du noch da?

Magdalene: (zu ihm eilend und bei seinem Stuhl niederknieend) Ach, Wolfgang, es wird mir so furchtbar schwer, es dir zu sagen!

Wolfgang: Mir zu sagen – was denn?

Magdalene: Sobald du irgend kannst – willst du dann nicht, bitte, dem Schneider – er war gestern hier –

[47] Wolfgang: Stein?

Magdalene: Ja.

Wolfgang: Aber er hat mir doch gesagt, ich könne bezahlen, wenn es mir passe, und wenn es auch bis Ostern währte. –

Magdalene: Er braucht aber jetzt dringend etwas – er wollte heute wiederkommen.

Wolfgang: So. – Ja – ich muß sehen, daß ich Rat schaffe – (den Kopf auf die linke Hand stützend.)

Magdalene (schaudernd): Wolfgang, du glaubst nicht, wie entsetzlich mir dergleichen ist –!

Wolfgang (dumpf): Ich glaub’ es dir wohl. (Es klopft) Es klopft! (Magdalene erhebt sich rasch und geht nach links) Herein!


4. Scene.

(Die Vorigen. Stein, Schneidermeister. Spricht das in Hamburg und im südlichen Holstein häufige, dem Platt sich nähernde saloppe Hochdeutsch. Kleiner, schwächlicher, schüchterner Mann mit sehr hohen Schultern, spärlichem Haar und wenig gepflegtem Vollbart.)

Stein: Morg’n, Herr Behring – Morg’n, Frau Behring!

Magdalene: {  (gleichzeitig)  } Guten Morgen. (nach links mit dem Kinderwagen ab.)
Wolfgang: Guten Morgen, Herr Stein. Bitte, nehmen Sie Platz!

Stein: Danke, danke, Herr Behring. (Setzt sich. Indem er die Hände aneinanderreibt:) Ha – hier is es gemütlich! Is das ’n Kälte draußen!

Wolfgang: Ja, es ist wohl sehr kalt, wie?

[48] Stein: Fürchterlich. So’n ßtrengen Winter haben wir ja woll nich gehabt seit – na, laß mal sehn: achßig, neununsiebßig, achunsiebßig, sieben – ja siebenunsiebßig war es ja woll, wie wir den ßtreng’n Winter hatten. Da weiß ich noch, da konnten wir Weihnach’n die Fenster nich klar kriegen, wenn wir auch noch so doll einheizten. Aber ’n Tag nach Weihnach’n, da sitz ich abens noch mit meiner Frau allein in der Sztube – die Kinder waren schon zu Bett – da sag ich mit einmal zu meiner Frau: Was is das? Die Fenster werden ja ganz dunkel! Un richtig, da gab es Tauwetter, un da hat’s denn auch getaut, was das Zeug halten wollte.

Wolfgang: So – ja ich war damals noch’n Junge; aber ich entsinne mich auch, daß es ein böser Winter war.

Stein: Ja, das war’n Winter! – (Verlegenheitspause.) Na, ihre Familie is ja woll ganz munter, Herr Behring, nich?

Wolfgang: Ja danke! Wir befinden uns alle ganz wohl. Ist auch bei Ihnen alles gut zu wege?

Stein: Nnna – es geht. Meine Frau is noch immer sehr schwach.

Wolfgang: So so. (schüttelt bedauernd den Kopf. Pause.) Sie kommen, Herr Stein, wegen –

Stein (schnell): Ja – hat Ihnen Ihre Frau Gemahlin vielleicht –

Wolfgang: Ja, sie hat mir davon gesagt.

Stein: Sie müssen mir es aber ja nich übelnehmen, Herr Behring! Bitte, nehm’ Sie mir es nich übel! Ich weiß ja, daß ich noch ganix verlangen kann [49] – ich hab’ ja selbs gesagt, daß es Zeit hätte; aber man weiß ja eben nie in voraus, was für’n Malheur einen treffen kann, nich?

Wolfgang (äußerst verlegen): Mein lieber Herr Stein – es thut mir außerordentlich leid – aber ich kann Ihnen augenblicklich – so gern ich es möchte! ich kann Ihnen nichts geben!

Stein: Oh – (sehr bescheiden, halb für sich) wenn es auch man bloß ’n Teil wäre. Seh’n Sie, Herr Behring, es würde mir ja ganich einfallen, ’n Mann wie Sie zu belästigen – Sie wolln mich da ja nich um betrügen, das weiß ich ja; aber – wenn ich nich so viel Unglück gehabt hätte – immer die kranke Frau – und denn sind mir verschiedene ausgekniffen, die nich bezahlt haben – un das Zeug muß ich natürlich immer bezahln – un nu kommt der harte Winter dazu – was braucht man nich allein für Kohlen!

Wolfgang: Ach, das versteh’ ich alles, Herr Stein, und es thut mir ganz unendlich leid, aber – wie gesagt: ich kann nicht. Hätt’ ich Ihnen zu heute etwas versprochen, so hätten Sie heute Ihr Geld, das wissen Sie –

Stein: Ja, ach ja, das kenn’ ich ja an Ihnen, Herr Behring; Sie sind der einzige von meinen Kunden, auf den ich mich in der Beziehung verlassen kann.

Wolfgang: Ende des Monats, Herr Stein, wenn ich das Honorar für meine Privatstunden einziehe, dann will ich Ihnen die Hälfte geben. Es ist möglich, sehr möglich, daß ich schon früher etwas bekomme; aber das kann ich nicht versprechen.

[50] Stein (den Kopf kratzend): Nnna – denn müssen wir ja mal seh’n, ob wir nich anderswo – schwer wird’s wohl halten – die kleinen Leute haben jetz alle nix, – na – (rasch) Sie nehmen’s mir aber doch nich für ungut, nich, Herr Behring? Ich möchte Sie doch nich gern als Kunden verlier’n –

Wolfgang: Ich bitte Sie, wie sollt’ ich Ihnen übelnehmen, was –

Stein: Na, denn is gut. (Schütteln sich die Hände.) Also Ende Monat, is nich so?

Wolfgang: Jawohl, Ende dieses Monats.

Stein: Na, adieu, Herr Behring! Empfehlen mich – Frau Gemahlin bitte! Adieu, adieu!

Wolfgang: Adieu, Herr Stein.

Stein: (will gehen; in der Thür begegnet ihm Dr. Edwin Scharff.)


5. Scene.
Dr. Scharff. Die Vorigen. (Stein bald darauf ab.)

Scharff: Ah – Herr Stein! Wie geht’s? Was macht die Kunst?

Stein: Die Kunst geht nach Brot, Herr Doktor!

Scharff: Sieh, sieh! – Tag, Behring. (Diesem die Hand reichend.)

Wolfgang: Tag, Scharff.

Scharff: Was sagst du dazu, unser Stein wird klassisch.

Stein (mit fast kindlicher Freude): Jäjäjä – Sie glauben wohl, daß Sie allein Ihren Lessing kennen! Unser Art Leute hat ja nich so viel Zeit, ihn zu lesen, wie Sie – aber so viel Lust haben wir auch! Na – entschuldigen Sie, meine Herr’n, ich muß weiter. Empfehle mich Ihnen.

[51]

Scharff: }  Adieu, Herr Stein. (Stein ab.)
Wolfgang:

Scharff: Ich komme, um verschiedenes in deiner Bibliothek nachzuschlagen, vor allem aber, um dir zu gratulieren – zu deinem Vortrag nämlich. Eine glänzende Leistung – wie man’s von dir gewohnt ist – im übrigen wieder eine von deinen hochherzigen Dummheiten.

Wolfgang: Danke. Warst du da?

Scharff: Frage! Ob ich da war! Wenn du redest!

Wolfgang: Warum hast du denn nicht auf mich gewartet und mir guten Abend gesagt?

Scharff: Ich sah auf deiner Stirn den Glanz, der Moses umleuchtete, da er herabstieg vom Sinai – und wollte deine Stimmung nicht durch meine vernichtende Kritik verscheuchen. Übrigens will ich aufrichtig sein: als du ausgeredet hattest, kam es mir vor, als wenn ich meine vernichtenden Argumente zu Hause hätte liegen lassen.

Wolfgang: Nun, so vernichte mich jetzt. Du findest mich gefaßt. Aber komm gleich mit deinem schrecklichsten Rüstzeug heraus; (nach der Uhr sehend) ich soll gleich eine Stunde geben und habe nicht viel Zeit.

Scharff: Ich habe desto mehr Zeit. Meine Patienten sind schon wieder mal alle gesund.

Wolfgang: So?

Scharff: Ja, die Leute fühlen sich unter meinem Schutz so sicher, daß sie vor lauter Gemütsruhe nicht krank werden. Seit Wochen verbreit’ ich nun schon den penetrantesten Karbolgeruch um mich – aber es kommt keiner. Du erlaubst, daß ich eine Zigarre anzünde.

[52] Wolfgang: Herzlich gern – ich würde dir sogar eine anbieten, wenn ich noch eine hätte.

Scharff: Dann nimm bitte eine von meinen – ein aristokratisches Kraut, sage ich dir.

Wolfgang (mit gutmütigem Spott): Das stimmt zu deinen Prinzipien. (Nimmt eine Zigarre. Sie rauchen.)

Scharff: Ja, Liebster, Bester, alles, was du da nun vorgestern geredet hast – Caviar für das Volk!

Wolfgang: Das wäre!

Scharff: Ja, – oder glaubst du, daß dich ein einziger verstanden hat?

Wolfgang: Doch!

Scharff: Wer denn?

Wolfgang: Du!

Scharff: Ach – laß deine Impertinenzen. Zum 100sten Male laß dir’s sagen: Deine Ideen, deine Gedankengebäude sind zu hoch für den großen bildungslosen Haufen. Na, du weißt ja gut genug, daß ich vollkommen mit dir übereinstimme. Mir kannst du nicht leicht radikal genug werden. Aber das ist ein Unterschied. – Wir werden uns doch nicht einreden wollen, daß der große Haufe jemals Verständnis gehabt hätte für das Neue und Originale, für das Genie –

Wolfgang (sehr gedehnt): Für das Genie!! – ja, Freund, wer erkennt das Genie! Im selben Augenblick, da wir ein begrabenes Genie bewundern lernen, verlachen wir ein lebendiges. Der große Haufe, der das Genie verkennt, fängt gleich hinterm Genie an. Und wenn einmal ein Genie erkannt wird, weißt du, wo man es dann erkennt?

[53] Scharff: Nun? Ich bin begierig –

Wolfgang: Ganz oben und – ganz unten. Oben, wo die Geister so abgeklärt sind, daß aller Weisheitsdünkel verraucht ist, und unten, wo man von solchem Dünkel noch nichts weiß, wo man mit unverbildetem Gemüt das Große achtungsvoll empfindet. Dazwischen wohnen die Leute der satten Bildung. Sie haben ihre Bildung ohne Kampf erworben; sie haben sie sich angeschafft wie eine Saloneinrichtung und räkeln nun behäbig auf ihren Polstern. Das sind die Leute, die die Genies verkommen lassen aus Prinzip und Profession. – Aber was soll uns das? Deine vernichtenden Gründe haben eine verteufelte Neigung Seitensprünge zu machen.

Scharff: Nun gut, zugegeben, deine Zuhörer hätten dich wirklich verstanden – was dann? Du hast sie ungläubig gemacht – was nun weiter?

Wolfgang: Schon das ist ein großer Irrthum! Nicht ich mache diese Leute ungläubig; sie kommen glaubenslos zu mir. Selbst wenn ihre Lippen noch das Alte bekennen; in ihrem Herzen haben sie längst mit jenen Glaubenssatzungen gebrochen; sie sind ihnen nicht Trost und nicht Hoffnung mehr. (Die Hand auf Scharff’s Schulter legend.) Freund, was den Unglauben anwachsen läßt wie Lawinen, das ist stärker als unsre Reden und die Reden der Priester. Es ist das Frühlingstreiben einer neuen Zeit, das die vermoderten Überlieferungen vergangener Sommer in alle Winde treibt. Diese Bewegung wächst unaufhaltsam und kann nicht [54] wieder aufhören zu wachsen. Und die das am verzweifeltsten leugnen: die Geistlichen – erkennen es am deutlichsten.

Scharff: Sie leugnen es freilich entschieden.

Wolfgang: Ja, – und doch sehen sie es auf Schritt und Tritt vor sich, daß Wissenschaft und Dogmenglaube sich um jedes Menschenherz reißen wie zwei Hunde um ein Stück Fleisch und daß fast immer der Dogmenglaube verliert, weil er alt und zahnlos geworden ist. Und was will denn ich? Was wollen wir? Wir wollen nur vor diesen Thatsachen nicht blind sein; wir wollen der großen Bewegung begegnen, wollen der großen unerzogenen Masse begreiflich machen, daß mit dem alten Glauben nicht das Edle und Erhabene versinkt, wollen das Volk zur rechten Zeit emporreißen zu neuen hoffenden Gedanken!

Scharff: Es kann aber nicht ausbleiben, daß du auch Gläubige wanken machst.

Wolfgang: Ein Gebäude, das im Sturm wankt, ist zeitig zum Abbruch.

Scharff: Aber warum den Zusammenbruch beschleunigen! Diese Menschen sind glücklich in ihrem Wahne. Er stärkt und tröstet sie; er versüßt ihnen sogar den Tod. Warum diesen Wahn zerstören? Wir Ärzte haben gerade in dieser Beziehung unsere Erfahrungen.

Wolfgang: (hustet.)

Scharff: Unterdrücke bitte diesen ironischen Hustenreiz. Darin hab’ ich wirklich Erfahrung, Mehr als 99 Prozent aller Kranken will nur mit Medizin kuriert werden. Warum [55] sollen wir nicht aqua destillata und saccharum album verschreiben, wenn die Einbildung des Kranken aus Zuckerwasser ein Lebenselixir macht?

Wolfgang: Kranke betrügen ist ein frommer Betrug; denn der Kranke mißt alle Dinge mit falschem Maß. Aber selbst das hat seine Grenzen. (Indem er sich mit beiden Armen auf die Lehne von Scharff’s Sessel stützt und sich nach vorn neigt.) Ich könnte dir erzählen von einem jungen Arzte, der über alle Maßen wetterte und tobte, als jemand die „Kopfrose“ von einem alten Weibe „besprechen“ ließ und darüber die rechtzeitige Hülfe des Arztes versäumte.

