Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten

Textdaten
Autor: Johann Wolfgang von Goethe
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Titel: Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten
Untertitel:
aus: Die Horen 1795: 1. Band, 1. Stück S. 49–78; 2. Stück S. 1–28; 2. Band, 4. Stück S. 41–67; 3. Band, 7. Stück S. 50–76; 9. Stück S. 45–52; 4. Band, Zehntes Stück S. 108–152 "Mährchen"
Herausgeber: Friedrich Schiller
Auflage: 1. Auflage
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1795
Verlag: Cotta
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Erscheinungsort: Tübingen
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Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Hathitrust und Commons
Kurzbeschreibung:
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[1-49]
Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten.

In jenen unglücklichen Tagen, welche für Deutschland, für Europa, ja für die übrige Welt die traurigsten Folgen hatten, als das Heer der Franken durch eine übelverwahrte Lücke in unser Vaterland einbrach, verließ eine edle Familie ihre Besitzungen in jenen Gegenden und entfloh über den Rhein, um den Bedrängnissen zu entgehen, womit alle ausgezeichnete Personen bedrohet waren, denen man zum Verbrechen machte, daß sie sich ihrer Väter mit Freuden und Ehren erinnerten, und mancher Vortheile genossen, die ein wohldenkender Vater seinen Kindern und Nachkommen so gern zu verschaffen wünschte.

Die Baronesse von C., eine Wittwe in mittlern Jahren, erwieß sich auch jetzt auf dieser Flucht, wie sonst zu Hause, zum Troste ihrer Kinder, Verwandten und Freunde, entschlossen und thätig. In einer weiten Sphäre erzogen und durch mancherley Schicksale ausgebildet, war sie als eine treffliche Hausmutter bekannt, und jede Art von Geschäft erschien ihrem durchdringenden Geiste willkommen. Sie wünschte Vielen zu dienen und ihre ausgebreitete Bekanntschaft setzte sie in den Stand es zu thun. Nun mußte sie sich unerwartet als Führerin einer kleinen Caravane darstellen und wußte auch diese zu leiten, für sie zu sorgen und den guten Humor, wie er sich zeigte, in ihrem Kreise, auch mitten unter Bangigkeit und Noth zu unterhalten. Und wirklich stellte sich [1-50] bey unsern Flüchtlingen die gute Laune nicht selten ein, denn überraschende Vorfälle, neue Verhältnisse gaben den aufgespannten Gemüthern manchen Stoff zu Scherz und Lachen.

Bey der übereilten Flucht war das Betragen eines jeden charakteristisch und auffallend. Das eine ließ sich durch eine falsche Furcht, durch ein unzeitiges Schrecken hinreissen; das andere gab einer unnöthigen Sorge Raum, und alles, was dieser zu viel jener zu wenig that, jeder Fall wo sich Schwäche in Nachgiebigkeit oder Uebereilung zeigte, gab in der Folge Gelegenheit sich wechselseitig zu plagen und aufzuziehen, so daß dadurch diese traurige Zustände lustiger wurden, als eine vorsätzliche Lustreise ehemals hatte werden können.

Denn wie wir manchmal in der Comödie eine Zeitlang ohne über die absichtlichen Possen zu lachen, ernsthaft zuschauen können, dagegen aber sogleich ein lautes Gelächter entsteht, wenn in der Tragödie etwas Unschickliches vorkommt: so wird auch ein Unglück in der wirklichen Welt das die Menschen aus ihrer Fassung bringt gewöhnlich von lächerlichen, oft auf der Stelle, gewiß aber hinterdrein, belachten Umständen begleitet seyn.

Besonders mußte Fräulein Luise, die älteste Tochter der Baronesse, ein lebhaftes, heftiges und in guten Tagen herrisches Frauenzimmer sehr vieles leiden, da von ihr behauptet wurde, daß sie bey dem ersten Schrecken ganz aus der Fassung gerathen sey, in Zerstreuung, ja in einer Art von völligen Abwesenheit die unnützesten Sachen mit dem größten Ernste zum Aufpacken gebracht, [1-51] ja sogar einen alten Bedienten für ihren Bräutigam angesehen habe.

Sie vertheidigte sich aber so gut sie konnte, nur wollte sie keinen Scherz der sich auf ihren Bräutigam bezog, dulden, indem es ihr schon Leiden genug verursachte, ihn bey der alliirten Armee, in täglicher Gefahr, zu wissen, und eine gewünschte Verbindung durch die allgemeine Zerrüttung aufgeschoben und vielleicht gar vereitelt zu sehen.

Ihr älterer Bruder Friedrich, ein entschloßner junger Mann, führte alles was die Mutter beschloß mit Ordnung und Genauigkeit aus, begleitete zu Pferde den Zug und war zugleich Courier, Wagenmeister und Wegweiser. Der Lehrer des jüngern, hoffnungsvollen Sohnes, ein wohl unterrichteter Mann, leistete der Baronesse im Wagen Gesellschaft; Vetter Karl fuhr mit einem alten Geistlichen, der, als Hausfreund, schon lange der Familie unentbehrlich geworden war, mit einer älteren und jüngeren Verwandten in einem nachfolgenden Wagen. Kammermädchen und Kammerdiener folgten in Halbchaisen, und einige schwerbepackte Brankards, die auf mehr als einer Station zurückbleiben mußten, schlossen den Zug.

Ungern hatte, wie man leicht denken kann, die ganze Gesellschaft ihre Wohnungen verlassen, aber Vetter Karl entfernte sich mit doppeltem Widerwillen von dem jenseitigen Rheinufer; nicht daß er etwa eine Geliebte daselbst zurückgelassen hätte, wie man nach seiner Jugend, seiner guten Gestalt und seiner leidenschaftlichen Natur hätte vermuthen sollen, er hatte sich vielmehr von der [1-52] blendenden Schönheit verführen lassen, die unter dem Namen Freyheit sich erst heimlich, dann öffentlich so viele Anbeter zu verschaffen wußte, und, so übel sie auch die einen behandelte, von den andern mit grosser Lebhaftigkeit verehrt wurde.

Wie Liebende gewöhnlich von ihrer Leidenschaft verblendet werden, so erging es auch Vetter Karln. Sie wünschen den Besitz eines einzigen Gutes, und wähnen alles übrige dagegen entbehren zu können. Stand, Glücksgüter, alle Verhältnisse scheinen in Nichts zu verschwinden, indem das gewünschte Gut zu Einem zu Allem wird. Eltern, Verwandte und Freunde werden uns fremd indem wir uns etwas zueignen, das uns ganz ausfüllt und uns alles übrige fremd macht.

Vetter Karl überließ sich der Heftigkeit seiner Neigung und verhehlte sie nicht in Gesprächen. Er glaubte um so freyer sich diesen Gesinnungen ergeben zu können, als er selbst ein Edelmann war, und, obgleich der zweyte Sohn, dennoch ein ansehnliches Vermögen zu erwarten hatte. Eben diese Güter, die ihm künftig zufallen mußten, waren jetzt in Feindes Händen, der nicht zum besten darauf haußte, demohngeachtet konnte Karl einer Nation nicht feind werden, die der Welt so viele Vortheile versprach, und deren Gesinnungen er nach öffentlichen Reden und Aeusserungen einiger Mitglieder beurtheilte. Gewöhnlich störte er die Zufriedenheit der Gesellschaft, wenn sie ja derselben noch fähig war, durch ein unmässiges Lob alles dessen, was bey den Neufranken Gutes oder Böses geschah, durch ein lautes Vergnügen über ihre Fortschritte, wodurch er die Andern um desto [1-53] mehr aus der Fassung brachte, als sie ihre Leiden durch die Schadenfreude eines Freundes und Verwandten verdoppelt nur um so schmerzlicher empfinden mußten.

Friedrich hatte sich schon einigemal mit ihm überworfen und ließ sich in der letzten Zeit gar nicht mehr mit ihm ein. Die Baronesse wußte ihn auf eine kluge Weise wenigstens zu augenblicklicher Mäßigung zu leiten; Fräulein Luise machte ihm am meisten zu schaffen, indem sie, freylich oft ungerechter Weise, seinen Charakter und seinen Verstand verdächtig zu machen suchte. Der Hofmeister gab ihm im Stillen recht; der Geistliche im Stillen unrecht und die Kammermädchen, denen seine Gestalt reizend und seine Freygebigkeit respektabel war, hörten ihn gerne reden, weil sie sich durch seine Gesinnungen berechtigt glaubten, ihre zärtlichen Augen, die sie bisher vor ihm bescheiden niedergeschlagen hatten, nunmehr in Ehren nach ihm aufzuheben.

Die Bedürfnisse des Tages, die Hindernisse des Weges, die Unannehmlichkeiten der Quartiere führten die Gesellschaft gewöhnlich auf ein gegenwärtiges Interesse zurück, und die grosse Anzahl französischer und deutscher Ausgewanderten, die sie überall antrafen und deren Betragen und Schicksale sehr verschieden waren, gaben ihnen oft zu Betrachtungen Anlaß, wieviel Ursach man habe, in diesen Zeiten alle Tugenden, besonders aber die Tugend der Unpartheylichkeit und Verträglichkeit zu üben.

Eines Tages machte die Baronesse die Bemerkung, daß man nicht deutlicher sehen könne wie ungebildet, in jedem Sinne, die Menschen seyen, als in solchen Augenblicken [1-54] allgemeiner Verwirrung und Noth. Die bürgerliche Verfassung, sagte sie: scheint wie ein Schiff zu seyn, das eine grosse Anzahl Menschen, alte und junge, gesunde und kranke über ein gefährliches Wasser, auch selbst zu Zeiten des Sturms, hinüber bringt, nur in dem Augenblicke wenn das Schiff scheitert, sieht man wer schwimmen kann und selbst gute Schwimmer gehen unter solchen Umständen zu Grunde.

