Scharff: Nun? Ich bin begierig –
Wolfgang: Ganz oben und – ganz unten. Oben, wo die Geister so abgeklärt sind, daß aller Weisheitsdünkel verraucht ist, und unten, wo man von solchem Dünkel noch nichts weiß, wo man mit unverbildetem Gemüt das Große achtungsvoll empfindet. Dazwischen wohnen die Leute der satten Bildung. Sie haben ihre Bildung ohne Kampf erworben; sie haben sie sich angeschafft wie eine Saloneinrichtung und räkeln nun behäbig auf ihren Polstern. Das sind die Leute, die die Genies verkommen lassen aus Prinzip und Profession. – Aber was soll uns das? Deine vernichtenden Gründe haben eine verteufelte Neigung Seitensprünge zu machen.
Scharff: Nun gut, zugegeben, deine Zuhörer hätten dich wirklich verstanden – was dann? Du hast sie ungläubig gemacht – was nun weiter?
Wolfgang: Schon das ist ein großer Irrthum! Nicht ich mache diese Leute ungläubig; sie kommen glaubenslos zu mir. Selbst wenn ihre Lippen noch das Alte bekennen; in ihrem Herzen haben sie längst mit jenen Glaubenssatzungen gebrochen; sie sind ihnen nicht Trost und nicht Hoffnung mehr. (Die Hand auf Scharff’s Schulter legend.) Freund, was den Unglauben anwachsen läßt wie Lawinen, das ist stärker als unsre Reden und die Reden der Priester. Es ist das Frühlingstreiben einer neuen Zeit, das die vermoderten Überlieferungen vergangener Sommer in alle Winde treibt. Diese Bewegung wächst unaufhaltsam und kann nicht
Otto Ernst: Die größte Sünde. Conrad Kloss, Hamburg 1895, Seite 53. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ernst_Die_groesste_Suende.djvu/59&oldid=- (Version vom 31.7.2018)