Scharff: Sehr richtig von dem Mann – das war ich, he?

Wolfgang: Ich glaube.

Scharff: Ja, das war sehr richtig von mir! Denn hier bedeutete der Wahn die größte Gefahr für Leben und Gesundheit.

Wolfgang (lebhaft): Und der religiöse Wahn bedeutete das nie? Soll ich dich an die Millionen erinnern, die in unverstandenen, eingelernten Floskeln Heil und Genesung suchen und den Arzt verschmähen, der durch verdauliche Nahrung, durch frische Luft, durch den bitteren Trank der Wahrheit ihren Organismus erneuern will? Trost! Stärkung! Hoffnung! Als ob das alles nur beim Wahne wäre! Wir wollen der Menschheit zeigen, daß nirgends größerer Trost und größere Hoffnung ist als gerade bei der Wahrheit.

Scharff: Wahrheit, Wahrheit! „Was ist Wahrheit?“ fragte Pilatus den Nazarener.

[56] Wolfgang (wie oben): Aber der Nazarener nicht den Pilatus! Sieh’, das ist der große Unterschied. Wem die Sonne aufgegangen ist, der fühlt’s wohl an der Glut in seinem Herzen: das ist das Göttlich-Wunderbare in unserm Dasein! Wir sind irrende Menschen. Schön. Wissen wir. Aber doch sind wir dazu da, daß einer dem andern den Weg weise.

Scharff: Den Weg weisen! Glaubt doch nicht, daß euch das jemals einer dankt. Das Herdenvieh trottet seine gewohnten Wege!

Wolfgang: Hahahaha! Da wären wir also glücklich wieder bei deiner anfänglichen Behauptung! Das Carousselfahren ist nun einmal dein Sport. (mit scherzender Ironie:) Ein geeigneter Moment, um zu deiner vollen Befriedigung abzuschließen; meine Stunde ruft. Du wolltest meine Bibliothek benutzen; bitte, bediene dich; du weißt ja alles zu finden.

Scharff: Danke; aber willst du nicht deiner Frau bescheid sagen, daß Einquartierung da ist?

Wolfgang: Ich werd’s ihr sagen. (Geht an die hintere Thür links, öffnet sie und ruft:) Magda!

Magdalene (von drinnen): Ja?

Wolfgang: Der Herr Doktor ist hier; er wird ein bißchen in meinem Zimmer arbeiten, während ich weg bin.

Magdalene (wie oben): Ja bitte – (erscheint in der Thür.) Guten Morgen, Herr Doktor!

Scharff: Guten Morgen, gnädigste – schönste Frau; Sie gestatten doch –

[57] Magdalene: O bitte; ich muß nur sehr um Verzeihung bitten, daß ich mitten in der häuslichen Beschäftigung stecke –

Scharff: Nein, nein, deshalb dürften Sie nicht um Verzeihung bitten und noch weniger dürfen Sie sich durch mich stören lassen. Sobald ich merke, daß ich Sie geniere, verschwinde ich.

Magdalene: Dann will doch lieber ich verschwinden. Entschuldigen Sie mich.

Scharff: Bitte, bitte!

Wolfgang: Adieu, mein Herz!

Magdalene: Adieu, Wolf! Kommst du, bald wieder?

Wolfgang: Nach einer guten Stunde,

Magdalene: Adieu also!

Wolfgang: Adieu. (Küssen sich. Magdalene wieder links ab.) Moign Scharff!

Scharff: Moign! (Wolfgang ab.)


6. Scene.
(Dr. Scharff. Gleich darauf Weber.)

Scharff (nimmt einige Bücher aus einem Regal und legt sie auf Wolfgang’s Tisch, nimmt dann an diesem Platz und beginnt in den Büchern zu blättern und zu lesen. Es klopft): Herein!

Weber (Handlungscommis im Alter von 18 Jahren, gelblondes Haar, gesunde Gesichtsfarbe, goldne Brille mit großen runden Gläsern, bartlos, trägt hohen Stehkragen mit steif gebundenem Schlips, überhaupt steif-kaufmännisch gekleidet. Sehr dreistes, unreif-superiores Benehmen.): Guten Morgen.

Scharff (erhebt sich): Guten Morgen.

Weber (in inquisitorischem Tone): Sie sind wohl Herr Behring.

[58] Scharff (belustigt): Nein, Sie haben nicht die Ehre, mit Herrn Behring zu sprechen.

Weber: Das thut mir leid. Ich heiße nämlich Weber und bin Schriftführer des hiesigen Jünglingsvereins.

Scharff: Sehr erfreut. Dr. Scharff, Kassierer vom Kegelklub.

Weber (stutzt): Erlauben Sie eine Frage: Sind Sie mit diesem Herrn Behring befreundet?

Scharff: Mit diesem Herrn Behring bin ich befreundet, ja. Kennen Sie noch einen andern?

Weber: Nein, so meint’ ich es nicht. Aber – wie kann man mit diesem Mann befreundet sein! Haben Sie ihm nicht abgeraten, jenen abscheulichen Vortrag zu halten?

Scharff (mit komischer Verstellung, wie verlegen): Nein – das habe ich eigentlich nicht –

Weber: Wie ist es möglich! Das finde ich stark! (Nachdem er sich umgesehen, mit gedämpfter Stimme) Der Mensch ist ja ’n Freigeist!

Scharff (ebenso): Ach nein, – das kann ich nicht glauben!

Weber (wie oben): Gewiß! Haben Sie denn nicht gelesen, was er gesagt hat?

Scharff (ebenso): Nein, nur gehört.

Weber (zurückprallend): Gehört?

Scharff: Ja.

Weber: Sie haben seinen Vortrag selbst gehört?

Scharff: Ja.

Weber: Nun – und –?

Scharff: Hat mir ausgezeichnet gefallen.

Weber: Wa – – – ? Hat Ihnen ausgezeichnet –

[59] Scharff: Natürlich in der Form, meine ich, in der Form!

Weber (zurechtweisend): Ein solcher Vortrag sollte einem auch in der Form nicht gefallen!

Scharff (unterwürfig): Ihr Wunsch ist mir Befehl.

Weber: Wie können Sie Gefallen finden an solchem Gift; (gedämpft) denn es ist ja das reine Gift, was dieser Mensch ausströmt.

Scharff: Ah – ist mir sonst garnicht so giftig vorgekommen. Im Gegenteil: ich muß zu meiner Schande gestehen, daß ich ihn bisher für ein ganz vorzügliches, giftfreies Exemplar unserer Gattung gehalten habe.

Weber: Täuschen Sie sich nicht. Diese Freigeister haben keinen sittlichen Halt. Ihre Vorzüge sind ein hohler, trügerischer Schein; über ein Kleines zerplatzt er, und es quillt eitel Sünde und Unreinigkeit hervor. Sie endigen in Laster und Verzweiflung.

Scharff (trocken): Ich glaube, das bestellen Sie ihm besser selbst.

Weber: Das werde ich auch. Oder meinen Sie, ich hätte nicht den Mut dazu?

Scharff: Oh gewiß!

Weber: Ich werde ihm sagen, was noch vor kurzem Herr Pastor Meiling in unserm Verein sagte: daß die Giftströme des Atheismus und Materialismus und wie diese verwerflichen Ansichten sich sonst noch nennen mögen, nur dazu dienen, Tugend, Vaterland, Kaisertum, Deutschtum, Freiheit (sich schnell unterbrechend) – die wahre Freiheit meine ich natürlich – zu untergraben, die Herzen der Menschen immer öder, [60] friedloser, zerrissener zu machen. Staat, Gesellschaft und Kultur in unaufhaltbares Verderben hinabzustürzen und jeden Fortschritt zu ersticken –

Scharff: Den wahren Fortschritt meinen Sie natürlich.

Weber: Natürlich! – Ich werde ihm sagen, daß er aufhören soll sich Lehrer zu nennen – ich habe mir nämlich sagen lassen, daß der Mensch Lehrer ist! – denn ein Mann, der solchermaßen mit seinem Glauben Schiffbruch gelitten hat, mag das Vieh hüten, aber keine Menschen. Er wird seine Schüler nur um ihr ewiges Heil bestehlen.

Scharff: Wenn Sie ihm das alles so klar und überzeugend darstellen, so halt’ ich es für garnicht unmöglich, daß er Ihnen recht giebt.

Weber (immer eifriger): O, ich werde ihm noch mehr sagen. Ich werde ihm sagen, daß es noch christliche und deutsche Männer genug giebt, die sich den Giftströmen des Materialismus entgegenstemmen und sie mit der Flamme der christlichen Begeisterung hinwegblasen werden!

Scharff: Sie sprechen sehr gut. Der „zerplatzte Schein“ und die „Flamme, die die Giftströme hinwegbläst“ – Sie haben wohl viel in Ihrem Verein gelernt?

Weber: Unendlich viel, ja.

Scharff: Das scheint kein übler Verein zu sein.

Weber: Wollen Sie nicht Mitglied werden?

Scharff: Kann ich das?

Weber: Zu jeder Zeit.

Scharff: Das wäre prachtvoll.

Weber: Würden Sie uns nicht einen Vortrag halten? Ich bin beauftragt, Vortragskräfte zu gewinnen.

[61] Scharff: Mit Vergnügen!

Weber: Worüber würden Sie sprechen?

Scharff: Über – lassen Sie mal sehen – über „die Unverfrorenheit.“

Weber (stutzt): Von – von welchem Standpunkte aus würden Sie das Thema behandeln?

Scharff: Vom fidelen Standpunkte aus.

Weber (macht ein sehr dummes Gesicht): Ich – offen gestanden – ich verstehe Sie nicht.

Scharff: Sie verstehen mich nicht?

Weber[WS 1]: Nein.

Scharff: Ach – entschuldigen Sie – jetzt fällt mir ein, was ich versäumt habe. Ich habe ganz vergessen, Ihnen zu sagen, daß ich auch „Freigeist“ bin.

Weber (springt auf und stellt sich hinter seinen Stuhl. Zögernd, mit tiefster sittlicher Entrüstung): Dann sind Sie natürlich auch – Sozialdemokrat?

Scharff (leger): Anarchist, Anarchist! Ich bin Vorsitzender des Exekutivkomitee’s für Pulverisierung des Sonnensystems. (Indem er seine Zigarrentasche präsentiert, liebenswürdig:) Dynamitrolle gefällig?

Weber: Genug, Herr – „Doktor“ – so nennen Sie sich ja wohl – Sie haben Ihren frevelhaften Spott mit den heiligsten Dingen weit genug getrieben.

Scharff (höchst vergnügt): Potztausend – sind Sie das heilige Ding?

Weber: Aber spotten Sie nur; wahrlich, es wird die Stunde kommen, da Sie bereuen mit Heulen und Zähnklappen! Ich überlasse Sie Gottes gnädiger Führung.

[62] Scharff: Nett von Ihnen.

Weber: Nur das schöne Wort unseres Stadtmissionars möchte ich Ihnen noch zurufen: Gelehrsamkeit beim Gottlosen ist eine goldene Spange an den Klauen eines Schweines!

Scharff (indem er mit einem kurzen Ruck herumspringt): Donnerwetter! – In richtiger Beurteilung der Situation haben Sie sich der Thür genähert. (Indem er auf Weber zugeht, mit ausgesuchter Liebenswürdigkeit:) Sollten Sie irgendwie mit der Treppe dieses Hauses nicht vertraut sein –

Weber: (schlüpft mit größter Geschwindigkeit hinaus.)

Scharff: Hahahaha! (Öffnet die Thür und ruft ihm nach:) Vergessen Sie nicht, meinen Vortrag anzumelden! (Man hört Weber die Treppe hinunterpoltern. Scharff schließt die Thür wieder, noch immer lachend:) Daß doch Frechheit und Mut so grundverschiedene Dinge sind!


7. Scene.
Scharff, Wolfgang, gleich darauf Magdalene.

Wolfgang (tritt ein, sichtlich gedrückt, während des folgenden Gesprächs zerstreut. Er sieht sich in der geöffneten Thür um, zu Scharff): Wer stürzte denn da hinunter?

Scharff: Einer von der Heilsarmee.

Wolfgang: Von der Heilsarmee?

Scharff: Ja, Einer, der uns salvieren wollte und schließlich sich selbst salvierte. Er wollte dir seine Entrüstung über deinen Vortrag aussprechen.

Wolfgang (lebhaft): Du hast ihn doch deswegen nicht beleidigt?

[63] Scharff: Nein, aber er mich.

Wolfgang: Wieso?

Scharff: Er hat mich Schwein genannt.

Wolfgang: Wie?

Scharff: Ja, versteh’ mich richtig, nicht so geradezu, aber in der „geblümten Paradiesweis“, die diesen Leuten so glatt vom Munde fließt. Flegelei mit Salbung. Du kennst die Mischung.

Wolfgang: Nur zu gut.

Magdalene (sieht durch die Thür links): Es war mir doch, als ob Wolfgang – (ihn gewahrend) Da bist du ja schon wieder; giebst du die Stunde nicht?

Wolfgang: (düster) Nein.

Magdalene: Was ist dir? Du schaust so seltsam drein. (Da Wolfgang schweigt, ihn schüttelnd) Männchen! du ängstigst mich.

Wolfgang: Nichts, nichts! Ich habe die Stunden beim Bürgermeister verloren.

Magdalene: Verloren?

Wolfgang: Die Frau Bürgermeisterin erklärte mir mit feierlichem Blick auf den Teppich, daß ihre Kinder die Anstrengung der Privatstunden nicht mehr vertrügen. Es sind nämlich drei pausbäckige Rangen von gesündester Ungezogenheit.

Scharff: Honorar für deinen Vortrag! Liebste, verehrteste Frau Behring – wenn ich Sie bitten darf – halten Sie Ihren Mann mit beiden Armen im Hause fest, wenn er wieder solche Vorträge halten will! Er wird Sie beide ins Verderben stürzen.

[64] Wolfgang: Er appelliert an deine Furchtsamkeit, Magda. (Den Arm um sie legend.) Er weiß nicht, was für eine starke, mutige Frau ich habe.