Wir sehen meist die Ausgewanderten ihre Fehler und alberne Gewohnheiten mit sich in der Irre herum führen und wundern uns darüber. Doch wie den reisenden Engländer der Theekessel in allen vier Welttheilen nicht verläßt, so wird die übrige Masse der Menschen von stolzen Anforderungen, Eitelkeit, Unmässigkeit, Ungeduld, Eigensinn, Schiefheit im Urtheil und der Lust ihrem Nebenmenschen tückisch etwas zu versetzen, überall hinbegleitet; der Leichtsinnige freut sich der Flucht wie einer Spatzierfahrt und der Ungenügsame verlangt daß ihm auch noch als Bettler alles zu Diensten stehe. Wie selten daß uns die reine Tugend irgend eines Menschen erscheint, der wirklich für andere zu leben, für andere sich aufzuopfern getrieben wird.

Indessen man nun mancherley Bekanntschaften machte, die zu solchen Betrachtungen Gelegenheit gaben, war der Winter vorbey gegangen. Das Glück hatte sich wieder zu den deutschen Waffen gesellt, die Franzosen waren wieder über den Rhein hinüber gedrängt, Frankfurt befreyt und Maynz eingeschlossen.

In der Hoffnung auf den weiteren Fortgang der siegreichen [1-55] Waffen, und begierig wieder einen Theil ihres Eigenthums zu ergreifen, eilte die Familie auf ein Gut, das an dem rechten Ufer des Rhein’s, in der schönsten Lage, ihr zugehörte. Wie erquickt fanden sie sich, als sie den schönen Strom wieder vor ihren Fenstern vorbeyfliessen sahen, wie freudig nahmen sie wieder von jedem Theile des Hauses Besitz, wie freundlich begrüßten sie die bekannten Mobilien, die alten Bilder und jeglichen Hausrath, wie werth war ihnen auch das geringste das sie schon verloren gegeben hatten, wie stiegen ihre Hoffnungen: dereinst auch jenseit des Rheines alles noch in dem alten Zustande zu finden!

Kaum erscholl in der Nachbarschaft die Ankunft der Baronesse, als alle alte Bekannte, Freunde und Diener herbeyeilten sich mit ihr zu besprechen, die Geschichten der vergangenen Monate zu wiederhohlen und sich, in manchen Fällen, Rath und Beystand von ihr zu erbitten.

Umgeben von diesen Besuchen ward sie aufs angenehmste überrascht, als der Geheimerath von S. mit seiner Familie bey ihr ankam. Ein Mann dem die Geschäfte von Jugend auf zum Bedürfniß geworden waren, ein Mann der das Zutrauen seines Fürsten verdiente und besaß. Er hielt sich streng an Grundsätze und hatte über manche Dinge seine eigene Denkungsweise. Er war genau in Reden und Handeln und forderte das Gleiche von andern. Ein consequentes Betragen schien ihm die höchste Tugend.

Sein Fürst, das Land, er selbst hatten viel durch den Einfall der Franzosen gelitten; er hatte die Willkühr [1-56] der Nation, die nur vom Gesetz sprach, kennen gelernt und den Unterdrückungsgeist derer die das Wort Freyheit immer im Munde führten. Er hatte gesehen, daß auch in diesem Falle der grosse Haufe sich treu blieb, und Wort für That, Schein für Besitz mit grosser Heftigkeit aufnahm. Die Folgen eines unglücklichen Feldzugs, so wie die Folgen jener verbreiteten Gesinnungen und Meynungen blieben seinem Scharfblicke nicht verborgen, obgleich nicht zu leugnen war, daß er manches mit hypochondrischem Gemüthe betrachtete und mit Leidenschaft beurtheilte.

Seine Gemahlinn, eine Jugendfreundin der Baronesse, fand, nach so viel Trübsalen, einen Himmel in den Armen ihrer Freundin. Sie waren mit einander aufgewachsen, hatten sich mit einander gebildet, sie kannten keine Geheimnisse vor einander. Die ersten Neigungen junger Jahre, die bedenklichen Zustände der Ehe, Freuden, Sorgen und Leiden als Mütter, alles hatten sie sich sonst, theils mündlich, theils in Briefen, vertraut, und hatten eine ununterbrochene Verbindung erhalten. Nur diese letzte Zeit her waren sie durch die Unruhen verhindert worden, sich einander, wie gewöhnlich, mitzutheilen. Um so lebhafter drängten sich ihre gegenwärtige Gespräche, um destomehr hatten sie einander zu sagen, indessen die Töchter der Geheimeräthin ihre Zeit mit Fräulein Luisen in einer wachsenden Vertraulichkeit zubrachten.

Leider ward der schöne Genuß dieser reizenden Gegend oft durch den Donner der Kanonen gestöhrt, den man, je nachdem der Wind sich drehte, aus der Ferne deutlicher [1-57] oder undeutlicher vernahm. Eben so wenig konnte bey den vielen zuströmenden Neuigkeiten des Tages der politische Discurs vermieden werden, der gewöhnlich die augenblickliche Zufriedenheit der Gesellschaft stöhrte, indem die verschiedenen Denkungsarten und Meynungen von beyden Seiten sehr lebhaft geäusert wurden. Und wie unmässige Menschen sich deßhalb doch nicht des Weins und schwer zu verdauender Speisen enthalten, ob sie gleich aus der Erfahrung wissen, daß ihnen darauf ein unmittelbares Uebelseyn bevorsteht; so konnten auch die meisten Glieder der Gesellschaft sich in diesem Falle nicht bändigen, vielmehr gaben sie dem unwiderstehlichen Reiz nach, andern wehe zu thun und sich selbst dadurch am Ende eine unangenehme Stunde zu bereiten.

Man kann leicht denken, daß der Geheimerath diejenige Parthey anführte, welche dem alten System zugethan war, und daß Karl für die entgegengesetzte sprach, welche von bevorstehenden Neuerungen Heilung und Belebung des alten kranken Zustandes hofften.

Im Anfange wurden diese Gespräche noch mit ziemlicher Mässigung geführt, besonders da die Baronesse durch anmuthige Zwischenreden beyde Theile im Gleichgewicht zu halten wußte; als aber die wichtige Epoke herannahete, daß die Blokade von Maynz in eine Belagerung übergehen sollte, und man nunmehr für diese schöne Stadt und ihre zurückgelassenen Bewohner lebhafter zu fürchten anfing, äusserte jedermann seine Meynungen mit ungebundener Leidenschaft.

Besonders waren die daselbst zurückgebliebenen Clubbisten [1-58] ein Gegenstand des allgemeinen Gesprächs und jeder erwartete ihre Bestrafung oder Befreyung je nachdem er ihre Handlungen entweder schalt oder billigte.

Unter die ersten gehörte der Geheimerath, dessen Argumente Karl’n am verdrießlichsten auffielen, wenn er den Verstand dieser Leute angriff, und sie einer völligen Unkenntniß der Welt und ihrer selbst beschuldigte.

Wie verblendet müssen sie seyn! rief er aus, als an einem Nachmittage das Gespräch sehr lebhaft zu werden anfing: wenn sie wähnen, daß eine ungeheure Nation, die mit sich selbst in der größten Verwirrung kämpft und, auch in ruhigen Augenblicken, nichts als sich selbst zu schätzen weiß, auf sie mit einiger Theilnehmung herunter blicken werde. Man wird sie als Werkzeuge betrachten, sie eine Zeitlang gebrauchen und endlich wegwerfen oder wenigstens vernachlässigen. Wie sehr irren sie sich, wenn sie glauben, daß sie jemals in die Zahl der Franzosen aufgenommen werden könnten.

Jedem der mächtig und groß ist erscheint nichts lächerlicher als ein kleiner und schwacher, der in der Dunkelheit des Wahns, in der Unkenntniß sein selbst, seiner Kräfte und seines Verhältnisses sich jenem gleich zu stellen dünkt, und glaubt ihr denn, daß die grosse Nation nach dem Glücke, das sie bisher begünstigt, weniger stolz und übermüthig seyn werde, als irgend ein anderer königlicher Sieger?

Wie mancher, der jetzt als Municipalbeamter mit der Schärpe herumläuft, wird die Maskerade verwünschen, [1-59] wenn er, nachdem er seine Landsleute in eine neue widerliche Form zu zwingen geholfen hat, zuletzt, in dieser neuen Form, von denen, auf die er sein ganzes Vertrauen setzte, niedrig behandelt wird. Ja es ist mir höchst wahrscheinlich, daß man bey der Uebergabe der Stadt, die wohl nicht lange verzögert werden kann, sie den unsrigen überliefert oder überläßt. Mögen sie doch alsdenn ihren Lohn dahin nehmen, mögen sie alsdenn die Züchtigung empfinden, die sie verdienen, ich mag sie so unpartheyisch richten als ich kann.

Unpartheyisch! rief Karl mit Heftigkeit aus: wenn ich doch dieß Wort nicht wieder sollte aussprechen hören! Wie kann man diese Menschen so geradezu verdammen? Freylich haben sie nicht ihre Jugend und ihr Leben zugebracht in der hergebrachten Form sich und andern begünstigten Menschen zu nützen. Freylich haben sie nicht die wenigen wohnbaren Zimmer des alten Gebäudes besessen und sich darinne gepflegt, vielmehr haben sie die Unbequemlichkeit der vernachlässigten Theile eures Staatspallastes mehr empfunden, weil sie selbst ihre Tage kümmerlich und gedrückt darin zubringen mußten; sie haben nicht, durch eine mechanisch erleichterte Geschäftigkeit bestochen, dasjenige für gut angesehen, was sie einmal zu thun gewohnt waren; freylich haben sie nur im Stillen der Einseitigkeit, der Unordnung, der Läßigkeit, der Ungeschicklichkeit zusehen können, womit eure Staatsleute sich noch Ehrfurcht zu erwerben glauben; freylich haben sie nur heimlich wünschen können, daß Mühe und Genuß gleicher ausgetheilt seyn möchten! Und wer wird leugnen, daß unter ihnen nicht wenigstens Einige wohldenkende und tüchtige Männer sich befinden, die, wenn sie auch [1-60] in diesem Augenblicke das Beste zu bewirken nicht im Stande sind, doch durch ihre Vermittlung das Uebel zu lindern und ein künftiges Gute vorzubereiten das Glück haben, und da man solche darunter zählt, wer wird sie nicht bedauern, wenn der Augenblick naht, der sie ihrer Hoffnungen vielleicht auf immer berauben soll.

Der Geheimerath scherzte darauf, mit einiger Bitterkeit, über junge Leute die einen Gegenstand zu idealisiren geneigt seyen; Karl schonte dagegen diejenigen nicht, welche nur nach alten Formen denken könnten, und was dahinein nicht passe nothwendig verwerfen müßten.

Durch mehreres Hin- und Wiederreden ward das Gespräch immer heftiger und es kam von beyden Seiten alles zur Sprache, was im Laufe dieser Jahre so manche gute Gesellschaft entzweyt hatte. Vergebens suchte die Baronesse, wo nicht einen Frieden, doch wenigstens einen Stillstand zuwege zu bringen; selbst die Geheimeräthin, die als ein liebenswürdiges Weib, einige Herrschaft über Karls Gemüth sich erworben hatte, suchte vergebens auf ihn zu wirken, das ihr um so weniger gelang als ihr Gemahl fortfuhr treffende Pfeile auf Jugend und Unerfahrenheit loszudrücken und über die besondere Neigung der Kinder mit dem Feuer zu spielen, das sie doch nicht regieren könnten, zu spotten.

Karl, der sich im Zorn nicht mehr kannte, hielt mit dem Geständniß nicht zurück: daß er den französischen Waffen alles Glück wünsche, und daß er jeden Deutschen auffordere, der alten Sklaverey ein Ende zu machen, daß er von der französischen Nation überzeugt sey, sie werde [1-61] die edlen Deutschen, die sich für sie erklärt, zu schätzen wissen, als die ihrigen ansehn und behandeln und nicht etwa aufopfern oder ihrem Schicksale überlassen, sondern sie mit Ehren, Gütern und Zutrauen überhäufen.

Der Geheimerath behauptete dagegen, es sey lächerlich zu denken, daß die Franzosen nur irgend einen Augenblick, bey einer Capitulation oder sonst für sie sorgen würden, vielmehr würden diese Leute gewiß in die Hände der Alliirten fallen und er hoffe sie alle gehangen zu sehen.

Diese Drohung hielt Karl nicht aus und rief vielmehr: er hoffe, daß die Guillotine auch in Deutschland eine gesegnete Erndte finden und kein schuldiges Haupt verfehlen werde. Dazu fügte er einige sehr starke Vorwürfe, welche den Geheimerath persönlich trafen und in jedem Sinne beleidigend waren.

So muß ich denn wohl, sagte der Geheimerath: mich aus einer Gesellschaft entfernen, in der nichts was sonst achtungswerth schien, mehr geehrt wird. Es thut mir leid, daß ich zum zweytenmal, und zwar durch einen Landsmann vertrieben werde; aber ich sehe wohl, daß von diesem weniger Schonung als von den Neufranken zu erwarten ist, und ich finde wieder die alte Erfahrung bestätigt, daß es besser sey den Türken als den Renegaten in die Hände zu fallen.

Mit diesen Worten stand er auf und gieng aus dem Zimmer. Seine Gemahlin folgte ihm. Die Gesellschaft schwieg. Die Baronesse gab mit einigen, aber starken, [1-62] Ausdrücken ihr Mißvergnügen zu erkennen. Karl gieng im Saale auf und ab. Die Geheimeräthin kam weinend zurück und erzählte daß ihr Gemahl einpacken lasse und schon Pferde bestellt habe. Die Baronesse gieng zu ihm ihn zu bereden; indessen weinten die Fräulein und küßten sich und waren äusserst betrübt, daß sie sich so schnell und unerwartet von einander trennen sollten. Die Baronesse kam zurück. Sie hatte nichts ausgerichtet. Man fing an nach und nach alles zusammen zu tragen was den Fremden gehörte. Die traurigen Augenblicke des Loslösens und Scheidens wurden sehr lebhaft empfunden. Mit den letzten Kästchen und Schachteln verschwand alle Hoffnung. Die Pferde kamen und die Thränen flossen reichlicher.

Der Wagen fuhr fort und die Baronesse sah ihm nach; die Thränen standen ihr in den Augen. Sie trat vom Fenster zurück und setzte sich an den Stickrahmen. Die ganze Gesellschaft war still, ja verlegen, besonders äusserte Karl seine Unruhe, indem er, in einer Ecke sitzend, ein Buch durchblätterte und manchmal drüber weg nach seiner Tante sah. Endlich stand er auf und nahm seinen Hut, als wenn er weggehen wollte; allein in der Thüre kehrte er um, trat an den Rahmen und sagte mit edler Fassung: ich habe Sie beleidigt, liebe Tante, ich habe Ihnen Verdruß verursacht, verzeihen Sie meiner Uebereilung, ich erkenne meinen Fehler und fühl’ ihn tief.

Ich kann verzeihen, antwortete die Baronesse: ich werde keinen Groll auf dich hegen, weil du ein edler guter Mensch bist; aber du kannst nicht wieder gut machen, was du verdorben hast. Ich entbehre durch deine Schuld [1-63] in diesen Augenblicken die Gesellschaft einer Freundinn, die ich seit langer Zeit zum erstenmal wieder sah, die mir das Unglück selbst wieder zuführte, und in deren Umgang ich manche Stunde das Unheil vergaß, das uns traf und das uns bedroht. Sie, die schon so lange auf einer ängstlichen Flucht herumgetrieben wird, und sich kaum wenige Tage in Gesellschaft von geliebten alten Freunden, in einer bequemen Wohnung, an einem angenehmen Orte erhohlt, muß schon wieder flüchtig werden und die Gesellschaft verliert dabey die Unterhaltung ihres Gatten, der, so wunderlich er auch in manchen Stücken seyn mag, doch ein trefflicher rechtschaffner Mann ist und ein unerschöpfliches Archiv von Menschen- und Welt-Kenntniß, von Begebenheiten und Verhältnissen mit sich führt, die er auf eine leichte, glückliche und angenehme Weise mitzutheilen versteht. Um diesen vielfachen Genuß bringt uns deine Heftigkeit; wodurch kannst du ersetzen, was wir verlieren?

Karl. Schonen Sie mich, liebe Tante: ich fühle meinen Fehler schon lebhaft genug, lassen Sie mich die Folgen nicht so deutlich einsehen.

Baronesse. Betrachte sie vielmehr so deutlich als möglich. Hier kann nicht von Schonen die Rede seyn, es ist nur die Frage, ob du dich überzeugen kannst. Denn nicht das erstemal begehst du diesen Fehler, und es wird das letztemal nicht seyn. O ihr Menschen, wird die Noth, die euch unter Ein Dach, in Eine enge Hütte zusammen drängt, euch nicht duldsam gegen einander machen? Ist es an den ungeheuren Begebenheiten nicht genug, die auf euch und die eurigen unaufhaltsam losdringen? könnt [1-64] ihr an euch selbst nicht so arbeiten, und ihr euch mässig und vernünftig gegen diejenigen betragen, die euch im Grunde nichts nehmen, nichts rauben wollen? Müssen denn eure Gemüther nur so blind und unaufhaltsam wirken und drein schlagen, wie die Weltbegebenheiten, ein Gewitter oder ein ander Naturphänomen?

Karl antwortete nichts, und der Hofmeister kam von dem Fenster, wo er bisher gestanden, auf die Baronesse zu und sagte: er wird sich bessern, dieser Fall soll ihn, soll uns allen zur Warnung dienen. Wir wollen uns täglich prüfen, wir wollen den Schmerz, den Sie empfunden haben, uns vor Augen stellen, wir wollen auch zeigen, daß wir Gewalt über uns haben.

Baronesse. Wie leicht doch Männer sich überreden können, besonders in diesem Punkte! Das Wort Herrschaft ist ihnen ein so angenehmes Wort, und es klingt so vornehm sich selbst beherrschen zu wollen. Sie reden gar zu gerne davon und mögten uns glauben machen, es sey wirklich auch in der Ausübung Ernst damit, und wenn ich doch nur einen einzigen in meinem Leben gesehen hätte, der auch nur in der geringsten Sache sich zu beherrschen im Stande gewesen wäre! Wenn ihnen etwas gleichgültig ist, dann stellen sie sich gewöhnlich sehr ernsthaft, als ob sie es mit Mühe entbehrten, und was sie heftig wünschen, wissen sie sich selbst und andern als vortrefflich, nothwendig, unvermeidlich und unentbehrlich vorzustellen. Ich wüßte auch keinen, der auch nur der geringsten Entsagung fähig wäre.

Hofmeister. Sie sind selten ungerecht und ich habe [1-65] Sie noch niemals so von Verdruß und Leidenschaft überwältigt gesehen als in diesem Augenblick.

Baronesse. Ich habe mich dieser Leidenschaft wenigstens nicht zu schämen. Wenn ich mir meine Freundinn, in ihrem Reisewagen, auf unbequemen Wegen mit Thränen an verletzte Gastfreundschaft sich zurück erinnernd, denke, so möcht’ ich euch allen von Herzen gram werden.

Hofmeister. Ich habe Sie in den größten Uebeln nicht so bewegt und so heftig gesehen, als in diesem Augenblick.

Baronesse. Ein kleines Uebel, das auf die grösseren folgt, erfüllt das Maaß, und dann ist es wohl kein kleines Uebel eine Freundinn zu entbehren.

Hofmeister. Beruhigen Sie sich und vertrauen Sie uns allen, daß wir uns bessern, daß wir das Mögliche thun wollen, Sie zu befriedigen.

Baronesse. Keinesweges; es soll mir keiner von euch ein Vertrauen ablocken, aber fordern will ich künftig von euch, befehlen will ich in meinem Hause.

Fordern Sie nur, befehlen Sie nur, rief Karl: und Sie sollen sich über unsern Ungehorsam nicht zu beschweren haben.