Scharff: Wenn der Hunger kein Brot mehr findet, frißt er zuerst den Mut, Mensch! – ich würde dir Reichtümer zu Füßen schütten, wenn ich sie hätte. Aber woher soll ich sie nehmen! In meinen Sprechstunden lese ich mit Vorliebe Gedichte, z. B. „Abseits“ von Theodor Storm, oder Eichendorff’s „O wunderbares, tiefes Schweigen!“ Es ist ein köstlicher Stimmungsgenuß! Aber (auf die Uhr sehend) ich verplaudere die Zeit und bin von einem Kollegen zu einer Konsultation gebeten – also: Addio, verehrte Frau; reden Sie Ihrem Mann ins Gewissen – Moign, Behring – du, ich nehme den Virchow mit – (nimmt ein Buch von Wolfgang’s Tisch.)

Wolfgang: Bitte –

Scharff: Ich bringe dir ihn bald wieder. Also nochmals: Addio!

Wolfgang: {  Adieu  } Scharff!
Magdalene: Herr Doktor! (Scharff ab.)


8. Scene.
Wolfgang. Magdalene.

Magdalene (nach längerem Schweigen): Die Stunden beim Bürgermeister brachten dir eine gute Einnahme.

Wolfgang: Eine sehr gute. –

Magdalene (seufzt. Pause.): Du – Wolf!

Wolfgang (aus seinem Brüten auffahrend): Was giebt’s?

Magdalene: Es sind Briefe für dich da.

[65] Wolfgang (aufspringend): Auch aus Berlin? Von der Redaktion?

Magdalene: Nein, lauter Stadtbriefe.

Wolfgang (erschrickt): Stadtbriefe?

Magdalene (Sucht in ihrer Tasche nach den Briefen.): Der Postbote gab sie mir auf dem Treppenflur. Da – (ängstlich) drei Stück, Wolfgang!

Wolfgang (Öffnet hastig nach einander die Briefe und liest): Sehr gut, sehr gut. – Noch besser. – Gut also. – (Springt auf und geht erregt im Zimmer auf und ab.)

Magdalene: Was ist mit den Briefen?

Wolfgang (Wolfgang setzt seine Wanderung fort, ohne zu antworten. Dann plötzlich, als habe er jetzt erst gehört, antwortet er): Wie? – Was wünschest du? – Ach so – verzeih – ich habe dich von dem Genuß ausgeschlossen. – Da (giebt ihr die Briefe) Kündigungen, Kündigungen, Kündigungen! „Umstände halber“ und „Verhältnisse halber“ und „aus gewissen Gründen“ können die Leute mich nicht mehr bei ihren Kindern gebrauchen!

Magdalene: Aber – mein Gott – jetzt hast du ja nur noch die Stunden in der Töchterschule! (Es klopft.)

Wolfgang: Herein! Lupus in fabula – ich möchte wetten!


9. Scene.
Emilie Stebeling. Wolfgang und Magdalene.

Emilie Stebeling (Vorsteherin einer Töchterschule, ältliche rundliche Dame mit schwarzem, geschmacklos einfachem Kleide, glatt an die Schläfen gekämmtem Haar und Brille. Altjüngferliches [66] Wesen. Gesuchte weibliche Milde. Spricht sehr sanft und langgedehnt): Guten Morgen, Herr Behring! (Verbeugt sich lächelnd gegen Magdalene.)

Wolfgang: Guten Morgen, mein Fräulein; bitte, nehmen Sie Platz. Meine Frau – Frl. Stebeling.

Emilie Stebeling (Reserviert): Sehr erfreut. – Ich wollte nämlich wegen der Schule – ja – in einer Angelegenheit der Schule mit Ihnen, Herr Behring –

Magdalene (geht nach links ab.)

Wolfgang: Sehr wohl, mein Fräulein; was befehlen Sie.

Emilie Stebeling: Ja – Sie wollen also den Lehrerberuf aufgeben – ?

Wolfgang: Ich? Aufgeben – ?

Emilie Stebeling (ihn nicht ausreden lassend): Ja – man sagte mir, Sie hätten einen Vortrag, in der „Tonhalle“ glaub’ ich, gehalten –

Wolfgang: Allerdings – aber –

Emilie Stebeling (wie oben): Ja – er soll sehr hübsch gewesen sein – ich hatte leider keine Zeit –

Wolfgang: Bitte –

Emilie Stebeling: Nun – und da werden Sie ja jedenfalls die Stunden an meiner Schule auch aufgeben wollen. Es ist recht schade!

Wolfgang: Aber, mein Fräulein, ich sehe durchaus nicht ein – ich unterrichte ja an Ihrer Schule Naturwissenschaften –

Emilie Stebeling (mit größter Liebenswürdigkeit): Ja sehen Sie, nicht wahr? Und die Naturwissenschaften, finde ich, sollen ja gerade die religiösen Empfindungen im Gemüt des Kindes wecken.

[67] Wolfgang: So? Finden Sie das? Ich finde, eine Wissenschaft soll wissenschaftliche Wahrheiten bieten. Habe ich jemals Ihren Religionsunterricht gestört?

Emilie Stebeling: Oh bewahre! Ich war ja immer so sehr zufrieden mit Ihnen. Ja – und dann würden ja auch die Eltern sich beschweren (sehr liebenswürdig): ich wollte es eigentlich nicht sagen; aber es sind schon viele Beschwerden eingelaufen.

Wolfgang: So! Also Maulwürfe überall! Sagen Sie, gnädiges Fräulein, was würden Sie denn nun thun, wenn ein ungläubiger Vater sich über Ihren Religionsunterricht beschwerte?

Emilie Stebeling (sehr freundlich): Ach – sollte das vorkommen können? Sehen Sie, ich habe ja nur Kinder aus den besten Familien!

Wolfgang: Ach freilich! Dann – ! Nein, in den besten Familien kommt so ’was nicht vor. (Aufstehend:) Also – kündigen wir!

Emilie Stebeling (aufstehend, reicht ihm die Hand): Vielen, vielen Dank für Ihre Hülfe –

Wolfgang: Oh bitte, mein Fräulein, keine Ursache – es war ja doch kein „Segen“ dabei.

Emilie Stebeling: Oooh, das wollen wir nicht sagen. – Adieu, Herr Behring.

Wolfgang: Empfehle mich, gnädiges Fräulein, empfehle mich. (Nachdem er sie hinausgeleitet und die Thür hinter ihr geschlossen, bricht er in ein lautes Gelächter aus.) Aus den besten Familien, hahaha!


[68]
10. Scene.
Wolfgang, Magdalene, dann ein Postbote.

Magdalene (eilig herein): Hat sie dir gekündigt?

Wolfgang: Ja, ja –

Magdalene: Und du lachst?

Wolfgang: Ja, ich lache, mein Kind. Sieh, mein Kind, die Folter des 19. Jahrhunderts ist doch eine recht lustige Folter! Man muß zuweilen doch ganz infernalisch lachen dabei.

Magdalene (sinkt auf einen Stuhl und bricht in krampfhaftes Weinen aus.)

Wolfgang: Aber Kind, was ist dir denn –

Magdalene: Mein Gott, mein Gott, wovon sollen wir nun leben!

Wolfgang (mit leisem Vorwurf): Magdalene!

Magdalene: Hätt’st du doch geschwiegen, hätt’st du doch den unseligen Vortrag nicht gehalten!

Wolfgang (erstaunt): Was – was sagst du?

Magdalene (immer weinend): Es zwang dich ja niemand dazu. Ach Wolfgang, wir hätten so glücklich und zufrieden sein können!

Wolfgang (sie anstarrend): Ja – ja – das hätten wir – (Es klopft. Ein Postbote erscheint an der Thür mit einem Paket.)

Postbote: Herrn Behring.

Wolfgang (sucht in seiner Westentasche): Ach Magdalene – willst du mal – 20 Pfennige –

Magdalene (nimmt aus ihrem Portemonnaie das Geld und giebt es dem Postboten): Hier.

Postbote: Danke schön. Adieu. (Ab.)

Magdalene (hastig): Aus Berlin?

Wolfgang: Ja.

[69] Magdalene: Vom Illustrierten Journal?

Wolfgang: Ja. – Ich mag’s garnicht öffnen.

Magdalene: Er ist so dick – das wird das Manuskript sein.

Wolfgang (zaghaft): Es können auch schon Abdrücke sein.

Magdalene: Aber dann hättest du doch eine Nachricht bekommen.

Wolfgang: Das ist nicht gesagt – sie kann ja auch verloren gegangen sein – – Na! (zerschneidet mit plötzlichem Entschluß das Band und reißt das Paket mit zitternden Händen auf. Er findet das Manuskript, läßt es auf den Tisch fallen und sinkt in seinen Stuhl.)

Magdalene (hat einen Blick über seine Schulter auf das Manuskript geworfen und wendet sich ab, das Taschentuch gegen die Augen drückend.)

Wolfgang (nimmt mechanisch das Begleitschreiben vom Tisch, überfliegt es und lacht kurz auf): Hm! –

Magdalene: Was schreiben sie?

Wolfgang (liest): „Hochgeehrter Herr! Ich habe Ihren Roman mit Entzücken gelesen und halte ihn für ein kleines Meisterwerk. Wenn ich ihn drucken könnte – wie gern! Aber wo denken Sie hin, Verehrtester! Viel zu kühn! Viel zu gedankenschwer! Wenn ich ihn heute drucke, haben wir morgen die Hälfte unserer Abonnenten verloren. Bedenken Sie: Wir sind ein Familienblatt.

In größter Hochschätzung etc. etc.“     

Magdalene: Also auch diese Hoffnung.

Wolfgang: Auch diese. (Läßt wie träumend den Brief aus den Händen fallen.)

[70] Magdalene (ist langsam nach hinten links gegangen; nach einer kurzen Pause, leise): Willst du zum Essen kommen?

Wolfgang (schweigt, vor sich hinstarrend.)

Magdalene (etwas lauter): Wolf – willst du zum Essen kommen? (Sie eilt, da sie keine Antwort erhält, an seinen Stuhl, blickt Wolfgang ins Gesicht, sinkt dann auf die Kniee und legt den Kopf auf die Lehne des Sessels.)

Wolfgang (streicht ihr wiederholt liebkosend über das Haar.)

Der Vorhang fällt langsam.


3. Akt.

(Andere, ärmlichere Wohnung Behring’s. Ebenfalls ärmlichere Ausstattung als im 2. Akte. Rechts derselbe Schreibtisch mit demselben Stuhl wie im 2. Akt. Links ein Tisch mit Stühlen. Eine Thür hinten rechts führt auf den Flur, auf dem eine Garderobenvorrichtung angebracht ist; eine Thür hinten links führt in das Schlafzimmer, in dem sich das Bettchen des kranken Kindes befindet.)


1. Scene.
Magdalene, gleich darauf Wolfgang.

Magdalene: (sitzt an Wolfgang’s Schreibtisch, eifrig schreibend, ab und zu das Taschentuch an die Augen drückend und sich wiederholt umsehend, als befürchte sie Überraschung. Sie kouvertiert, was sie geschrieben, und schiebt den Brief hastig in die Tasche. Dann geht sie an die Thür hinten links und horcht.)

Wolfgang (im Überrock, tritt, den Hut abnehmend, schnell vom Flur herein): Wie geht es Richard?

[71] Magdalene: Noch immer so. Er schläft und rührt kein Fingerchen. Dabei hat er immer die Lider nur halb geschlossen. Das sieht so beängstigend aus. (Geht mit Wolfgang in die Schlafstube an das Bettchen, neben dem Schwester Helene sitzt. Sie bleiben einen Augenblick betrachtend am Bettchen stehen, sprechen leise miteinander und wenden sich dann wieder nach vorn.)

Magdalene: Doktor Scharf ist heute noch nicht hier gewesen. Wollen wir nicht hinüberschicken?

Wolfgang: Ja thu das, liebes Kind. Schwester Helene kann ja hingehen.

Magdalene (will nach hinten gehen, wendet sich aber noch einmal gegen Wolfgang): Hast du wieder einen vergeblichen Gang gemacht?

Wolfgang: Ja.

Magdalene: Wohin?

Wolfgang: Nach der Stadtbibliothek. Es war eine Stelle ausgeschrieben. (Kurze Pause.)

Magdalene: Nichts?

Wolfgang: Nichts. (Tritt nach hinten auf den Flur hinaus und entledigt sich seines Überrocks.)

Magdalene (steckt der Schwester Helene indessen den Brief zu.): Diesen Brief an Herrn Pastor Meiling! Und bitten Sie den Herrn Doktor, er möchte so schnell wie möglich kommen! (Schwester Helene hat den Brief an sich genommen und nickt zustimmend. Magdalene tritt in das Krankenzimmer zurück.)


[72]
2. Scene.
Wolfgang, Schwester Helene.

Wolfgang (tritt wieder herein, als Schwester Helene aus der Thür links kommt. Schwester Helene, eine schöne Erscheinung von sanftem, nicht aufdringlichem Wesen.)

Wolfgang (streckt ihr die Hand entgegen): Schwester Helene – wie geht es Ihnen?

Schwester Helene: Ich danke Ihnen, Herr Behring, sehr gut.

Wolfgang: Ihnen sind wir viel, viel Dank schuldig, Schwester Helene. Sie pflegen unsern Kleinen mit einer Hingebung und Ausdauer – ich muß es Ihnen sagen, daß ich Ihnen aus innerster Seele dankbar bin. – Sie gehen zum Arzt, nicht wahr?

Schwester Helene: Ja.

Wolfgang: Bitten Sie ihn, daß er so schnell wie möglich komme.

Schwester Helene: Soll ich auch – ich will Sie nicht erschrecken, Herr Behring – aber es wäre ja möglich – soll ich auch den Herrn Pastor rufen?

Wolfgang (erschrickt): Befürchten Sie – befürchten Sie – das?!

Schwester Helene: Es wäre ja nicht unmöglich –

Wolfgang (mit mühsamer Fassung, aber entschieden): Den Pastor? Nein!

Schwester Helene (ab.)


3. Scene.
Wolfgang, dann Magdalene.

Wolfgang (geht an seinen Schreibtisch und stützt den Kopf in die Hände. Er blättert zerstreut in einem Buche, springt plötzlich auf und läuft an die Thür zum Krankenzimmer, um zu horchen. Er greift mit beiden Händen an den Kopf [73] und läßt einen schweren Seufzer hören. Dann wieder an den Schreibtisch. Er macht Miene zu arbeiten, legt Papier zum Schreiben zurecht, taucht die Feder ein und starrt ins Leere. Plötzlich wendet er den Kopf, er springt auf, läuft an die Thür zum Krankenzimmer und öffnet sie leise): Wacht er?

Magdalene (traurig den Kopf schüttelnd): Nein.

Wolfgang: Bist du nicht erschöpft; du hast die ganze Nacht bei ihm gewacht.

Magdalene: Ich habe heut’ Morgen ein wenig geschlafen. – Ist der Arzt noch nicht da?

Wolfgang (ins Zimmer zurücktretend): Noch nicht – aber ich höre jemand kommen. (An die Thür rechts eilend und hinaussehend) Ja, da sind sie.


4. Scene.
Wolfgang, Scharff, später Helene.

Wolfgang: Gut, daß du kommst, Scharff, komm nur schnell, wir sind in größter Besorgnis –

Scharff: So so – nun – wollen uns den kleinen Kerl gleich mal ansehn. (Geht mit Wolfgang und Helene in das Krankenzimmer. Die Thür bleibt offen. Man spricht leise miteinander.)

Scharff (tritt heraus): Behring, einen Augenblick! (Zieht Wolfgang an der Hand nach rechts.) Wir müssen Einspritzungen machen – Champagner geben. Ich nehme an, daß du nicht so viel hast. Hier – (giebt ihm einen Kassenschein.)

Wolfgang (vollkommen verwirrt, heftig zitternd): Ja – ja – ich kann dir aber für’s erste –

[74] Scharff (barsch): Mach keinen Unsinn, ja? Vorwärts, vorwärts!

Wolfgang: Ja – ja – Schwester Helene! Schwester Helene! Ach bitte – (Schwester Helene tritt herein) Bitte, wollen Sie die Güte haben und von der Apotheke – (zu Scharff) was – was soll sie – was soll sie holen? (Giebt Helene den Kassenschein.)

Scharff (der indessen ein Rezept geschrieben hat): Hier. (einschärfend) Es soll sofort gemacht werden! Und dann bringen Sie bitte einstweilen 2 Flaschen Champagner mit. Ich bleibe solange hier.

Schwester Helene (ab.)

Scharff (geht an die Thür des Krankenzimmers): Ich bleibe hier, Frau Behring, bis die Schwester wiederkommt. Beunruhigen Sie sich nicht zu sehr; ich werde alles thun, was in meinen Kräften steht. (Schließt die Thür und kommt nach vorn.)


5. Scene.
Wolfgang, Scharff.

Wolfgang: Hast du – hast du noch Hoffnung?

Scharff: Ich habe noch nicht alle Hoffnung aufgegeben – vielleicht – man kann nicht wissen – aber (Wolfgang’s Hand fassend:) du mußt gefaßt sein, Freund.

Wolfgang (schrickt zusammen und schweigt, starr vor sich hinsehend. Dann läßt er Scharff’s Hand los.)

Scharff: Laß es dich nicht zu Boden drücken, Freund. Du hast ohnehin nicht zu viel Kraft. Du überarbeitest dich. Nachts die Zeitung korrigieren und tags Artikel schreiben – das kannst du nicht aushalten – es ist reiner Wahnsinn!

[75] Wolfgang (wild auflachend): Haha, Wahnsinn – ja –, weißt du, den Wahnsinn glaube ich zu kennen, ich muß ihn schon einmal irgendwo gesehen haben – (Mit furchtbarem Schmerz:) Ach, Mensch, wenn ich nur arbeiten könnte! Acht Tage sitze ich bei solchem Ding, für das sie mir zwanzig Mark geben! Wenn meine Gedanken einen Schritt vorwärts thun wollen, schleicht ihnen die graue Katze, die Sorge, über den Weg. Weißt du, oft möcht’ ich mir den Hirnkasten mit diesen Fäusten zertrümmern, um nur Luft, Luft zu haben. Mitten in den reinsten und höchsten Gedanken grinst mich so ein verfluchtes Zwanzigmarkstück an. Ich muß ja immer an sie denken (nach dem Krankenzimmer zeigend:) was hat sie zu leiden!!

Scharff (sehr ernst): Behring – nimm mir’s nicht übel, daß ich dir jetzt damit komme – als Freund rat’ ich’s dir – mach’ Frieden mit deinen Feinden. Thu ihnen den Gefallen: laß dich trauen u. s. w. – es ist ein unsinniger Kampf, den du nie gewinnst.

Wolfgang (sieht ihn schweigend an.)

Scharff: Ja, es ist mir ernst damit. Du vergiebst dir nichts damit – und gewinnst viel.

Wolfgang (greift mit der linken Hand nach einer Zeitung auf seinem Tische, zeigt sie Scharff und schlägt heftig mit der rechten Hand auf das Blatt): Da – hier! Hast du’s gelesen? Das neue Gesetz?

Scharff: Ja natürlich – was denn?

Wolfgang: Ecclesia militans! – Ja, das muß ihr der grimmigste Feind lassen, eine streitende Kirche, das ist sie! Hast du’s gefühlt, wie sie in diesem [76] Gesetz ihre Hand ausstreckt? Sie kennt keine Schlaffheit, und so wenig ihr das zur Schande gereicht, so erbärmlich und schändlich ist es, wenn wir uns aus Feigheit vor ihr ducken.

Scharff: Ach, das ist Fanatismus – nimm mir’s nicht übel – das ist beschränkter, enggeistiger Fanatismus! Was sind einem bedeutenden Menschen denn diese Formalitäten. Er macht den Kram mit und glaubt, was er will.

Wolfgang (langsam, mit dem Kopfe nickend): Sososososo – also so sehen jetzt die bedeutenden Menschen aus! – Nun, dann will ich dir sagen – du weißt, daß ich ein friedliebender Mensch bin – aber lieber einen 30jähriger Krieg mit allem Blut und allen Thränen und aller lodernden Begeisterung als diese impotente, gewohnheitsfeige Blasiertheit der „bedeutenden“ Menschen.

Scharff: Ja ja, da haben wir’s, ein Fanatiker bist du!

Wolfgang: Mag ich denn ein Fanatiker sein! Wer ist mitten in rasender Schlacht nicht Fanatiker! – Und der Kampf um die Freiheit der Geister tobt unablässig.

Scharff: Aber wo bleibt denn da die Duldsamkeit; unduldsamer als du kann man doch nicht gut sein –

Wolfgang (flehentlich): Freund – ich bitte dich – in diesem Augenblick – mach’ mich nicht verrückt! Wen will ich denn vergewaltigen! Ich will ja nur ehrlich kämpfen! Aber mich – mich – mich peinigt man bis auf’s Blut –

Scharff: Die Schwester!


[77]
6. Scene.
Schwester Helene, die gekauften Medikamente tragend.
Die Vorigen.


Scharff: Kommen Sie, kommen Sie schnell! (Man geht in das Krankenzimmer.)

Scharff: Bitte, Behring – bitte, Frau Behring, lassen Sie uns einen Augenblick mit dem Kinde allein – ich werde der Schwester die nötigen Weisungen geben –

Magdalene (dringend): Darf ich denn nicht dabei sein?

Scharff (sanft): Es ist besser so –

Magdalene (angstvoll): Steht es denn so schlimm um ihn, Herr Doktor?

Scharff: Wir müssen hoffen, Frau Behring, wir müssen hoffen – aber wir dürfen keine Zeit verlieren. (Drängt sie sanft hinaus und schließt die Thür.)


7. Scene.
Wolfgang. Magdalene.

(Stummes Spiel. Wolfgang macht sich ohne bestimmte Absicht an seinem Schreibtisch zu schaffen, blättert in einem Buche, stützt den Kopf und starrt in’s Leere. Magdalene geht mit verschränkten Armen, zusammengesunken, wie fröstelnd, den Kopf auf die Seite geneigt, langsam auf und ab. Endlich bleibt sie stehen.)

Magdalene: Hat er dir nicht mehr gesagt als mir? Hat er wirklich noch Hoffnung?

Wolfgang: Er hat noch Hoffnung – aber nicht viel. Wir müssen alles –

Magdalene: Nein, nein, sprich nicht weiter – ich will hoffen, (verzweifelt) ich will hoffen!

Wolfgang: Fasse dich, Magda. Wenn das Unabwendbare –

[78] Magdalene: O Himmel, wie kannst du nur so sprechen, Wolfgang! Kannst du denn ruhig sein!

Wolfgang (hülflos): Magdalene – !

Magdalene (in einen Stuhl sinkend, die Arme auf den Tisch stützend und die Hände faltend): O mein Gott, es kann ja nicht sein! So kannst du uns nicht strafen wollen, allmächtiger Gott!


8. Scene.
Die Vorigen. Scharff.

Scharff (aus dem Krankenzimmer kommend, in der Thür zu der Schwester): Also alle Viertelstunde – nicht aussetzen! (Schwester Helene von drinnen: „Nein“. Scharff schließt die Thür.) So. Und nun ruhen Sie aus, Frau Behring, Sie werden heut’ Nacht eine anstrengende Wache bei dem Kinde haben. Die Schwester ist sehr zuverlässig – sie wird Ihnen sagen, was zu thun ist.

Magdalene (flehend): Können Sie nicht hier bleiben, Herr Doktor?

Scharff: Beim besten Willen nicht. Es wartet ein Schwerkranker auf mich. Ich kann Ihnen auch nichts nützen. Wenn jetzt nicht die Natur sich redlich Mühe giebt – unsere Kunst ist leider zu Ende. Aber in einer Stunde spreche ich wieder vor. Adieu, gnädige Frau, Adieu, Behring.

Magdalene (reicht ihm stumm die Hand, indem sie ihr Taschentuch gegen die Augen drückt.)

Wolfgang: Adieu, Scharff. (Geleitet ihn hinaus und verweilt einen Augenblick mit ihm draußen.)


[79]
9. Scene.
Die Vorigen ohne Scharff.

Magdalene (ist an einem Stuhl auf die Kniee gesunken und erhebt die gefalteten Hände): Allmächtiger, jetzt gieb mir Kraft, daß ich ihn überrede! Sieh meine Sünde nicht an, allmächtiger Gott – ich will ja auch anders, ganz anders werden – (erhebt sich rasch, da Wolfgang eintritt.)

Wolfgang: Willst du nun nicht ruhen, mein liebes (mit überquellenden Gefühl) mein armes, mein geplagtes Weib! (er eilt auf sie zu und will sie in die Arme schließen.)

Magdalene (ihn abwehrend): Nein, nein – ich kann nicht ruhen; ich will bei dem Kinde bleiben – zuvor aber – will ich mit dir sprechen.

Wolfgang: Was ist dir? Du bist so seltsam –

Magdalene: Wolfgang – ich kann nicht mehr so leben mit dieser entsetzlichen Angst im Herzen – ich breche zusammen unter dieser entsetzlichen Angst –

Wolfgang: Aber Magdalene – warum wollen wir nicht hoffen – es ist ja noch nicht alles verloren –

Magdalene (ihn heftig unterbrechend): Nein – nein – du vestehst mich nicht – ach du verstehst mich ja nicht!

Wolfgang: Aber was ist dir denn, Kind?

Magdalene: Wenn er nun stirbt (mit gesteigerter Angst) wenn unser Richard nun stirbt – wir – haben ja die Schuld!

Wolfgang (mit unterdrücktem Aufschrei): Magdalene! Was sagst du da? Fühlst du dein Gewissen beschwert? Hast du etwas versäumt?

[80] Magdalene: Wir, wir, Wolfgang – wir haben ja alles versäumt, und Gott sucht uns furchtbar heim! Siehst du in all den Schlägen, die uns treffen, nicht die strafende Hand Gottes?

Wolfgang (mit leiser Bitterkeit): Nein, wahrhaftig, ich habe in diesen grausamen Peinigungen nichts von einer göttlichen Hand empfunden.

Magdalene: O kehr um, Wolfgang, vielleicht ist es noch Zeit – ich fürchte mich vor dir – frevle nicht mehr gegen Gott – wir haben genug gefrevelt!

Wolfgang (langsam und mit Betonung, nach dem Krankenzimmer zeigend): Hat die Schwester dir das gesagt?

Magdalene: Ja – nein – das heißt, wir haben wohl darüber gesprochen – aber ich fühl’ es ja auch selbst, Wolfgang, es läßt mir ja keine Ruhe. (Sich an Wolfgang drängend und die Hände auf seine Schulter legend) Wir wollen – ja ja – nicht wahr? – wir wollen Richard nun doch taufen lassen – ja ja, nicht wahr? – ach dann wird der liebe Gott Erbarmen haben und unsern Richard nicht sterben lassen! Sag’ ja, Wolfgang, sag’ ja!

Wolfgang (sie mit tiefen Schmerze betrachtend, weich): Du hast dich wunderbar verändert –

Magdalene (beschämt): Es ist ja keine Schande – seinen Sinn zu ändern –

Wolfgang (gequält): Aber ich habe meine Gesinnung nicht geändert, Magdalene!

Magdalene: Aber du thust es mir zuliebe, nicht wahr? Ja ja, mir zuliebe thu’ es, Wolfgang, ich will es dir ewig, ewig danken – gewiß, ich weiß es, du [81] bist ja so gut, so gut, du thust es, wenn ich dich recht darum bitte –

Wolfgang (kämpfend, die Zähne zusammenpressend): Ich kann nicht –

Magdalene: Du kannst nicht! O Wolfgang! Und was hab’ ich um deinetwillen können müssen! Sieh, alles hab’ ich an deiner Seite erduldet – ich habe Not und Sorgen mit dir geteilt – und ich war es doch wahrhaftig nicht gewohnt – ich hab’ es ertragen müssen, daß die Menschen uns höhnisch ansahen und umzischelten, als wären wir ein zusammengelaufenes Paar – ohne Zucht und Ehre – aber dies, Wolfgang, dies kann ich nicht ertragen. – Du mußt es thun, Wolfgang, du mußt es thun!