Nun meine Strenge wird so arg nicht seyn, versetzte lächelnd die Baronesse, indem sie sich zusammen nahm: [1-66] ich mag nicht gerne befehlen, besonders so freygesinnten Menschen; aber einen Rath will ich geben und eine Bitte will ich hinzufügen.

Hofmeister. Und beydes soll uns ein unverbrüchliches Gesetz seyn.

Baronesse. Es wäre thörigt, wenn ich das Interesse abzulenken gedächte, das jedermann an den grossen Weltbegebenheiten nimmt, deren Opfer wir leider selbst schon geworden sind. Ich kann die Gesinnungen nicht ändern, die bey einem Jeden nach seiner Denkweise entstehen, sich befestigen, streben und wirken, und es wäre eben so thörigt als grausam zu verlangen, daß er sie nicht mittheilen sollte. Aber das kann ich von dem Zirkel erwarten, in dem ich lebe, daß Gleichgesinnte sich im Stillen zu einander fügen und sich angenehm unterhalten, indem der eine dasjenige sagt, was der andere schon denkt. Auf euren Zimmern, auf Spatziergängen und wo sich Uebereindenkende treffen, eröffne man seinen Busen nach Lust, man lehne sich auf diese oder jene Meynung, ja man geniesse recht lebhaft der Freude einer leidenschaftlichen Ueberzeugung. Aber, Kinder, in Gesellschaft laßt uns nicht vergessen, wieviel wir sonst schon, ehe alle diese Sachen zur Sprache kamen, um gesellig zu seyn, von unsern Eigenheiten aufopfern mußten, und daß jeder so lange die Welt stehn wird, um gesellig zu seyn, wenigstens äusserlich sich wird beherrschen müssen. Ich fordere euch also nicht im Namen der Tugend, sondern im Namen der gemeinsten Höflichkeit auf: das mir und andern in diesen Augenblicken zu leisten, was ihr von Jugend auf, ich darf fast sagen, gegen einen jeden beobachtet habt, der euch auf der Strasse begegnete. [1-67] Ueberhaupt, fuhr die Baronesse fort: weiß ich nicht, wie wir geworden sind? wohin auf einmal jede gesellige Bildung verschwunden ist? Wie sehr hüthete man sich sonst in der Gesellschaft irgend etwas zu berühren, was einem oder dem andern unangenehm seyn konnte! Der Protestante vermied in Gegenwart des Katholicken irgend eine Zeremonie lächerlich zu finden; der eifrigste Katholick ließ den Protestanten nicht merken, daß die alte Religion eine grössere Sicherheit ewiger Seligkeit gewähre. Man enthielt sich vor den Augen einer Mutter, die ihren Sohn verloren hatte, sich seiner Kinder lebhaft zu freuen, und jeder fühlte sich verlegen, wenn ihm ein solches unbedachtsames Wort entwischt war. Jeder Umstehende suchte das Versehen wieder gut zu machen, — und thun wir nicht jetzo gerade das Gegentheil von allem diesem? Wir suchen recht eifrig jede Gelegenheit, wo wir etwas vorbringen können, das den andern verdrießt und ihn aus seiner Fassung bringt. O laßt uns künftig, meine Kinder und Freunde, wieder zu jener Art zu seyn zurückkehren! Wir haben bisher schon manches Traurige erlebt — und vielleicht verkündigt uns bald der Rauch bey Tage und die Flammen bey Nacht den Untergang unsrer Wohnungen und unsrer zurückgelassenen Besitzthümer. Laßt uns auch diese Nachrichten nicht mit Heftigkeit in die Gesellschaft bringen, laßt uns dasjenige nicht durch öftere Wiederholung tiefer in die Seele prägen, was uns in der Stille schon Schmerzen genug erregt.

Als euer Vater starb habt ihr mir wohl mit Worten und Zeichen diesen unersetzlichen Verlust bey jeder Gelegenheit erneuert? Habt ihr nicht alles, was sein Andenken zur Unzeit wieder hervorrufen konnte, zu vermeiden [1-68] und durch eure Liebe, eure stille Bemühungen und eure Gefälligkeit das Gefühl jenes Verlustes zu lindern und die Wunde zu heilen gesucht? Haben wir jetzt nicht alle nöthiger, eben jene gesellige Schonung auszuüben, die oft mehr wirkt, als eine wohlgemeynte aber rohe Hülfe. Jetzt, da nicht etwa in der Mitte von Glücklichen ein oder der andere Zufall diesen oder jenen verletzt, dessen Unglück von dem allgemeinen Wohlbefinden bald wieder verschlungen wird, sondern wo unter einer ungeheuren Anzahl Unglücklicher kaum wenige, entweder durch Natur oder Bildung, einer zufälligen oder künstlichen Zufriedenheit geniessen.

Karl. Sie haben uns nun genug erniedrigt, liebe Tante, wollen Sie uns nicht wieder die Hand reichen?

Baronesse. Hier ist sie, mit der Bedingung, daß ihr Lust habt euch von ihr leiten zu lassen. Rufen wir eine Amnestie aus! man kann sich jetzt nicht geschwind genug dazu entschliessen.

In dem Augenblicke traten die übrigen Frauenzimmer, die sich nach dem Abschiede noch recht herzlich ausgeweint hatten, herein und konnten sich nicht bezwingen Vetter Karl’n freundlich anzusehen.

Kommt her, ihr Kinder, rief die Baronesse: wir haben eine ernsthafte Unterredung gehabt, die, wie ich hoffe, Friede und Einigkeit unter uns herstellen, und den guten Ton, den wir eine Zeitlang vermissen, wieder unter uns einführen soll; vielleicht haben wir nie nöthiger gehabt uns an einander zu schliessen, und, wäre es auch nur wenige Stunden des Tages, uns zu zerstreuen. [1-69] Laßt uns dahin übereinkommen, daß wir, wenn wir beysammen sind, gänzlich alle Unterhaltung über das Interesse des Tages verbannen? Wie lange haben wir belehrende und aufmunternde Gespräche entbehrt, wie lange hast du uns, lieber Karl, nichts von fernen Landen und Reichen erzählt, von deren Beschaffenheit, Einwohnern, Sitten und Gebräuchen du so schöne Kenntnisse hast. Wie lange haben Sie (so redete sie den Hofmeister an) die alte und neue Geschichte, die Vergleichung der Jahrhunderte und einzelner Menschen schweigen lassen, wo sind die schönen und zierlichen Gedichte geblieben, die sonst so oft aus den Brieftaschen unsrer jungen Frauenzimmer, zur Freude der Gesellschaft, hervorkamen, wohin haben sich die unbefangenen philosophischen Betrachtungen verloren? Ist die Lust gänzlich verschwunden, mit der ihr, von euren Spatziergängen, einen merkwürdigen Stein, eine, uns wenigstens, unbekannte Pflanze, ein seltsames Insekt zurückbrachtet, und dadurch Gelegenheit gabt, über den grossen Zusammenhang aller existirenden Geschöpfe wenigstens angenehm zu träumen? Laßt alle diese Unterhaltungen, die sich sonst so freywillig darboten, durch eine Verabredung, durch Vorsatz, durch ein Gesetz wieder bey uns eintreten, bietet alle eure Kräfte auf lehrreich, nützlich und besonders gesellig zu seyn, und das alles werden wir – und noch weit mehr als jetzt, benöthigt seyn, wenn auch alles völlig drunter oder drüber gehen sollte. Kinder versprecht mir das.

Sie versprachen es mit Lebhaftigkeit.

Und nun geht, es ist ein schöner Abend, geniesse ihn jeder nach seiner Weise und laßt uns beym Nachtessen, [1-70] seit langer Zeit zum erstenmal, die Früchte einer freundschaftlichen Unterhaltung geniessen.

So ging die Gesellschaft auseinander, nur Fräulein Luise blieb bey der Mutter sitzen: sie konnte den Verdruß, ihre Gespielin verloren zu haben, nicht so bald vergessen, und ließ Karl’n, der sie zum Spatziergange einlud, auf eine sehr schnippische Weise abfahren. So waren Mutter und Tochter eine Zeitlang still neben einander geblieben, als der Geistliche herein trat, der von einem langen Spatziergange zurückkam, und von dem was in der Gesellschaft vorgekommen war nichts erfahren hatte. Er legte Hut und Stock ab, ließ sich nieder und wollte eben etwas erzählen; Fräulein Luise aber, als wenn sie ein angefangnes Gespräch mit ihrer Mutter fortsetzte, schnitt ihm die Rede mit folgenden Worten ab.

Manchen Personen wird denn doch das Gesetz, das eben beliebt worden ist, ziemlich unbequem seyn. Schon wenn wir sonst auf dem Lande wohnten, hat es manchmal an Stoff zur Unterredung gemangelt, denn da war nicht so täglich wie in der Stadt ein armes Mädchen zu verläumden, ein junger Mensch verdächtig zu machen; aber doch hatte man bisher noch die Ausflucht: von ein paar grossen Nationen alberne Streiche zu erzählen, die Deutschen wie die Franzosen lächerlich zu finden und bald diesen bald jenen zum Jakobiner und Clubbisten zu machen; wenn nun auch diese Quelle verstopft wird; so werden wir manche Personen wohl stumm in unsrer Mitte sehen.

Ist dieser Anfall etwa auf mich gerichtet? mein Fräulein, fing der Alte lächelnd an, nun Sie wissen, daß ich [1-71] mich glücklich schätze, manchmal ein Opfer für die übrige Gesellschaft zu werden: denn, gewiß, indem Sie bey jeder Unterhaltung Ihrer fürtrefflichen Erzieherin Ehre machen, und Sie jedermann angenehm, liebenswürdig und gefällig findet; so scheinen Sie einem kleinen bösen Geist, der in Ihnen wohnt und über den Sie nicht ganz Herr werden können, für mancherley Zwang den Sie ihm anthun, auf meine Unkosten gewöhnlich einige Entschädigung zu verschaffen. Sagen Sie mir gnädige Frau, fuhr er fort, indem er sich gegen die Baronesse wandte: was ist in meiner Abwesenheit vorgegangen? und was für Gespräche sind aus unserm Zirkel ausgeschlossen?