Wolfgang (sanft): Du mußt ruhig sein, Mädchen (da Magdalene eine verzweifelte Gebärde macht) ja ja, du mußt ruhig sein. (Mit liebevollem Eifer die Worte suchend:) Sieh, ich – ich will dir ja beweisen, daß ich nicht kann. Sieh – alle beugen sich vor der Kirche – alle fürchten sich vor ihr. Der ungeheure Troß der Unmündigen steht auf ihrer Seite – das ist ja ihre große Gewalt. Und der König leiht ihr zum Überfluß seinen starken Arm. Und gegen diese Priestergewalt, die die Gewissen der Menge in so ganz – so ganz falsche Bahnen lenkt – und die ewig ihre Hand ausstreckt nach der schönen menschlichen Freiheit und die uns demütigt und erniedrigt, gegen diese Gewalt flammt ja in mir ein wilder, nie verlöschender Trotz! Das ist mein ganzer Kampf, Magdalene! Ich würde ja vor Scham in die Erde sinken müssen [82] vor den Tausenden, denen ich zugerufen habe: Es ist niedrig und schändlich, sich gegen seine Überzeugung zu beugen vor den Tyrannen des Gewissens.

Magdalene: Ja, da siehst du’s nun, wohin dein Trotz, deine Hochmut gegen Gott uns gebracht hat. Er wird unser Kind sterben lassen, weil du deinen Nacken nicht beugen kannst.

Wolfgang: Weib! – Magdalene! – Siehst du denn nicht, daß du deinen Gott zur Fratze, zum Popanz machst, wenn du glaubst, er ließe um meiner redlichen Überzeugung willen unsern Richard leiden, wie er gelitten hat? Verstehst du das nicht?

Magdalene: Nein – ich verstehe dich nicht – ich kann dich nicht verstehen, (verzweifelt) ich will dich auch nicht verstehen – ich will nur, daß du thust, um was ich dich flehe, sieh, auf den Knieen flehe: laß unsern Richard taufen, damit er – o barmherziger Himmel – damit er nicht verdammt werde, wenn er denn sterben muß.

Wolfgang (sich verzweiflungsvoll gegen die Stirn schlagend): Verdammt! – Unser Richard verdammt – siehst du, je mehr du so etwas sprichst – desto weniger kann ichs.

Magdalene (heftig): Wie? Du willst nicht?

Wolfgang: Hör mich an, Magdalene! (Mit inniger Treuherzigkeit:) Sag’ mir: bin ich denn ein schlechter Mensch? Bin ich nicht aus allen Kämpfen redlich und rein hervorgegangen? Hab’ ich jemals etwas gethan, dessen ich mich schämen müßte? Hast du denn garkein Vertrauen mehr zu mir!! Komm her – (er faßt ihre Hand.)

[83] Magdalene (reißt sich los): Laß mich! Ich höre nichts mehr, ich will nichts mehr hören. Meine Angst, meine Thränen gelten dir nichts – es ist gut. Was daraus folgt – komme über dich! (Mit unterdrückter Stimme:) Wolfgang? – wenn unser Richard stirbt – du hast ihn gemordet!

Wolfgang (mit ersticktem Aufschrei, ihr Handgelenk umklammernd): Weib, du bist wahnsinnig! Das – das – das konntest du sagen! – – – Nun seh ich’s wohl: Man hat unsern Bund zerrissen – (ihre Hand wegstoßend:) wir sind nicht mehr eins. Gut denn. Du hast so viel Recht an dem Kinde wie ich – thu’ was du willst.

Magdalene (aufjubelnd): Gott sei Dank – Allmächtiger – sei – gedankt (sie stürzt hinaus, indem sie ruft:) Herr Pastor – Herr Pastor – !

Wolfgang (sieht ihr mit höchstem Erstaunen nach): Was bedeutet das? (Läuft an die Thür rechts.) Magdalene! Was ist dir? Was soll – (Er tritt zurück, da Pastor Meiling eintritt.) Aah – also vorbereitet – ?

Magdalene (verlegen): Ich hatte den Herrn Pastor gebeten – sich in der Nähe zu halten.


10. Scene.
Wolfgang, Magdalene, Pastor Meiling, Schwester Helene.

Schwester Helene (kommt aus dem Krankenzimmer und ruft im Flüsterton): Herr Behring – Frau Behring – kommen sie schnell – der Kleine –

Magdalene: }  (zugleich, indem sie ins Krankenzimmer eilen, angstvoll):  {  Was ist mit ihm – ?
Wolfgang:

[84] Pastor Meiling (zu Helene): Was ist –?

Schwester Helene (leise): Er stirbt.

Magdalene (im Krankenzimmer, schreiend): Richard – Richard – mein süßer Richard – hörst du nicht – deine Mamma ruft dich – (stürzt mit einem Schrei am Bette des Kindes zu Boden.)

(Der Vorhang fällt.)


4. Akt.
(Salon bei Wöhlers wie im 1. Akt. Die Thür links steht offen.)
1. Scene.
Fritz, Kinder (hinter der Scene). Dann Wöhlers.

(Fritz steht, Ball spielend, auf dem Podest der Freitreppe; die Kinder, mit denen er spielt, sind im Garten stehend zu denken und für die Zuschauer nicht sichtbar. Er ist außerordentlich lebhaft beim Spiel.)

Kinder (schreiend): Mir, Fritz, mir, mir!

Fritz: Hans kommt jetzt! (wirft) Ach du – du kannst ja nicht fangen! (Der Ball wird ihm wiederholt zugeworfen; er fängt ihn) Aber jetzt – aber jetzt – wer ihn kriegt! (Wirft den Ball mit einem kräftigen Schwung nach rechts in den Garten. Man hört die Kinder unter Geschrei dem Balle nachlaufen; Fritz bricht in ein lautes herzliches Gelächter aus. Dann plötzlich dreht er sich um, tritt in den Rahmen der Thür und ruft:) Papa! (Da er nicht gehört wird, ruft er noch einmal:) Papa!

Wöhlers (durch die Thür von links kommend): Nun, was ist denn los?

[85] Fritz: Ich glaube, der Herr Pastor kommt zu uns.

Wöhlers: Na, deshalb schreit man doch nicht so.

Fritz: Da ist er schon. (Will hinausschlüpfen, um die andere Seite der Treppe hinunterzueilen.)


2. Scene.
Pastor Meiling. Vorige

Pastor Meiling: Nun, Fritzchen, läuffst du vor mir davon? Willst du mir nicht die Hand geben?

Fritz (giebt ihm stumm und mit gesenktem Blick die Hand.)

Pastor Meiling: Nun, kannst du mich denn auch dabei ansehn?

Fritz (schnell und verwundert den Kopf hebend und ihn ansehend): Ja

Pastor Meiling: So. – Kannst du mir denn auch – (hereintretend und den Knaben an der Hand mit sich ziehend) Guten Tag, Herr Wöhlers!

Wöhlers: Guten Tag, Herr Pastor.

Pastor Meiling (wieder zu dem Knaben): Kannst du mir denn auch sagen, wer mir soeben den Ball an den Kopf geworfen hat?

Fritz (verwundert): Nein!

Pastor Meiling (gedehnt): Nein? So, ich dachte, du könntest es mir sagen. Der Ball kam doch von hier, vom Hause her.

Fritz (schnell): Dann hab’ ich es vielleicht gethan. Ich hab es aber nicht mit Willen gethan.

Pastor Meiling (zögernd): Nun – das will ich ja wohl glauben. So böse wirst du ja wohl nicht sein.

Wöhlers: Kannst du nicht vorsichtig sein? Geh hin und bitte den Herrn Pastor um Verzeihung.

[86] Fritz (weinerlich): Ich hab’s ja garnicht mit Willen gethan.

Wöhlers: Hast du gehört, was du thun sollst?

Fritz (geht zum Pastor, bleibt mit gesenktem Blick vor ihm stehen:): Ich bitte um Verzeihung. –

Wöhlers: Jetzt geh.

Fritz (springt wie erlöst davon; wie er auf dem Podest der Freitreppe ist, legt er die Hände an den Mund und schreit nach derber Knabenart): Hei – – – nrich, hi – – – er! (Schwingt sich über das Geländer der Treppe in den Garten.)


3. Scene.
Wöhlers. Pastor Meiling. Später ein Diener.

Pastor Meiling: Ich würde die Sachen natürlich garnicht weiter berührt haben, wenn ich nicht fürchtete, daß wir auf den Knaben ganz besonders acht haben müssen. Ich habe mit seinem Religionslehrer gesprochen, dem Kandidaten Schinkel, Sie kennen ihn ja – und der ist leider garnicht zufrieden mit ihm.

Wöhlers: So so. Er gehört aber doch immer zu den Besten.

Pastor Meiling: Ja, aber der Herr Kandidat will in seinen Stunden geradezu etwas wie – passiven Widerstand bei dem Jungen bemerkt haben. Ich fürchte sehr, daß wir da noch mit dem Einfluß Ihres Herrn Schwiegersohnes zu kämpfen haben.

Wöhlers: Bitte, Herr Pastor – wenn Sie mir einen Gefallen thun wollen, dann sprechen Sie nicht von „meinem Schwiegersohn“. Ich habe weder eine Tochter noch einen Schwiegersohn.

[87] Pastor Meiling: Nun – wir wollen ja doch den Gedanken einer Versöhnung nicht ganz von der Hand weisen. (Da Wöhlers eine abwehrende Bewegung macht) Lassen Sie mich nur ausreden. Ich habe Grund anzunehmen, daß Herr Behring durch die mancherlei Heimsuchungen, die ihm Gott geschickt hat, etwas mürber geworden ist. Der Allmächtige weiß noch immer so einen kleinen Menschentrotz zu brechen und auch die Verstocktesten seine Wege zu führen. Der Tod seines Kindes und die Krankheit seiner Frau – Sie wissen, daß seine Frau schwer krank liegt –

Wöhlers: Ja.

Pastor Meiling: Die Aufregung und der Schmerz um das Kind, die Sorge um sein Seelenheil, vor allem aber die Reue über ihr gottloses Thun hat sie wohl aufs Krankenlager geworfen. Nun, es wäre ein Wunder, wenn Herr Behring an den Früchten der „Aufklärung“ nicht bald den Geschmack verlöre, wenn er die deutlichen Winke Gottes nicht bald verstände, zumal er jetzt, wie ich weiß, von allen Mitteln entblößt ist.

Wöhlers: Nun – ? Und da soll ich etwa noch gar den gerührten Vater spielen und dem Lumpen, der all das verschuldet hat, unter die Arme greifen?!

Pastor Meiling: Nicht doch, nicht doch, Herr Wöhlers, das wäre eine sehr verkehrte, eine höchst unangebrachte Milde; Sie wissen, daß ich für solche gefährlichen Sentimentalitäten durchaus nicht zu haben bin. Aber wenn Herr Behring uns entgegenkäme, dann meine ich, sollten Sie ihn nicht zurückstoßen.

[88] Wöhlers: Der uns entgegenkommen? Ja, da kennen Sie ihn schlecht. Sie haben ja gesehen, wie frech er ist.

Pastor Meiling: Jaaaa – früher! Aber das sagt ja garnichts! Am Felsen der Kirche haben sich schon härtere und mächtigere Leute den Kopf eingerannt. Und – wie gesagt – zumal es ihm jetzt am Nötigsten gebricht. Und ich glaube Ihnen umso mehr zum Entgegenkommen raten zu sollen – natürlich immer vorausgesetzt, daß er sich unterwirft – als ich noch heute von Excellenz von Windstätten –

Wöhlers (lebhaft): Nun – ? Heute, sagen Sie, haben Sie mit ihm gesprochen?

Pastor Meiling: Heute Mittag.

Wöhlers (schnell): Und was sagt er?

Pastor Meiling (die Achseln zuckend): Ja – die Sache steht noch immer so, wie sie gestanden hat. Se. Hoheit der Herzog haben, wie immer bei Ernennungen und Dekorationen, so auch in Ihrem Falle die genausten Erkundigungen über die vorgeschlagene Persönlichkeit eingezogen und sind über das Ärgernis in Ihrer Familie – von dem er übrigens auch schon so gehört hatte – höchst indigniert gewesen. Seine Hoheit versteht nun einmal in Glaubensfragen keinen Spaß. Er würde sonst gegen Ihre Ernennung zum Commerzienrat und (mit Betonung:) gegen eine Dekoration nichts einzuwenden haben –

Wöhlers (ärgerlich): Aber ich kann doch nichts dafür, wenn meine Tochter mir davonläuft mit – mit so einem –

[89] Pastor Meiling: Ja, sehen Sie, das ist eben der Punkt, in dem der Herr Herzog seine eigenen Anschauungen hat. Er macht die Angehörigen solcher Verirrten verantwortlich für deren Abfall. In guten Familien soll so etwas nach seiner Meinung überhaupt ausgeschlossen sein. Das ist ja, wenn man will, eine Härte, ganz besonders in diesem Falle; aber andrerseits können wir froh sein, daß wir einen Landesherrn haben, der keine Gelegenheit vorübergehen läßt, sein Christentum zu bekunden. Wenn meine Erwartungen mich – (Es klopft.)

Wöhlers: Herein!

Diener (bringt auf einer Platte einen Brief): Ein Brief für den Herrn.

Wöhlers (stutzt, da er die Aufschrifft liest. Nachdem der Diener gegangen ist): Von Behring!

Pastor Meiling (lebhaft): Wirklich? Nun sehen Sie: was hab’ ich gesagt!

Wöhlers: Je nun: Sie wissen ja noch nicht, was drin steht.

Pastor Meiling: Haben Sie keine Sorge! Wenn der Ihnen erst einen Brief schreibt – nach dem, was vorgefallen – dann ist er auch für mehr zu haben.

Wöhlers (nachdem er gelesen): Er bittet um eine Unterredung.

Pastor Meiling: Nun also! (Froh erregt) Er wird Sie natürlich um Unterstützung bitten. Und er wird wohl nicht so naiv sein, zu glauben, daß Sie ihm die so ohne weiteres gewähren. Nun, da bleibt uns ja nur noch übrig, die Bedingungen zu formulieren.

[90] Wöhlers (ist nach der Thür gegangen und hat sie geschlossen. Sich umdrehend): Ich möchte nicht, daß meine Frau uns stört –

Pastor Meiling: Nun, ich denke, Ihre Frau Gemahlin wird doch ganz besonders erfreut sein, wenn das Hindernis aus dem Wege geräumt ist.

Wöhlers: Das wohl – aber – Sie wissen ja doch – auf das weibliche Gefühl kann man sich nie verlassen – es ist besser so. Ja – was wollen wir also – was werden wir von ihm –

Pastor Meiling: Nun, zunächst muß er selbstverständlich seiner Verbindung mit Ihrer Tochter die kirchliche Weihe geben lassen.