Die Baronesse unterrichtete ihn von allem was vorgefallen war. Aufmerksam hörte er zu und versetzte sodann: es dürfte auch nach dieser Einrichtung manchen Personen nicht unmöglich seyn die Gesellschaft zu unterhalten und vielleicht besser und sichrer als andere.

Wir wollen es erleben, sagte Luise.

Dieses Gesetz, fuhr er fort: enthält nichts beschwerliches für jeden Menschen, der sich mit sich selbst zu beschäftigen wußte, vielmehr wird es ihm angenehm seyn, indem er dasjenige, was er sonst gleichsam verstohlen trieb, in die Gesellschaft bringen darf. Denn nehmen Sie mir nicht übel, Fräulein, wer bildet denn die Neuigkeitsträger, die Aufpasser und Verläumder, als die Gesellschaft? Ich habe selten bey einer Lektüre, bey irgend einer Darstellung einer interessanten Materie, die Geist und Herz beleben sollten, einen Zirkel so aufmerksam und die Seelenkräfte so thätig gesehen, als wenn irgend etwas [1-72] Neues und zwar eben etwas das einen Mitbürger oder eine Mitbürgerin heruntersetzt, vorgetragen wurde. Fragen Sie sich selbst und fragen Sie viele andere, was giebt einer Begebenheit den Reiz? nicht ihre Wichtigkeit, nicht der Einfluß den sie hat, sondern die Neuheit. Nur das Neue scheint gewöhnlich wichtig, weil es ohne Zusammenhang Verwunderung erregt und unsre Einbildungskraft einen Augenblick in Bewegung setzt, unser Gefühl nur leicht berührt und unsern Verstand völlig in Ruhe läßt. Jeder Mensch kann ohne die mindeste Rückkehr auf sich selbst an allem was neu ist lebhaften Antheil nehmen, ja, da eine Folge von Neuigkeiten immer von einem Gegenstande zum andern fortreißt, so kann der grossen Menschenmasse nichts willkommener seyn, als ein solcher Anlaß zu ewiger Zerstreuung und eine solche Gelegenheit Tück- und Schadenfreude auf eine bequeme und immer sich erneuernde Weise auszulassen.

Nun! rief Luise, es scheint Sie wissen Sich zu helfen; sonst ging es über einzelne Personen her, jetzt soll es das ganze menschliche Geschlecht entgelten.

Ich verlange nicht, daß Sie jemals billig gegen mich seyn sollen, versetzte jener; aber so viel muß ich Ihnen sagen, wir andern, die wir von der Gesellschaft abhängen, müssen uns nach ihr bilden und richten, ja wir dürfen eher etwas thun, das ihr zuwider ist, als was ihr lästig wäre, und lästiger ist ihr in der Welt nichts als wenn man sie zum Nachdenken und zu Betrachtungen auffordert. Alles was dahin zielt muß man ja vermeiden und allenfalls das im Stillen für sich vollbringen, was bey jeder öffentlichen Versammlung versagt ist. [1-73] Für sich im Stillen mögen Sie wohl allenfalls manche Flasche Wein ausgetrunken und manche schöne Stunde des Tags verschlafen haben, fiel Luise ihm ein.

Ich habe nie, fuhr der Alte fort: auf das was ich thue viel Werth gelegt: denn ich weiß, daß ich gegen andern Menschen ein grosser Faullenzer bin; indessen hab’ ich doch eine Sammlung gemacht, die vielleicht eben jetzt dieser Gesellschaft, wie sie gestimmt ist, manche angenehme Stunde verschaffen könnte.

Was ist es für eine Sammlung? fragte die Baronesse.

Gewiß nichts weiter als eine skandaleuse Chronik, setzte Luise hinzu.

Sie irren sich, sagte der Alte.

Wir werden sehen, versetzte Luise.

Laß ihn ausreden, sagte die Baronesse: und überhaupt gewöhne dir nicht an, einem, der es auch zum Scherze leiden mag, hart und unfreundlich zu begegnen. Wir haben nicht Ursache den Unarten, die in uns stecken, auch nur im Scherze Nahrung zu geben. Sagen Sie mir, mein Freund, worinn besteht Ihre Sammlung? wird sie zu unsrer Unterhaltung dienlich und schicklich seyn? ist sie schon lange angefangen? warum haben wir noch nichts davon gehört?

Ich will Ihnen hierüber Rechenschaft geben, versetzte der Alte. Ich lebe schon lange in der Welt und habe immer [1-74] gern auf das acht gegeben, was diesem oder jenem Menschen begegnet. Zur Uebersicht der grossen Geschichte fühl ich weder Kraft noch Muth, und die einzelnen Weltbegebenheiten verwirren mich; aber unter den vielen Privatgeschichten, wahren und falschen, mit denen man sich im Publiko trägt, die man sich insgeheim einander erzählt, giebt es manche die noch einen reineren, schönern Reiz haben, als den Reiz der Neuheit. Manche die durch eine geistreiche Wendung uns immer zu erheitern Anspruch machen, manche die uns die menschliche Natur und ihre innere Verborgenheiten auf einen Augenblick eröffnen, andere wieder, deren sonderbare Albernheiten uns ergötzen. Aus der grossen Menge, die im gemeinen Leben unsere Aufmerksamkeit und unsre Bosheit beschäftigen und die eben so gemein sind als die Menschen, denen sie begegnen oder die sie erzählen, habe ich diejenigen gesammelt, die mir nur irgend einen Charakter zu haben schienen, die meinen Verstand, die mein Gemüth berührten und beschäftigten und die mir, wenn ich wieder daran dachte, einen Augenblick reiner und ruhiger Heiterkeit gewährten.

Ich bin sehr neugierig, sagte die Baronesse, zu hören, von welcher Art Ihre Geschichten sind und was sie eigentlich behandeln.

Sie können leicht denken, versetzte der Alte: daß von Prozessen und Familienangelegenheiten nicht öfters die Rede seyn wird. Diese haben meistentheils nur ein Interesse für die welche damit geplagt sind.

Luise. Und was enthalten sie denn? [1-75] Der Alte. Sie behandeln, ich will es nicht leugnen, gewöhnlich die Empfindungen, wodurch Männer und Frauen verbunden oder entzweyet, glücklich oder unglücklich gemacht, öfters aber verwirrt als aufgeklärt werden.

Luise. So? Also wahrscheinlich eine Sammlung lüsterner Spässe geben Sie uns für eine feine Unterhaltung? Sie verzeihen mir Mama, daß ich diese Bemerkung mache, sie liegt so ganz nahe, und die Wahrheit wird man doch sagen dürfen.

Der Alte. Sie sollen, hoffe ich, nichts was ich lüstern nennen würde, in der ganzen Sammlung finden.

Luise. Und was nennen Sie denn so?

Der Alte. Ein lüsternes Gespräch, eine lüsterne Erzählung sind mir unerträglich. Denn sie stellen uns etwas Gemeines, etwas das der Rede und Aufmerksamkeit nicht werth ist, als etwas Besonderes, als etwas Reizendes vor und erregen eine falsche Begierde, anstatt den Verstand angenehm zu beschäftigen. Sie verhüllen das, was man entweder ohne Schleyer ansehen, oder wovon man ganz seine Augen wegwenden sollte.

Luise. Ich verstehe Sie nicht. Sie werden uns doch Ihre Geschichten wenigstens mit einiger Zierlichkeit vortragen wollen? Sollten wir uns denn etwa mit plumpen Spässen die Ohren beleidigen lassen? Es soll wohl eine Mädchenschule werden, und Sie wollen noch Dank dafür verlangen? [1-76] Der Alte. Keines von beyden. Denn erstlich erfahren werden Sie nichts Neues, besonders da ich schon seit einiger Zeit bemerke, daß Sie gewisse Recensionen in den gelehrten Zeitungen niemals überschlagen.

Luise. Sie werden anzüglich.

Der Alte. Sie sind eine Braut und ich entschuldige Sie gerne. Ich muß Ihnen aber nur zeigen, daß ich auch Pfeile habe, die ich gegen Sie brauchen kann.

Baronesse. Ich sehe wohl wo Sie hinaus wollen, machen Sie es aber auch ihr begreiflich.

Der Alte. Ich müßte nur wiederhohlen was ich zu Anfange des Gesprächs schon gesagt habe; es scheint aber nicht, daß sie den guten Willen hat aufzumerken.

Luise. Was brauchts da guten Willen und viele Worte, man mag es besehen wie man will, so werden es skandaleuse Geschichten seyn, auf eine oder die andere Weise skandaleus, und weiter nichts.

Der Alte. Soll ich wiederhohlen, mein Fräulein: daß dem wohldenkenden Menschen nur dann etwas skandaleus vorkomme, wenn er Bosheit, Uebermuth, Lust zu schaden, Widerwillen zu helfen bemerkt, daß er davon sein Auge wegwendet; dagegen aber kleine Fehler und Mängel lustig findet, und besonders mit seiner Betrachtung gern bey Geschichten verweilt, wo er den guten Menschen in leichtem Widerspruch mit sich selbst, seinen Begierden und seinen Vorsätzen findet, wo alberne [1-77] und auf ihren Werth eingebildete Thoren beschämt, zurecht gewiesen oder betrogen werden; wo jede Anmassung auf eine natürliche, ja auf eine zufällige Weise bestraft wird; wo Vorsätze, Wünsche und Hoffnungen bald gestöhrt, aufgehalten und vereitelt, bald unerwartet angenähert, erfüllt und bestätigt werden. Da wo der Zufall mit der menschlichen Schwäche und Unzulänglichkeit spielt, hat er am liebsten seine stille Betrachtung und keiner seiner Helden, deren Geschichten er bewahrt, hat von ihm weder Tadel zu besorgen noch Lob zu erwarten.

Baronesse. Ihre Einleitung erregt den Wunsch bald ein Probstück zu hören. Ich wüßte doch nicht, daß in unserm Leben, (und wir haben doch die meiste Zeit in Einem Kreise zugebracht,) vieles geschehen wäre, das man in eine solche Sammlung aufnehmen könnte.