Wöhlers: Natürlich.

Pastor Meiling: Und ferner muß er sich ausdrücklich verpflichten, Sie in Zukunft weder durch Worte noch durch Handlungen in solcher Weise zu kompromittieren, wie er es gethan. Man könnte das noch bestimmter, klarer fassen – – na, und wenn er darauf bestände, – er wird sich natürlich sträuben und sperren; er wird – mildere Bedingungen haben wollen – nun dann – könnte man ihm ja eventuell gestatten, unter anderem Namen seine sogenannte Schriftstellerei weiter zu betreiben – d. h. wenn er es durchaus will; von vornherein würde ich diese Konzession aber nicht machen –

Wöhlers: O bewahre!

Pastor Meiling: Überhaupt, Herr Wöhlers, seien Sie fest – ja – ich darf wohl sagen: seien Sie hart; [91] denn das ist hier durchaus geboten – nachgeben – wenn Sie das denn schließlich wollen – können Sie noch immer.

Wöhlers (lächelt überlegen): Nun, Herr Pastor, die Ermahnungen brauchen Sie mir wohl kaum zu geben –

Pastor Meiling: Gut – umso besser also – (Es klopft.)

Wöhlers: Herein!

Diener (verlegen): Herr – Herr Behring ist da – ich wußte nicht, ob ich –

Wöhlers: Ich lasse bitten. (Der Diener läßt Wolfgang eintreten. Dieser macht in Erscheinung und Auftreten den Eindruck eines tief Deprimierten. Die Kleidung ist ersichtlich nur mit Not in passablem Zustande erhalten. Der Anblick des Pastors giebt ihm einen heftigen Ruck. Dann kalt gemessene Verbeugung des Pastors und Wolfgangs. Während Wöhlers den Pastor hinausbegleitet, bleibt er geduldig auf seinem Fleck stehen, in stumpfen Hinbrüten den Blick auf den Boden heftend.)

Wöhlers (zum Pastor, unbefangen, heiter): Also: es bleibt bei unserer Verabredung, Herr Pastor.

Pastor Meiling: Es bleibt dabei, Herr Wöhlers, und wenn Sie – (Das Übrige wird nicht mehr deutlich gehört; Wöhlers hat den Pastor auf die Freitreppe hinausgeleitet, wo sie noch einen Augenblick im Gespräch verweilen.)


4. Scene.

Wöhlers (zurückkehrend, nachdem er Behring mit einem kurzen Blick gemessen): Womit kann ich dienen?

Wolfgang (schnell): Ich komme nicht um meinetwillen, Herr Wöhlers. (Nachdrücklich) Ich erbitte nichts von [92] Ihnen für mich. Ich würde das nicht thun, auch wenn ich – wenn ich –

Wöhlers: Was soll das! Ich denke, wir ersparen uns alle überflüssigen Bemerkungen.

Wolfgang: Ich wollte Sie nicht verletzen. – Ich komme ja um meiner Frau willen, um Ihrer Tochter willen.

Wöhlers: „Um Ihrer Frau willen“; bleiben wir dabei.

Wolfgang: Meine Frau ist krank, todkrank – und ich – ich kann sie nicht sterben lassen – ich kann es nicht. –

Wöhlers (geht schweigend auf und ab.)

Wolfgang: Der Arzt will sie fortschicken – weit nach dem Süden – und das muß auch geschehen – (verzweifelt) das – das soll auch geschehen! – sie so ruhig sterben lassen – sie so mit sehenden Augen dem Tod überlassen – das kann ich nicht. (Ist auf einen Stuhl gesunken, hält die Hände zwischen den Beinen gefaltet und starrt auf den Boden.)

Wöhlers: So. – Also sind Ihnen doch wohl schließlich Zweifel gekommen an Ihrer „Überzeugung“!

Wolfgang (ohne aufzublicken, langsam, wie sinnend): Ja – ja – mir sind Zweifel gekommen – wer zweifelt denn nicht vor dem Geheimnis des Lebens – – Der Glaube ist ja auch nur so ein Zweifel – vor diesem Geheimnis – –

Wöhlers: Halten wir uns nicht mir Redensarten auf. Sie wünschen Geld.

Wolfgang (schnell): Ja, ja Geld! Für meine Frau!

[93] Wöhlers: Schön. Sie werden sich ja auch gesagt haben, daß ich Sie nur unter ganz bestimmten Bedingungen untertützen werde.

Wolfgang (mechanisch): Unter ganz bestimmten Bedingungen. Ja – so etwas mußte ich mir wohl sagen. Also so ohne weiteres würden Sie nicht das Geld hergeben.

Wöhlers (schlägt ein kurzes Gelächter auf).

Wolfgang (schnell, beschämt): Ach nein – entschuldigen Sie – bitte – entschuldigen Sie. Ich dachte nur so – (plötzlich lebhaft und warm) Aber es ist doch Magdalene! Es handelt sich doch um Ihre Tochter!

Wöhlers: Um Ihre Frau, meinen Sie. Allerdings soll man sich keine Frau nehmen, wenn man sie nicht ernähren kann. Aber nach den „neuen“ Begriffen von der Ehe existiert ja wohl diese Verpflichtung nicht.

Wolfgang (ausbrechend, in furchtbarer Wut): Ihr habt mich ja ausgehungert, ihr Hallunken – ihr habt mir mein Brot gestohlen, ihr Gauner – – !

Wöhlers (nach dem Tisch schreitend, auf dem eine Klingel steht): Herr – wenn Sie nicht augenblicklich –

Wolfgang (abwehrend): Nein nein – nein – nein – – verzeihen Sie – ich will Sie ja nicht beleidigen – ich – Sie müssen mich entschuldigen – ich bin seit einiger Zeit – – mein Kopf, wissen Sie – mein Kopf – seh’n Sie – ich bin etwas verwirrt – (läßt sich wieder auf den Stuhl nieder und preßt die Stirn in die Hand. Dann sich zusammenraffend:) Also: Ihre Bedingungen.

[94] Wöhlers: Ich erwarte zunächst –

Wolfgang: Aber ich habe mir’s ja schon selbst gesagt. Sie erwarten, daß ich mich trauen lasse – vom Pastor.

Wöhlers: Allerdings. Es kommt darauf an, ob Sie das wollen.

Wolfgang (gelassen): Ja.

Wöhlers (erleichtert): Nun gut. Außerdem muß ich verlangen –

Wolfgang: Ach lassen Sie doch das! – Ich glaube gar, Sie haben erwartet, ich würde mich aufs Handeln legen. Wenn ich mich verkaufe, so verkaufe ich mich doch. Dann kriech’ ich auch in die Hundehütte und bewach’ Ihnen das Haus.

Wöhlers: Ich muß verlangen, daß Sie uns nicht mehr kompromittieren durch Ihre Agitationen – weder durch Reden noch durch Schriften oder sonst was.

Wolfgang: Aber – hahahaha – wie komisch! Das hört doch alles von selbst auf, wenn – denn nachher – nachher –

Wöhlers: Nun, dann bin ich zufrieden gestellt. Welche Thätigkeiten Sie später ergreifen können, darüber läßt sich dann ja noch reden.

Wolfgang (mit Galgenhumor): Ja ja ja ja – daran wollen wir noch garnicht denken – daran – (schnell:) Übrigens – wenn ich Sie aufmerksam betrachte, so scheinen Sie mir noch lebhafter interessiert an der ganzen Sache, als ich gedacht habe. (Mit schneidender Ironie:) Vielleicht war die „Nachfrage“ fast so lebhaft wie das „Angebot“? Da hab’ ich am Ende [95] meine Chancen nicht einmal ausgenutzt! Schade drum! Aber Sie werden mich trotzdem von jetzt ab als Ebenbürtigen schätzen – ich habe ja ein Geschäft mit Ihnen gemacht. (Will gehen. In diesem Augenblick hört man die im Garten spielenden Kinder lärmend näherkommen.)


5. Scene.

Fritz erscheint auf der Treppe, trägt mit großem Stolze ein kleines Spielgewehr. die Vorigen.


Fritz (auf der Treppe, mit kindlichem Pathos zu den Kindern): Ich bin der große Kaiser Napoleon, und ihr seid meine Soldaten; ich will euch –

Wolfgang (der seine Bewegung nicht mehr bemeistern kann, schreiend): Fritz, Fritz!

Fritz (wendet sich schnell, läßt die Flinte fallen und hängt im nächsten Augenblick am Halse Wolfgangs): Onkel Wolf, Onkel Wolf! – Willst du jetzt wieder bei uns sein? Willst du mit uns spielen? Willst du mir wieder Geschichten erzählen?

Wolfgang (zusammenfahrend, indem er den Knaben läßt): Vielleicht – vielleicht – ich will sehen – (hastig nach der Hand des Knaben tastend, ohne sie zu finden) Adieu, adieu! (und hinausstürzend.)

Fritz (ihm erstaunt nachblickend, dann sich zu Wöhlers wendend): Was fehlt denn Onkel Wolf?

Wöhlers (hat sich inzwischen an einen Tisch links gesetzt und zu schreiben begonnen).

(Der Vorhang fällt schnell.)


[96]
5. Akt.

Andere Wohnung Behrings. Comfortable, elegante Ausstattung. Rechts vorn derselbe Schreibtisch mit demselben Stuhl wie in den beiden vorhergehenden Akten. Links vorn ein großer Trumeau.


1. Scene.
Magdalene ruht in einem Fauteuil links. Dr. Scharff steht vor ihr.

Scharff: Haben Sie noch Kopfschmerzen?

Magdalene: Nein.

Scharff: Können Sie schlafen?

Magdalene: Ja.

Scharff: Und der Appetit?

Magdalene: Gut.

Scharff: Nun, dann hat ja alle Not ein Ende. Vor drei Tagen waren Sie noch etwas angegriffen von der Reise. Heute sehen Sie so blühend aus, als wären Sie niemals krank gewesen. Und das habe ich zu stande gebracht. Ich fange an, an meine Kunst zu glauben. Und das will was sagen.

Magdalene: Sagen Sie, Herr Doktor – war ich wirklich so schwer krank?

Scharff: Warum fragen Sie das?

Magdalene: Nein, antworten Sie mir erst.

Scharff: Nun, meine Gnädigste, Sie waren – jetzt darf man’s Ihnen ja sagen – Sie waren immerhin so krank, daß niemand an Ihr Aufkommen glaubte. Und selbst als die Lebensgefahr beseitigt war, glaubte ich nicht, daß Sie jemals wieder ganz gesund werden würden. Aber die Nachkur in Misdroy hat, wie ich sehe, geradezu Wunder gewirkt.

[97] Magdalene (nachdenklich): Dann war also auch diese Reise nicht zu vermeiden?

Scharff: Gewiß nicht. Aber wie kommen Sie auf diese Frage?

Magdalene: Sie ist uns etwas teuer geworden, diese Reise.

Scharff: Aber hören Sie! Fangen Sie mir nun nicht an, unser Werk wieder zu schanden zu machen. Ich dächte, Sie hätten alle Ursache, sich Ihrer Gesundheit zu freuen. In diesem behaglichen – prächtigen Heim –

Magdalene: Ja, – dieses behagliche, prächtige Heim – es gehört auch dazu.

Scharff: Wozu?

Magdalene: Zu dem Kaufpreis.

Scharff: Zu dem –? Hm – das verstehe ich nicht.

Magdalene: Ich glaube, Sie verstehen mich doch. – Jedenfalls sollen Sie mich verstehen! (Unruhig:) Ich muß es jemand anvertrauen; ich kann die Angst nicht mehr allein mit mir herumschleppen. Sie sind Wolfgang’s Freund – Ihnen darf ich es sagen.

Scharff (verlegen): Wenn ich Ihnen von Nutzen sein kann, Sie wissen –

Magdalene: Wolfgang hat – um meinetwillen – um mich vom Tode zu retten – seine Ehre, seine Überzeugung – ach – ich kann es nicht aussprechen, das abscheuliche Wort.

Scharff: Aber ich bitte Sie – um des Himmels willen –

Magdalene: Hören Sie mich. Sie wissen ja doch: als unser kleiner Richard starb – und ich gleich [98] darauf so krank wurde, waren wir von allen Mitteln entblößt. Und meine Krankheit hat viel, viel Geld gekostet.

Scharff: So viel leider, daß ich armer Lump Ihrem Mann nicht den zwanzigsten Teil davon geben konnte.

Magdalene: Meine Eltern haben das Geld hergegeben.

Scharff: Ihre Eltern. Ich hab’ es mir gleich gedacht.

Magdalene (bitter): Aber nicht umsonst. Sie verlangten – Pastor Meiling stand dahinter – daß Wolfgang sie nicht länger durch seine ärgerniserregenden Schriften kompromittiere, daß er in Zukunft schweige, und vor allem, daß wir uns von einem Geistlichen trauen ließen.

Scharff (schnell): Und Behring ging darauf ein?

Magdalene: Sehen Sie – wie erstaunt Sie nun selbst fragen! Und Sie haben seine Festigkeit so oft verspottet!

Scharff (schweigt betreten).

Magdalene: Er ging natürlich nicht sogleich darauf ein. Er ging zu Geldverleihern – zu Wucherern – aber er konnte keine Bürgen stellen –

Scharff: Ich weiß, ich weiß. Ich konnte ihm nicht einmal Bürgen verschaffen. Ich habe selbst Schulden – und meine Praxis hier bietet noch immer keine Aussichten. Ich werde anderswo hin übersiedeln müssen. –

Magdalene: So mußte er sich demütigen.

Scharff: Wie erträgt es Ihr Mann?

Magdalene (laut aufweinend): Ach, das ist ja das Schreckliche! Es vernichtet ihn. Doktor, dieser starke, [99] sonnenklare Charakter – vernichtet, gebrochen –, gebrochen um meinetwillen, die ihn im schwersten Augenblicke so erbärmlich verlassen hat!

Scharff: Aber Ihre Eltern werden die Sache ja so ernst nicht nehmen –

Magdalene: Meinen Sie? Und wenn sie sie nicht ernst nehmen, er nimmt sie um so ernster, das können Sie mir glauben. Ich wollte ihn abhalten, die Trauung vollziehen zu lassen – und was antwortet er?

Scharff: Nun?