Der Alte. Es kommt freylich vieles auf die Beobachter an, und was für eine Seite man den Sachen abzugewinnen weiß; aber ich will freylich nicht leugnen, daß ich auch aus alten Büchern und Traditionen manches aufgenommen habe. Sie werden mitunter alte Bekannte vielleicht nicht ungern in einer neuen Gestalt wieder antreffen. Aber eben dieses giebt mir den Vortheil, den ich auch nicht aus den Händen lassen werde: – man soll keine meiner Geschichten deuten!

Luise. Sie werden uns doch nicht verwehren unsre Freunde und Nachbarn wieder zu kennen und wenn es uns beliebt das Räthsel zu entziffern.

Der Alte. Keineswegs. Sie werden mir aber auch [1-78] dagegen erlauben in einem solchen Falle einen alten Folianten hervorzuziehen um zu beweisen, daß diese Geschichte schon vor einigen Jahrhunderten geschehen oder erfunden worden. Eben so werden Sie mir erlauben heimlich zu lächeln, wenn eine Geschichte für ein altes Mährchen erklärt wird, die unmittelbar in unsrer Nähe vorgegangen ist, ohne daß wir sie eben gerade in dieser Gestalt wieder erkennen.

Luise. Man wird mit Ihnen nicht fertig; es ist das Beste wir machen Friede für diesen Abend, und Sie erzählen uns noch geschwind ein Stückchen zur Probe.

Der Alte. Erlauben Sie, daß ich Ihnen hierin ungehorsam seyn darf. Diese Unterhaltung wird für die versammlete Gesellschaft aufgespart. Wir dürfen ihr nichts entziehen, und ich sage voraus: alles was ich vorzubringen habe, hat keinen Werth an sich. Wenn aber die Gesellschaft, nach einer ernsthaften Unterhaltung, auf eine kurze Zeit ausruhen, wenn sie sich, von manchem Guten schon gesättigt, nach einem leichten Nachtische umsieht, alsdann werd ich bereit seyn, und wünsche daß das, was ich vorsetze, nicht unschmackhaft befunden werde.

Baronesse. Wir werden uns denn schon bis morgen gedulden müssen.

Luise. Ich bin höchst neugierig, was er vorbringen wird.

Der Alte. Das sollten Sie nicht seyn, Fräulein: denn gespannte Erwartung wird selten befriedigt.

[2-1]
Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten.
Fortsetzung.

Abends nach Tische als die Baronesse zeitig in ihr Zimmer gegangen war, blieben die übrigen beysammen, und sprachen über mancherley Nachrichten, die eben einliefen, über Gerüchte, die sich verbreiteten. Man war dabey, wie es gewöhnlich in solchen Augenblicken zu geschehen pflegt, im Zweifel was man glauben und was man verwerfen sollte.

Der alte Hausfreund sagte darauf: ich finde am bequemsten, daß wir dasjenige glauben, was uns angenehm ist, ohne Umstände das verwerfen, was uns unangenehm wäre, und daß wir übrigens wahr seyn lassen, was wahr seyn kann.

Man machte die Bemerkung, daß der Mensch auch gewöhnlich so verfahre, und durch einige Wendung des Gesprächs kam man auf die entschiedene Neigung unsrer Natur das Wunderbare zu glauben; man redete vom Romanhaften, vom Geisterhaften und als der Alte einige gute Geschichten dieser Art künftig zu erzählen versprach, versetzte Fräulein Louise: Sie wären recht artig [2-2] und würden vielen Dank verdienen, wenn Sie uns gleich, da wir eben in der rechten Stimmung beysammen sind, eine solche Geschichte vortrügen, wir würden aufmerksam zuhören und Ihnen dankbar seyn.

Ohne sich lange bitten zu lassen, fing der Geistliche darauf mit folgenden Worten an:

Als ich mich in Neapel aufhielt, begegnete daselbst eine Geschichte, die großes Aufsehen erregte, und worüber die Urtheile sehr verschieden waren. Die einen behaupteten, sie sey völlig ersonnen, die andern, sie sey wahr, aber es stecke ein Betrug dahinter. Diese Parthey war wieder unter einander selbst uneinig; sie stritten wer dabey betrogen haben könnte; andere dagegen behaupteten: es sey keinesweges ausgemacht, daß geistige Naturen nicht sollten auf Elemente und Körper wirken können, und man müsse nicht jede wunderbare Begebenheit ausschließlich entweder für Lüge oder Trug erklären. Nun zur Geschichte selbst.

Eine Sängerin, Antonelli genannt, war zu meiner Zeit der Liebling des neapolitanischen Publikums. In der Blüthe ihrer Jahre, ihrer Figur, ihrer Talente fehlte ihr nichts, wodurch ein Frauenzimmer die Menge reitzt und lockt, und eine kleine Anzahl Freunde entzückt und glücklich macht. Sie war nicht unempfindlich gegen Lob und Liebe; allein von Natur mäßig und verständig wußte sie die Freuden zu genießen, die beyde gewähren, ohne daß sie dabey aus der Fassung kam, die ihr in ihrer Lage so nöthig war. Alle jungen, vornehmen, reichen Leute drängten sich zu ihr, nur wenige nahm sie auf, und [2-3] wenn sie bey der Wahl ihrer Liebhaber meist ihren Augen und ihrem Herzen folgte, so zeigte sie doch bey allen kleinen Abentheuern einen festen, sichern Charakter, der jeden genauen Beobachter für sie einnehmen mußte. Ich hatte Gelegenheit sie einige Zeit zu sehen, indem ich mit einem ihrer Begünstigten in nahem Verhältnisse stand.

Verschiedne Jahre waren hingegangen, sie hatte Männer genug kennen gelernt und unter ihnen viele Gecken, schwache und unzuverläßige Menschen. Sie glaubte bemerkt zu haben, daß ein Liebhaber, der in einem gewissen Sinne dem Weibe alles ist, gerade da, wo sie eines Beystandes am nöthigsten bedürfte, bey Vorfällen des Lebens, häuslichen Angelegenheiten, bey augenblicklichen Entschließungen meistentheils zu nichts wird, wenn er nicht gar seiner Geliebten, indem er nur an sich selbst denkt, schadet, und aus Eigenliebe ihr das Schlimmste zu rathen, und sie zu den gefährlichsten Schritten zu verleiten sich gedrungen fühlt.

Bey ihren bisherigen Verbindungen war ihr Geist meistentheils unbeschäftigt geblieben; auch dieser verlangte Nahrung. Sie wollte endlich einen Freund haben und kaum hatte sie dieses Bedürfniß gefühlt, so fand sich unter denen, die sich ihr zu nähern suchten, ein junger Mann, auf den sie ihr Zutrauen warf, und der es in jedem Sinne zu verdienen schien.

Es war ein Genueser, der sich um diese Zeit, einiger wichtigen Geschäfte seines Hauses wegen, in Neapel aufhielt. Bey einem sehr glücklichen Naturell hatte er die sorgfältigste Erziehung genossen. Seine Kenntnisse waren [2-4] ausgebreitet, sein Geist wie sein Körper vollkommen ausgebildet; sein Betragen konnte für ein Muster gelten, wie einer, der sich keinen Augenblick vergißt, sich doch immer in andern zu vergessen scheint. Der Handelsgeist seiner Geburtsstadt ruhete auf ihm; er sah das, was zu thun war, im Großen an. Doch war seine Lage nicht die glücklichste; sein Haus hatte sich in einige höchst gefährliche Spekulationen eingelassen, und war in gefährliche Prozesse verwickelt. Die Angelegenheiten verwirrten sich mit der Zeit noch mehr, und die Sorge, die er darüber empfand, gab ihm einen äußern Anstrich von Traurigkeit, der ihm sehr wohl anstand, und der unserm jungen Frauenzimmer noch mehr Muth machte, seine Freundschaft zu suchen, weil sie zu fühlen glaubte, daß er selbst einer Freundin bedürfe.

Er hatte sie nur bisher an öffentlichen Orten und bey Gelegenheit gesehen, sie vergönnte ihm nunmehr auf seine erste Anfrage den Zutritt in ihrem Hause, ja sie lud ihn recht dringend ein und er verfehlte nicht zu kommen.

Sie versäumte keine Zeit, ihm ihr Zutrauen und ihren Wunsch zu entdecken. Er war verwundert und erfreut über ihren Antrag. Sie bat ihn inständig ihr Freund zu bleiben, und keine Anforderungen eines Liebhabers zu machen. Sie eröffnete ihm eine Verlegenheit, in der sie sich eben befand, und worüber er bey seinen mancherley Verhältnissen den besten Rath geben, und die schleunigste Einleitung zu ihrem Vortheil machen konnte. Er vertraute ihr dagegen seine Lage, und indem sie ihn zu erheitern und zu trösten wußte, indem sich in ihrer Gegenwart [2-5] manches entwickelte, was sonst bey ihm nicht so früh erwacht wäre, schien sie auch seine Rathgeberin zu seyn, und eine wechselseitige auf die edelste Achtung, auf das schönste Bedürfniß gegründete Freundschaft hatte sich in kurzem zwischen ihnen befestigt.

Nur leider überlegt man bey Bedingungen die man eingeht, nicht immer, ob sie möglich sind. Er hatte versprochen nur Freund zu seyn, keine Ansprüche auf die Stelle eines Liebhabers zu machen, und doch konnte er sich nicht läugnen, daß ihm die von ihr begünstigten Liebhaber überall im Wege, höchst zuwider, ja ganz und gar unerträglich waren. Besonders fiel es ihm höchst schmerzlich auf, wenn ihn seine Freundin von den guten und bösen Eigenschaften eines solchen Mannes oft launig unterhielt, alle Fehler des Begünstigten genau zu kennen schien, und doch noch vielleicht selbigen Abend, gleichsam zum Spott des werthgeschäzten Freundes, in den Armen eines Unwürdigen ausruhte.