Magdalene: „Wir dürfen den Kaufkontrakt nicht brechen“. Und unmittelbar nach der feierlichen Einsegnung sandte er – eingeschrieben! – das kirchliche Attest hierher. – Jetzt, Herr Doktor, stehen wir unter dem Segen Gottes – und unter dem Fluch der Lüge. (Plötzlich auflachend) Haha! Als wir zurückkamen, führte man uns in dieses Haus, das meine Eltern uns ausgestattet haben. Mein Vater – er ist übrigens jetzt Kommerzienrat – erklärte mir, er könne es um seinetwillen nicht dulden, daß wir in unsere ärmliche Wohnung zurückkehrten. (In Thränen ausbrechend): Mein Wolfgang, mein armer, armer Wolfgang!

Scharff: Meine teuerste, liebste Frau Behring – Sie dürfen sich nicht aufregen –

Magdalene: Noch keine ruhige Minute hat er in diesem Hause gehabt. Eine entsetzliche Unruhe scheint ihn zu martern – erst heute morgen schien er plötzlich gefaßt, – er hat die ganze Nacht nicht geschlafen – [100] es ist, als ob er einen Entschluß gefaßt hätte – und das ängstigt mich doppelt. – Bester Herr Doktor, stehen Sie mir bei – helfen Sie mir ihn beruhigen – (Man hört draußen sprechen.)

Scharff: Still – ich höre ihn kommen.


2. Scene.
Wolfgang. Stein. Die Vorigen.

Wolfgang: Moign, Scharff. Nun, wie steht’s mit meiner Frau?

Scharff: Ausgezeichnet.

Wolfgang: Nehmen Sie Platz, Herr Stein.

Stein: Morg’n Frau Behring. Morg’n, Herr Doktor.

Wolfgang: Unser Herr Stein hat leider einen schweren Verlust erlitten. Gestern abend ist ihm seine Frau gestorben.

Magdalene: Ah – mein herzliches Beileid!

Wolfgang (hat ein Kästchen aus der Rocktasche genommen und in seinen Schreibtisch verschlossen. Magdalene beobachtet ihn. Wolfgang wendet sich wieder zu den Übrigen.) Ja, Herr Stein, Sie haben da eine brave Frau verloren – Sie wollten mir von ihrem Ende erzählen –

Stein: Ja ja, das wollt’ ich – also – Sie wissen ja woll schon, daß ich verurteilt bin –

Alle: Verurteilt?

Stein: Ja, zu drei Monat Gefängnis – ja.

Magdalene: Aber weshalb denn?

Stein: Wegen Gotteslästerung! Ich soll in der Freidenker-Versammlung, die wir neulich hatten, was Unehrerbietiges über die Religion gesagt haben – un das habn die Herrn für Gotteslästerung angesehn.

[101] Wolfgang: So.

Stein: Ja, was meinen Sie woll, Herr Behring, wieviele Leute – das heiß: von denen (auf die Stirn deutend:) die man überhaup mitzählen kann – wieviele solltn woll noch da an glaubn, was in ’n Katekismus steht –

Wolfgang: Mein lieber Herr Stein –

Stein: Nein, erlaub’n Sie mal! Ob die Herrn, die da nun so gesess’n hab’n – un un un – un über mich gerichtet hab’n – ob die woll noch alles so ganz fest glaub’n, was in ’n Katekismus steht?

Wolfgang: Ich will Ihnen etwas sagen, lieber Herr Stein – wenn man gewissen Leuten, die heutzutage im Lande das Wort führen und ehrlichen Leuten das Leben schwer machen – wenn man ihnen (mit plötzlicher nervöser Heftigkeit) so den Finger in’s Herz bohren könnte und zeigen: Da, da, da sitzt ja der brandige Fleck – da ist ja die Stelle, wo du lügst, du Schuft – heraus mit deinem Christentum – da – hier auf den Tisch damit – da, da, da! – Hahahahaha! Was für Christentümer, mein lieber Freund, was für Christentümer!

Magdalene und Scharff (wechseln besorgte Blicke.)

Stein: Ich weiß es ja von meinem Vetter – ich hab’ nämlich ’n Vetter in Berlin, der Rechtsanwalt is – ja – der kennt auch den Herrn Staatsanwalt, der die Anklage gegen mich führde – ja – wenn die Herrn jung sind – die Herrn Studenten, die machen beim Bier Witze über den heiligen Geis – un nachher stürzen sie brave Leute damit in’s Unglück.

[102] Wolfgang (in größter Erregung) Seht – ihr alle – – Scharff – Magdalene – Herr Stein – kommt her – ich will euch eine Predigt halten! (Er steht hinter seinem Stuhl, die Hände auf die Lehne gestützt) Ihr habt gehört, daß zu den Alten gesagt ist: Die größte aller Sünden, das ist die Sünde wider den heiligen Geist. Wer das Heil erkennt und ihm dennoch widerstrebt, der sündigt wider den heiligen Geist. Und diese Sünde ist so groß und schwer, daß sie ihm niemals vergeben werden kann. Ich aber sage euch: Die größte Sünde stinkt heut aus allen Ecken. Noch ist ja der heilige Geist in den Menschen lebendig. Unsere Zeit hat von ihm empfangen, und in ihrem Schoße keimen neue Götter. Ha, wie sie die Glieder recken und dehnen – sie wollen ans Licht – ach, uns allen glimmt ja verborgene, ahnungsreiche Seligkeit im Herzen. Aber unsere Zeit ist ein gemeines, feiges, gefallsüchtiges Weib; sie mag nicht gebären, sie fürchtet die Schmerzen, sie fürchtet für ihre Schönheit, – hahahaha, (mit schneidendem Hohn) sie fürchtet für ihren Ruf! Und sie schnürt sich den Leib mit ledernden Lügen, damit sie die köstliche Leibesfrucht ersticke und damit sie aller Welt ihren ehrbar glatten, schlanken Leib zeigen könne. Die ewig neu sich gebärende Natur ist ja gemein! Also töten wir, ersticken wir, was sich rebellisch regen will. Wahrlich, ich sage euch: Die hündische Feigheit, daß wir nicht sagen: Ich glaube, was ich glaube, daß wir unsern Gott dreimal verleugnen [103] vor Goldknechten und Lumpen: das ist die Sünde wider den heiligen Geist, und – beim Himmel – sie ist so schwer und groß, daß sie niemals vergeben werden kann, niemals – (indem er heftig weinend am Tische zusammenbricht) niemals!

Magdalene (eilt besorgt zu ihm hin): Wolfgang – Wolfgang! Was ist dir? Wollen wir nicht lieber das Gespräch abbrechen, Herr Stein – Herr Behring ist so aufgeregt. –

Wolfgang: Nicht doch – nicht doch – Unsinn! Laß nur gut sein; ich bin schon wieder – ich habe wohl zu wenig geschlafen diese Nacht – – Erzählen Sie weiter, Herr Stein, Sie wollten von Ihrer Frau erzählen.

Stein: Ja – also meine Frau sollte ja von der Sache nix erfahren; sie war schon zu schwach, wissen Sie, sie konnte das nich vertragn. Sie hat sons allns – allns mit mir ausgehalt’n – du lieber Gott, was hab’n wir beiden Menschenkinder mit’nander durchgemacht! Sie müssen nämlich wissen, früher war ich mal sehr fromm, ich war nämlich gans fromm erzogen: Zweimal sonntags in die Kirche war mir noch nich genug; ich ging noch zu Betstunde – un zu Andach – un zu Gott weiß was nich allns. Also gut: da fällt mir eines schönes Tags ’n Buch in die Hände, das behandelt die Theorie von der Entstehung des Sonnensystems, wissen Sie, un rech so einfach un klar, wie das für mein’n dummerhaftigen Kopf paßte. Na, meine Herrschaft’n – sowas – das stimmt ja nu nich [104] mit der Bibel. Ich las un las immer weiter – un las denn nu ja auch andere Bücher – lesen hatt’ ich immer schon gern gemocht – un als denn nu ers so ein Stein lose gewordn war, da, meine Herrschaft’n, da brach denn auch eines schönen Tags der ganse Kram zusammen! Na also gut: nu wollt ich ja meine Kinder nich mehr taufn lassen. Das Leb’n hättn Sie sehn soll’n! Seit dem Momang hatt ich nu nix – aber auch rein gaanix mehr zu thun. Wir hatt’n schließlich nich mehr das liebe Brot im Hause. Aber nachgeb’n wollt’ ich nich. E’er bind’n wir uns alle ’n Stein um ’n Hals un gehn ins Wasser: Das hatt’ ich mir zugeschwor’n.

Scharff: Und was sagte denn Ihre Frau dazu?

Stein: Meine Frau war auch gans einig mit mir, jaa – (zu Magdalene:) gans einig. Na, ’n Zeitlang konnt’ ich das noch mit anseh’n; denn mein Vetter aus Berlin schickte mir was; aber das konnte ja auch nich ewig so gehn. Nu wurdn unse Kinder krank – un da verlorn wir – ja da habn wir in Zeit von nich ganz ’n Vierteljahr vier Kinder verlorn. Ja, da könn’n sich denken, was das für ’ne Zeit war für meine arme Frau. Aber sie hat den Kopf hochgehaltn, – jaa – das hat sie! „Hannis“ hat sie gesagt, „mach’ du dir man keine Vorwürfe; laß die sich Vorwürfe machen, die da Schuld an sind. Wenn es ’n lieben Gott giebt, dann will er auch gewiß nich, daß wir scheinheilige Heuchler sein sollen.“ Sie konnte das mit so ’ner [105] weichn Stimme sag’n – (zu Magdalene:) so friedlich – so – sie war überhaup die beste Frau, die man sich denken kann. Na, schließlich sind wir denn gans aus ’m Holstein’schen weggezogen un hierher. Ja – richtig – das hätt’ ich beinah vergessen; nu wollt’n sie unse Kinder natürlich nich „ehrlich“ begrabn, un da habn sie sie auch richtig an der Kirchhofsmauer eingescharrt.

Wolfgang: Das geschah, damit Sie einen besseren Begriff bekämen von der Nächstenliebe.

Stein: Ja, das scheint beinah so. Na, den Mund hab’ ich hier ja nu auch nich haltn können, das hab’n Sie ja gesehn. Wie nu die Anklage gegen mich kam – sechs so große Seitn – da kriegt meine arme Frau ja ’n heillosen Schreck. Da hab’ ich ihr zugeredet un immer so gethan, als wenn ich so rech leichsinnig un froh war: „He, mir könn’n sie gaanix anhab’n“ un „Ich bin ja auch nich auf’s Maul geschlag’n“ un „du soll’s mal sehn, daß sie mich freisprechn“ un was man denn so sagt. Ich hab’s aber selbs nich geglaubt. (Halb für sich:) Ja – das war ’ne schwere Zeit. Na also gut: sie wurde gans ruhig, un den Termin hatt’ ich ihr gans verschwiegen; sie lag ja immer im Bett. (Erregt:) Da muß so’n verdammtes Weib aus der Nachbarschaff – (wieder ruhiger:) Na, sie hat sich ja auch nix Schlimmes dabei gedacht – die Leute sind ja zu dumm – da muß so’n Frauenzimmer ihr die Zeitung bring’n, wo die ganse Geschichte insteht. „Mein Gott, Frau Stein, das is [106] doch nich Ihr Mann?“ Na – da hatten wir ja nu die Geschichte! Fürchterliches Blutspucken un – un was nich alles. Nachher – da lag sie denn nu da, blaß wie der Tod, un – un streichelte mir immer so über die Hand – meine Hand durft ich gaanich wegnehmen – un sagte: „Mein armer Hannis, wie solls du das bloß aushalt’n; du bis ja auch man schwach – du lieber Gott: drei Monat! Aber – verlier man nich den Mut, hörs du?“ Das hat sie woll drei, viermal gesagt: „Verlier man nich den Mut“, un denn war sie gans still – un als ich nachsah – da war sie tot. (Er hat die letzten Worte mit thränenerstickter Stimme gesprochen. Längere Pause.)

Scharff (geht zu Stein und reicht ihm die Hand): Ich habe Ihre Frau während ihrer Krankheit kennen gelernt, Herr Stein, sie war die bravste Frau und liebevollste Mutter, die mir je begegnet ist. Ich kanns bezeugen.

Stein (innig): Ja – ja – danke, Herr Doktor – dafür, dafür danke ich Ihnen (Scharff die Hand schüttelnd:) Aber daß die drei Monat – daß die ihr noch die letzte Stunde verbittert haben – (auf die Brust klopfend:) das sitzt mir hier – un das will nich weg! – Un nu will ich Ihnen auch sagn, Herr Behring, warum ich auch noch hauptsächlich zu Ihnen gekommen bin. Wir hab’n also ’n Freidenkerbund gebildet un habn beinah schon hundert Mitglieder. Wir lassen unse Kinder nich taufn – un nich konfermiern un wir lassen uns nich von’n Paster [107] traun wir treten überhaup aus der Landeskirche aus. – Dazu habn wir ja das Rech! – Na ja. – Nu soll ich Sie aber, Herr Behring, in Auftrage aller Mitglieder bitt’n, daß Sie das Präsidium übernehmen möchtn.

Wolfgang: Herr Stein –

Stein: Erlaubn Sie mir noch’n Augenblick. Also wir wissen ja aus Ihren Schriften un Reden, daß Sie unser Mann sind. ’n Mann wie Sie müssen wir habn. Sie können unsern Gegnern die Sache gelehrt – oder vielmehr: wissenschaftlich aus’nandersetzen. Un ’n vorzüglicher Redner sind Sie ja auch. Aber die Haupsache is: Sie sind’n Mann, wovor jeder den Hut abnehmen muß.

Wolfgang (in größter Verwirrung): Mein lieber Herr Stein –

Stein: Sie glaub’n gaanich, Herr Behring, mit welcher Hochachtung un welchen Vertraun wir auf Sie blicken. Da solln unse Gegner mal kommen, Frau Behring, un Ihrem Herrn Gemahl was anhabn wolln –

Wolfgang (dessen Aufregung auf’s höchste gestiegen ist): Hmm – Magdalene – willst du nicht –

Scharff (der einen Blick Magdalenens aufgefangen hat): Herr Stein, ich bedaure, das Gespräch unterbrechen zu müssen; ich muß mich verabschieden. Gehn Sie mit? Ich glaube, Sie kommen lieber ein anderes Mal mit Ihrem Ersuchen. Herr Behring scheint heute nicht –

Wolfgang: Ich will mit Herrn Stein sprechen – ja – ich muß mit Herrn Stein sprechen.

[108] Scharff: So – das ist etwas anderes – Adieu – Behring – Herr Stein – – gnädige Frau – (ab.)

Magdalene (geht nach links ab, wirft an der Thür noch eine ängstlichen Blick auf Wolfgang.)


3. Scene.
Wolfgang. Stein.

Wolfgang (in heftiger Bewegung das Zimmer durchmessend): Herr Stein!

Stein (der sich verwundert umgeblickt hat): Herr Behring?

Wolfgang: Ich kann Ihr Präsident nicht werden.

Stein: Nein? – Un – un warum nich?

Wolfgang (vor ihm stehen bleibend): Weil eines Tages Ihre Vereinsgenossen mich von der Tribüne herunterpfeifen und mit Schimpf und Schande aus dem Saal treiben würden.

Stein (schweigt in höchstem Erstaunen.)

Wolfgang: Ha, es ist lächerlich – Ich muß ja überhaupt schweigen. Man hat mein Schweigen erkauft, Herr Stein. Damit Sie es wissen.

Stein: Erkauft –?

Wolfgang: Ooh – für Geld kann ich noch mehr. Ich habe sogar meine Zugehörigkeit zur Kirche noch vor kurzem aufgefrischt – dadurch, daß ich mich von einem Geistlichen habe trauen lassen. Ja, – was sagen Sie nun?

Stein: Herr Behring – jetz weiß ich nich – was ich sagen soll.

Wolfgang: Ja, jetzt spuckten Sie gern vor mir aus, wie? Wenn das hier nur nicht eine so verdammt [109] vornehme Stube wäre! Es ist garnicht zu glauben, was für einen vornehmen Anstrich das Geld giebt. Da, sehen Sie mal, diese feinen Möbel. Da legt man sich nun so lang darauf hin, die Havannah im Munde und liest die Zeitung. Und dann sieht man nach, ob die Lüge noch immer 293½ steht und ob die Wahrheit noch immer niedriger steht als die Türkenlose. Und dann freut man sich, daß man die schlechten Papiere nicht hat.

Stein: Ich verstehe garnicht –

Wolfgang (ihn überhörend): Hier, diesen ehrlichen Schreibtisch und diesen braven Stuhl – die hab’ ich mir schnell herbeischaffen lassen aus unsrer alten Wohnung; – wenn ich hier sitze, (tief schmerzlich:) dann habe ich noch einen Rest von dem alten, behaglichen Reinlichkeitsgefühl.

Stein: Aber wie war denn das alles nur möglich, Herr Behring?

Wolfgang: Das will ich Ihnen sagen. Meine Frau wurde krank, todkrank, damals, als unser Junge eben gestorben war. Ich glaubte mir Vorwürfe machen zu müssen, daß ich mit schuld sei an ihrer Krankheit – jetzt weiß ich besser, wann man sich Vorwürfe zu machen hat. Ich brauchte Geld, unmäßig viel Geld. Na – und mein Schwiegervater war so liebenswürdig.

Stein: Das – das erklärt ja freilich manches –

Wolfgang: Ja, nicht wahr? Das entschuldigt sogar gewissermaßen. Das entschuldigt sogar sehr viel. Und nun sehen Sie mich an, Herr Stein. Wenn [110] ich nun auch nicht schweigen müßte – würden Sie mich zu Ihrem Präsidenten haben wollen?

Stein (zuckt hülflos die Achseln).

Wolfgang: Heraus damit, ja oder nein.

Stein (nach verlegenem Zögern): Nein, Herr Behring.

Wolfgang (sinkt vernichtet in seinen Stuhl): Nein. – Natürlich nicht. – Und vor einem Jahre, Mensch, hatt’ ich ein Gefühl in der Brust, daß ich die Menschheit anführen könne gegen alle Götter und Teufel – und mit diesen meinen Händen hätt’ ich den erwürgt, der mir in’s Gesicht gesagt hätte, ich sei nicht anständig genug, um ehrenwerte Männer anzuführen. Aber Sie – Sie haben nichts von mir zu fürchten – (weinend vor Wut:) ich thu Ihnen garnichts, sehn Sie – garnichts – garnichts! – (Pause.)

Stein: Herr Behring – – es thut mir so furchtbar leid um Sie – – – aber ich weiß nich, womit ich Sie trösten soll –

Wolfgang (ist aufgesprungen, giebt ihm die Hand): Lassen Sie’s gut sein, Herr Stein, ich werde mich schon selber trösten.

Stein: Na – adieu, Herr Behring.

Wolfgang: Adieu, Herr Stein.

Stein (umkehrend): Wenn Sie meine Frau noch mal sehn wolln, Herr Behring –

Wolfgang (abwesend): Ihre Frau? (Sich besinnend:) Ja so – ich – ich komme bald nach.

Stein: Schön. Adieu, Herr Behring.

Wolfgang: Adieu.

[111]
4. Scene.
Wolfgang. Gleich darauf Magdalene.

Wolfgang (nimmt aus einem Fach des Schreibtisches einen Revolver und prüft ihn. Als Magdalene eintritt, wirft er ihn schnell in das Fach zurück.)

Magdalene (auf ihn zukommend und die Hände auf seine Schulter legend, freundlich): Wolfgang – was verbirgst du da vor mir?

Wolfgang: Ich verbergen? Oh – nichts – ein unangenehmer Brief – der dich nicht interessiert – nichts von Bedeutung. – Willst du nicht ausgehn?

Magdalene (indem sie sich schmeichelnd zu seinen Füßen niederläßt): Ja – wenn du mit mir gehen wolltest.

Wolfgang (verwundert): Ich? Ich kann leider nicht – ich habe noch zu thun –

Magdalene: Was denn?

Wolfgang: Was denn? (Mit gezwungenem Lächeln:) Was du heut’ alles fragst!

Magdalene: Wolfgang!

Wolfgang: Nun?

Magdalene: Liebst du mich noch?

Wolfgang: Hm – wie kannst du nur so fragen! Natürlich!

Magdalene: „Natürlich“? So antwortet man nicht. (Sie schmiegt sich eng an seine Kniee, das Gesicht nach dem Spiegel gewendet) Sag’ mir – sag’ mir’s mit so recht heißen, innigen Worten, daß du mich noch liebst!

Wolfgang (mit erkünstelter Wärme): Ich liebe dich unaussprechlich – ganz ohne alle Grenzen!

[112] Magdalene (gleich darauf, mit einem Aufschrei): Wolfgang! Ich sehe dein Gesicht!

Wolfgang (aufspringend): Was siehst du?

Magdalene: Dein Gesicht – im Spiegel – wie ich es alle diese Tage gesehen habe – alle diese Wochen – wenn du mir Liebe beteuertest – in deiner Stimme habe ich dein Gesicht gesehen (mit wildem Jammer) Wolfgang, Wolfgang, du liebst mich nicht mehr!

Wolfgang (sinkt kraftlos, wie von einer furchtbaren Anstrengung erschöpft, in den Stuhl.)

Magdalene (vor ihm knieend): Ach diese Verzweiflung, diese unsäglich müde Verzweiflung in deinen Zügen!

Wolfgang (eifrig): Ja ja – – müde, nicht wahr? Müde – – – Ich bin das Lügen noch nicht ganz gewohnt – es ist angreifend.

Magdalene (mit starren Blicken ihn erforschend): Wolfgang – also wirklich – wirklich: Du liebst mich nicht mehr?

Wolfgang (sanft, mit tiefem Mitleid den Kopf schüttelnd): Nein. –

Magdalene (schnell): Aber das kann ich nicht fassen, Wolf – das ist ja nicht möglich – dann bin ich ja ganz verlassen – (noch schneller) Sieh, ich will dir ja alles Liebe thun – du weißt ja nicht, wie ich dich liebe – ich will dir eine bessere Gefährtin sein – als ich gewesen bin – ich fühle und denke ja ganz so wie du – ich war ja so verblendet, so verwirrt – (immer eindringlicher) Sieh Wolf, was du glaubst, das glaube ich auch – ich weiß es ja: es ist alles so schön und so wahr und so richtig, was du denkst –

[113] Wolfgang: Jahahaa – „Wenn Gott mit mir sein will und mich behüten will auf dem Wege, den ich reise, und Brot zu essen geben und Kleider anzuziehen, so soll der Herr mein Gott sein.“ Wenn er aber nichts hergiebt, dann hat er sich auch von mir nichts zu versehen, und ich werf ihn wieder in die Rumpelkammer. Menschen, Menschen, wo nehmt ihr nur den Mut her! An euren Jehovah nicht zu glauben, was braucht’s da für Courage – aber mit ihm zu schachern – dazu gehört ein erstaunlicher Mut! Dazu wäre er mir doch zu ehrwürdig. (Magdalenes Kopf zwischen seine Hände nehmend:) Menschenkind, wenn die Angst noch etwas in dir aufgewühlt hätte – wenn du noch einen Kampf gekämpft hättest, der im Drunter und Drüber etwas ans Licht geworfen hätte, was sich sehen lassen kann: so etwas wie einen neuen Glauben, und wäre er noch so blind und befangen – aber es ist nichts gewesen: ein bißchen Nervengethue – ein bißchen hysterischer Zufall. (Er ist aufgestanden; Magdalene hockt schweigend am Fußboden.)

Wolfgang (nachdem er ein paarmal das Zimmer auf- und abgeschritten, bei ihr stehen bleibend:) Weib – und um deinetwillen habe ich mich zu dem gemacht, was ich bin, um deinetwillen habe ich die Menschheit in mir besudelt. (Nahe ihrem Ohr:) Hast du jemals gehört von den Frauen, die ihren Leib, ihre Reize, ihr Schamgefühl verkaufen für Geld? Die die zärtlichsten, süßesten Gefühle beschmutzen mit dem Unrat Geld? Sieh, was diese Frauen [114] sind, das ist ein Mann, der seine Überzeugung verkauft, das bin ich.

Magdalene (schlägt die Hände vors Gesicht und bricht in krampfhaftes Schluchzen aus.)

Wolfgang (mit ihrem Haar spielend): Ach, wenn es noch ein Zurück gäbe aus diesem Elend! Ihnen das Geld vor die Füße werfen, doppelt, dreifach, da, da, da! – Aber das ist die Geschichte vom Judas. (Wie träumend): Er brachte die 30 Silberlinge den Priestern und rief: Es reut mich, daß ich unschuldig Blut verraten habe. Sie aber sprachen: „Was gehet das uns an. Da siehe du zu.“ (Mit furchtbaren Hohnlachen:) Hahahahaha! Was geht das uns an! Da siehe du zu! – Und er warf die Silberlinge in den Tempel und ging hin und erhenkte sich selbst. – (Pause.)

Magdalene (erhebt sich mit einem plötzlichen Entschluß. Sie erscheint verändert; ihre Züge sind bleich, aber von festem Ausdruck): Wolfgang – ich sehe, daß es kein Zurück giebt. (Mit rasender Leidenschaft:) Aber ich will, daß du mich liebst – (ruhig:) und du wirst mich lieben. Ich habe dich entehrt – laß mich zu Ende reden: ich habe dich entehrt. Wäre ich die Frau gewesen, die ich dir versprach – es wäre alles anders gekommen – und wär’ es so gekommen, du hättest mich sterben lassen und hättest dich aus deinem Schmerze größer, stärker, mutiger wieder erhoben. – Aber ich hatte dich verwirrt; ich hatte dich im Stich gelassen in der größten Not. Du hast mein Leben erkauft – dir gehört es – und dir will ich es geben. (Sie geht an den Schreibtisch und öffnet das Schubfach.)

[115] Wolfgang: Magdalene – was willst du?

Magdalene (indem sie ihm den Revolver entgegenstreckt): Was du willst.

Wolfgang (aufschreiend): Magdalene! (Er eilt zu ihr und schlägt die Arme um sie.) Das könntest du?

Magdalene: Ja – recht so – recht so – nimm mich in deinen Arm – und küsse mich und sage mir, daß du mich lieb hast – dann kann ich alles.

Wolfgang: Wie schön du bist. (Küßt sie.) Und was du für Lippen hast – so weich – so weich – (Einer in des andern Anblick versinkend.)

Magdalene: Und wie deine Augen wieder leuchten! Ach, wie sie so lange nicht geleuchtet haben!

Wolfgang (Sie haben sich umschlungen und gehen langsam nach hinten links): Wir fangen auch ein neues Leben an. Wir schlagen ein anderes Blatt auf in dem großem Buch, ein anderes Blatt mit neuen Bildern und neuen Geschichten. Und was auf dem alten stand, soll vergessen sein.

Magdalene (leidenschaftlich): Nur nicht, daß du mich liebtest –

Wolfgang: Nein, das nicht. (Sie halten sich in langem, heißem Kusse umfangen.) Komm – komm! (Schnell nach links ab. Pause. Aus dem Zimmer links hört man kurz nacheinander zwei Schüsse. Die Scene bleibt einen Augenblick leer.)


5. Scene.

Wöhlers und Christine treten auf in Begleitung eines Dieners, der einen Carton trägt.


Christine (zu dem Diener): Legen Sie’s hier auf den Tisch. (Zu ihrem Manne, indem sie den Carton öffnet:) Ich [116] denke, daß sie sich freuen wird. Sieh nur, du, das allerneuste Pariser Modell. Das nenn ich mir noch einen Hut! Sieh nur!

Wöhlers (ungeduldig): Ja ja – wo stecken sie denn; ich muß zur Börse – höchste Zeit – (öffnet die Thür links und taumelt, nachdem er hineingesehen, entsetzt zurück, das Folgende hervorstoßend:) Äh – da – da – da –

Christine: Was ist denn?

Wöhlers: Haben sich – erschossen –

Christine: Was? Wer? (Ist an die Thür links geeilt und sinkt, nachdem sie hineingesehen, mit einem Aufschrei zu Boden.)

Wöhlers (kopflos zwischen Christine und der Ausgangsthür hin- und herlaufend:) Warum denn? Warum denn? (hinausrufend:) Paul! – Paul! (Wie vorher:) Warum denn bloß? Warum denn?

(Der Vorhang fällt schnell.)


Ende.

  1. *) Die in [ ] stehenden Stellen können bei der Aufführung event. fortbleiben.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Scharff