Glücklicher oder unglücklicher Weise geschah es bald, daß das Herz der Schönen frey wurde. Ihr Freund bemerkte es mit Vergnügen, und suchte ihr vorzustellen, daß der erledigte Platz ihm vor allen andern gebühre. Nicht ohne Widerstand und Widerwillen gab sie seinen Wünschen Gehör; ich fürchte, sagte sie, daß ich über dieser Nachgiebigkeit das Schätzbarste auf der Welt, einen Freund verliere. Sie hatte richtig geweissagt; denn kaum hatte er eine Zeitlang in seiner doppelten Eigenschaft bey ihr gegolten, so fingen seine Launen an beschwerlicher zu werden; als Freund forderte er ihre ganze Achtung, als Liebhaber ihre ganze Neigung und als ein verständiger [2-6] und angenehmer Mann unausgesetzte Unterhaltung. Dieß aber war keinesweges nach dem Sinne des lebhaften Mädchens; sie konnte sich in keine Aufopferung finden, und hatte nicht Lust irgend jemand ausschließliche Rechte zuzugestehen. Sie suchte daher auf eine zarte Weise seine Besuche nach und nach zu verringern, ihn seltner zu sehen und ihn fühlen zu lassen, daß sie um keinen Preis der Welt ihre Freyheit weggebe.

Sobald er es merkte, fühlte er sich vom größten Unglück betroffen und leider befiel ihn dieses Unheil nicht allein: seine häuslichen Angelegenheiten fingen an äußerst schlimm zu werden. Er hatte sich dabey den Vorwurf zu machen, daß er von früher Jugend an sein Vermögen als eine unerschöpfliche Quelle angesehen, daß er seine Handelsangelegenheiten versäumt, um auf Reisen und in der großen Welt eine vornehmere und reichere Figur zu spielen, als ihm seine Geburt und sein Einkommen gestatteten. Die Prozesse, auf die er seine Hoffnung setzte, gingen langsam und waren kostspielig. Er mußte deshalb einigemal nach Palermo und während seiner letzten Reise machte das kluge Mädchen verschiedene Einrichtungen, um ihrer Haushaltung eine andere Wendung zu geben, und ihn nach und nach von sich zu entfernen. Er kam zurück, und fand sie in einer andern Wohnung, entfernt von der seinigen, und sah den Markese von S. der damals auf die öffentlichen Lustbarkeiten und Schauspiele großen Einfluß hatte, vertraulich bey ihr aus und eingehen. Dieß überwältigte ihn, und er fiel in eine schwere Krankheit. Als die Nachricht davon zu seiner Freundin gelangte, eilte sie zu ihm, sorgte für ihn, richtete seine Aufwartung ein, und als ihr nicht verborgen blieb, daß seine Casse [2-7] nicht zum besten bestellt war, ließ sie eine ansehnliche Summe zurück, die hinreichend war ihn auf einige Zeit zu beruhigen.

Durch die Anmaßung ihre Freyheit einzuschränken hatte der Freund schon viel in ihren Augen verloren, und wie ihre Neigung zu ihm abnahm, hatte ihre Aufmerksamkeit auf ihn zugenommen, und die Entdeckung, daß er in seinen eigenen Angelegenheiten so unklug gehandelt habe, gab ihr nicht die günstigsten Begriffe von seinem Verstande und seinem Charakter. Indessen bemerkte er die große Veränderung nicht, die in ihr vorgegangen war, vielmehr schien ihre Sorgfalt für seine Genesung, die Treue, womit sie halbe Tage lang an seinem Lager aushielt, mehr ein Zeichen ihrer Freundschaft und Liebe als ihres Mitleids zu seyn und er hofte nach seiner Genesung in alle Rechte wieder eingesetzt zu werden.

Wie sehr irr’te er sich! In der Maße wie seine Gesundheit wieder kam und seine Kräfte sich erneuerten, verschwand bey ihr jede Art von Neigung und Zutrauen, ja er schien ihr so lästig, als er ihr sonst angenehm gewesen war. Auch war seine Laune, ohne daß er es selbst bemerkte, während dieser Begebenheiten höchst bitter und verdrießlich geworden; alle Schuld, die er an seinem Schicksal haben konnte, warf er auf andere und wußte sich in allem völlig zu rechtfertigen. Er sah in sich nur einen unschuldig verfolgten, gekränkten, betrübten Mann und hoffte völlige Entschädigung alles Uebels und aller Leiden von einer vollkommenen Ergebenheit seiner Geliebten.

Mit diesen Anforderungen trat er gleich in den ersten [2-8] Tagen hervor, als er wieder ausgehen und sie besuchen konnte. Er verlangte nichts weniger, als daß sie sich ihm ganz ergeben, ihre übrigen Freunde und Bekannte verabschieden, das Theater verlassen, und ganz allein mit ihm und für ihn leben sollte. Sie zeigte ihm die Unmöglichkeit seine Forderungen zu bewilligen, erst auf eine scherzhafte, dann auf eine ernsthafte Weise und war leider endlich genöthigt ihm die traurige Wahrheit, daß ihr Verhältniß gänzlich vernichtet sey, zu gestehen. Er verließ sie um sie nicht wieder zu sehen.

Er lebte noch einige Jahre in einem sehr eingeschränkten Kreise, oder vielmehr blos in der Gesellschaft einer alten frommen Dame, die mit ihm in einem Hause wohnte, und sich von wenigen Renten erhielt. In dieser Zeit gewann er den einen Prozeß und bald darauf den andern; allein seine Gesundheit war untergraben und das Glück seines Lebens war verloren. Bey einem geringen Anlaß fiel er abermals in eine schwere Krankheit; der Arzt kündigte ihm den Tod an. Er vernahm sein Urtheil ohne Widerwillen, nur wünschte er seine schöne Freundin noch Einmal zu sehen. Er schickte seinen Bedienten zu ihr, der sonst in glücklichern Zeiten manche günstige Antwort gebracht hatte. Er ließ sie bitten, sie schlug es ab. Er schikte zum zweytenmal und ließ sie beschwören; sie beharrte auf ihrem Sinne. Endlich, es war schon tief in der Nacht, sendete er zum drittenmal; sie ward bewegt und vertraute mir ihre Verlegenheit, denn ich war eben mit dem Markese und einigen andern Freunden bey ihr zum Abendessen. Ich rieth ihr und bat sie dem Freunde den letzten Liebesdienst zu erzeigen; sie schien unentschlossen, aber nach einigem Nachdenken nahm sie sich zusammen. Sie [2-9] schickte den Bedienten mit einer abschläglichen Antwort weg und er kam nicht wieder.

Wir saßen nach Tische in einem vertrauten Gespräch und waren alle heiter und gutes Muths. Es war gegen Mitternacht, als sich auf einmal, mitten unter uns, eine klägliche, durchdringende, ängstliche und lange nachtönende Stimme hören ließ. Wir fuhren zusammen, sahen einander an und sahen uns um, was aus diesem Abentheuer werden sollte. Die Stimme schien an den Wänden zu verklingen, wie sie aus der Mitte des Zimmers hervorgedrungen war. Der Markese stand auf und sprang ans Fenster, und wir andern bemühten uns um die Schöne, welche ohnmächtig da lag. Sie kam erst langsam zu sich selbst. Der eifersüchtige und heftige Italiener sah kaum ihre wieder aufgeschlagenen Augen, als er ihr bittre Vorwürfe machte. Wenn Sie mit Ihren Freunden Zeichen verabreden, sagte er, so lassen Sie doch solche weniger auffallend und heftig seyn. Sie antwortete ihm mit ihrer gewöhnlichen Gegenwart des Geistes, daß, da sie jedermann und zu jeder Zeit bey sich zu sehen das Recht habe, sie wohl schwerlich solche traurige und schreckliche Töne zur Vorbereitung angenehmer Stunden wählen würde.

Und gewiß, der Ton hatte etwas unglaublich schreckhaftes. Seine langen nachdrönenden Schwingungen waren uns allen in den Ohren, ja in den Gliedern geblieben. Sie war blaß, entstellt und immer der Ohnmacht nahe; wir mußten die halbe Nacht bey ihr bleiben. Es ließ sich nichts weiter hören. Die andre Nacht dieselbe Gesellschaft, nicht so heiter als Tags vorher, aber doch gefaßt genug, und – um dieselbige Zeit derselbe gewaltsame, fürchterliche Ton. [2-10] Wir hatten indessen über die Art des Schreyes und wo er herkommen möchte, unzählige Urtheile gefällt, und unsre Vermuthungen erschöpft. Was soll ich weitläuftig seyn? So oft sie zu Hause aß, ließ er sich um dieselbige Zeit vernehmen und zwar, wie man bemerken wollte, manchmal stärker, manchmal schwächer. Ganz Neapel sprach von diesem Vorfall. Alle Leute des Hauses, alle Freunde und Bekannte nahmen den lebhaftesten Theil daran, ja die Polizey ward aufgerufen. Man stellte Spione und Beobachter aus. Denen auf der Gasse schien der Klang aus der freyen Luft zu entspringen, und in dem Zimmer hörte man ihn auf das deutlichste. So oft sie auswärts aß, vernahm man nichts; so oft sie zu Hause war, ließ sich der Ton hören.

Aber auch außer dem Hause blieb sie nicht ganz von diesem bösen Begleiter verschont. Ihre Anmuth hatte ihr den Zutritt in die ersten Häuser geöffnet. Sie war als eine gute Gesellschafterin überall willkommen und sie hatte sich, um dem bösen Gaste zu entgehen, angewöhnt, die Abende außer dem Hause zu seyn.

Ein Mann, durch sein Alter und seine Stelle ehrwürdig, führte sie eines Abends in seinem Wagen nach Hause. Als sie vor ihrer Thüre von ihm Abschied nimmt, entsteht der Klang zwischen ihnen beyden, und man hebt diesen Mann, der so gut wie tausend andere die Geschichte wußte, mehr todt als lebendig in seinen Wagen.

Ein andermal fährt ein junger Tenor, den sie wohl leiden konnte, mit ihr Abends durch die Stadt eine Freundin zu besuchen. Er hatte von diesem seltsamen Phänomenon [2-11] reden hören und zweifelte, als ein muntrer Knabe, an einem solchen Wunder. Sie sprachen von der Begebenheit. Ich wünschte doch auch, sagte er, die Stimme Ihres unsichtbaren Begleiters zu hören: rufen Sie ihn doch auf, wir sind ja zu Zweyen, und werden uns nicht fürchten. Leichtsinn oder Kühnheit, ich weiß nicht, was sie vermochte, genug sie ruft dem Geiste, und in dem Augenblicke entsteht mitten im Wagen der schmetternde Ton, läßt sich dreymal schnell hinter einander gewaltsam hören und verschwindet mit einem bänglichen Nachklang. Vor dem Hause ihrer Freundin fand man beyde ohnmächtig im Wagen, nur mit Mühe brachte man sie wieder zu sich, und vernahm was ihnen begegnet sey.

Die Schöne brauchte einige Zeit sich zu erhohlen. Dieser immer erneuerte Schrecken griff ihre Gesundheit an und das klingende Gespenst schien ihr einige Frist zu verstatten, ja sie hofte sogar, weil es sich lange nicht wieder hören ließ, endlich völlig davon befreyt zu seyn. Allein diese Hoffnung war zu frühzeitig.

Nach geendigtem Carneval unternahm sie mit einer Freundin und einem Kammermädchen eine kleine Lustreise. Sie wollte einen Besuch auf dem Lande machen; es war Nacht ehe sie ihren Weg vollenden konnten, und da noch am Fuhrwerke etwas zerbrach, mußten sie in einem schlechten Wirthshaus übernachten und sich so gut als möglich einrichten.

Schon hatte die Freundin sich niedergelegt und da« Kammermädchen, nachdem sie das Nachtlicht angezündet hatte, wollte eben zu ihrer Gebieterin ins andre Bette steigen, [2-12] als diese scherzend zu ihr sagte: wir sind hier am Ende der Welt und das Wetter ist abscheulich, sollte er uns wohl hier finden können? Im Augenblick ließ er sich hören, stärker und fürchterlicher als jemals. Die Freundin glaubte nicht anders als die Hölle sey im Zimmer, sprang aus dem Bette, lief wie sie war, die Treppe hinunter und rief das ganze Haus zusammen. Niemand that diese Nacht ein Auge zu. Allein es war auch das letztemal daß sich der Ton hören ließ, nur hatte der ungebetene Gast noch eine andere lästigere Weise seine Gegenwart anzuzeigen.

Einige Zeit hatte er Ruhe gehalten als auf einmal Abends zur gewöhnlichen Stunde, da sie mit ihrer Gesellschaft zu Tische saß, ein Schuß, wie aus einer Flinte oder stark geladenen Pistole, zum Fenster herein fiel. Alle hörten den Knall, alle sahen das Feuer, aber bey näherer Untersuchung fand man die Scheibe ohne die mindeste Verletzung. Demohngeachtet nahm die Gesellschaft den Vorfall sehr ernsthaft und alle glaubten, daß man der Schönen nach dem Leben stehe. Man eilt nach der Polizey, man untersucht die benachbarten Häuser und da man nichts verdächtiges findet, stellt man darin den andern Tag Schildwachen von oben bis unten. Man durchsucht genau das Haus worinn sie wohnt, man vertheilt Spione auf der Straße.

Alle diese Vorsicht war vergebens. Drey Monate hinter einander fiel in demselbigen Augenblicke der Schuß durch dieselbe Fensterscheibe, ohne das Glas zu verletzen, und, was merkwürdig war, immer genau eine Stunde vor Mitternacht, da doch gewöhnlich in Neapel nach der [2-13] italienischen Uhr gezählt wird und Mitternacht daselbst eigentlich keine Epoke macht.

Man gewöhnte sich endlich an diese Erscheinung wie an die vorige, und man rechnete dem Geiste seine unschädliche Tücke nicht hoch an. Der Schuß fiel manchmal ohne die Gesellschaft zu erschrecken, oder sie in ihrem Gespräch zu unterbrechen.

Eines Abends, nach einem sehr warmen Tage, öffnete die Schöne, ohne an die Stunde zu denken, das bewußte Fenster und trat mit dem Markese auf den Balkon. Kaum standen sie einige Minuten draussen, als der Schuß zwischen ihnen beyden durchfiel und sie mit Gewalt rückwärts in das Zimmer schleuderte, wo sie ohnmächtig auf den Boden taumelten. Als sie sich wieder erhohlt hatten, fühlte er auf der linken, sie aber auf der rechten Wange den Schmerz einer tüchtigen Ohrfeige und da man sich weiter nicht verletzt fand, gab der Vorfall zu mancherley scherzhaften Bemerkungen Anlaß.

Von der Zeit an ließ sich dieser Schall im Hause nicht wieder hören und sie glaubte nun endlich ganz von ihrem unsichtbaren Verfolger befreyt zu seyn, als auf einem Wege, den sie Abends mit einer Freundin machte, ein unvermuthetes Abentheuer sie nochmals auf das gewaltsamste erschreckte. Ihr Weg ging durch die Chiaia, wo ehemals der geliebte genuesische Freund gewohnt hatte. Es war heller Mondschein. Eine Dame, die bey ihr saß, fragte: ist das nicht das Haus, in welchem der Herr * gestorben ist? Es ist eins von diesen beyden, so viel ich weiß, sagte die Schöne, und in dem Augenblicke fiel aus [2-14] einem dieser beyden Häuser der Schuß und drang durch den Wagen durch. Der Kutscher glaubte angegriffen zu seyn und fuhr mit aller möglichen Geschwindigkeit fort. An dem Orte ihrer Bestimmung hub man die beyden Frauen für todt aus dem Wagen.

Aber dieser Schrecken war auch der letzte. Der unsichtbare Begleiter änderte seine Methode und nach einigen Abenden erklang vor ihren Fenstern ein lautes Händeklatschen. Sie war als beliebte Sängerin und Schauspielerin diesen Schall schon mehr gewohnt. Er hatte an sich nichts schreckliches und man konnte ihn eher einem ihrer Bewunderer zuschreiben. Sie gab wenig darauf acht. Ihre Freunde waren aufmerksamer und stellten, wie das vorigemal, Posten aus. Sie hörten den Schall, sahen aber vor wie nach niemand, und die meisten hofften nun bald auf ein völliges Ende dieser Erscheinungen.

Nach einiger Zeit verlohr sich auch dieser Klang und verwandelte sich in angenehmere Töne. Sie waren zwar nicht eigentlich melodisch, aber unglaublich angenehm und lieblich. Sie schienen den genauesten Beobachtern von der Ecke einer Querstraße her zu kommen, im leeren Luftraume bis unter das Fenster hinzuschweben und dann dort auf das Sanfteste zu verklingen. Es war als wenn ein himmlischer Geist durch ein schönes Präludium aufmerksam auf eine Melodie machen wollte, die er eben vorzutragen im Begriff sey. Auch dieser Ton verschwand endlich und ließ sich nicht mehr hören, nachdem die ganze wunderbare Geschichte etwa anderthalb Jahre gedauert hatte.

Als der Erzähler einen Augenblick inne hielt, fing die [2-15] Gesellschaft an ihre Gedanken und Zweifel über diese Geschichte zu äussern, ob sie wahr sey, ob sie auch wahr seyn könne?

Der Alte behauptete, sie müsse wahr seyn, wenn sie interessant seyn solle: denn für eine erfundene Geschichte habe sie wenig Verdienst. Jemand bemerkte darauf: es scheine sonderbar, daß man sich nicht nach dem abgeschiedenen Freunde und nach den Umständen seines Todes erkundigt, weil doch daraus vielleicht einiges zur Aufklärung der Geschichte hätte genommen werden können.

Auch dieses ist geschehen, versetzte der Alte: ich war selbst neugierig genug gleich nach der ersten Erscheinung in sein Haus zu gehen, und unter einem Vorwand die Dame zu besuchen, welche zuletzt recht mütterlich für ihn gesorgt hatte. Sie erzählte mir, daß ihr Freund eine unglaubliche Leidenschaft gegen das Frauenzimmer gehegt habe, daß er die letzte Zeit seines Lebens fast allein von ihr gesprochen und sie bald als einen Engel, bald als einen Teufel vorgestellt habe.

Als seine Krankheit überhand genommen, habe er nichts gewünscht als sie vor seinem Ende noch einmal zu sehen, wahrscheinlich in der Hoffnung nur noch eine zärtliche Aeusserung, eine Reue oder sonst irgend ein Zeichen der Liebe und Freundschaft von ihr zu erzwingen. Desto schrecklicher sey ihm ihre anhaltende Weigerung gewesen und sichtbar habe die letzte entscheidende abschlägliche Antwort sein Ende beschleunigt. Verzweiflend habe er ausgerufen: nein, es soll ihr nichts helfen! Sie vermeidet mich; aber auch nach meinem Tod soll sie keine Ruhe vor mir haben. [2-16] Mit dieser Heftigkeit verschied er und nur zu sehr mußten wir erfahren, daß man auch jenseit des Grabes Wort halten könne.

Die Gesellschaft fing aufs neue an über die Geschichte zu meynen und zu urtheilen. Zuletzt sagte der Bruder Fritz: ich habe einen Verdacht, den ich aber nicht eher äussern will, als bis ich nochmals alle Umstände in mein Gedächtniß zurück gerufen und meine Combinationen besser geprüft habe.

Als man lebhafter in ihn drang, suchte er einer Antwort dadurch auszuweichen, daß er sich erbot, gleichfalls eine Geschichte zu erzählen, die zwar der vorigen an Interesse nicht gleiche, aber doch auch von der Art sey, daß man sie niemals mit völliger Gewißheit habe erklären können.

Bey einem wackern Edelmann, meinem Freunde, der ein altes Schloß mit einer starken Familie bewohnte, war eine Waise erzogen worden, die, als sie herangewachsen und vierzehn Jahr alt war, meist um die Dame vom Hause sich beschäftigte und die nächsten Dienste ihrer Person verrichtete. Man war mit ihr wohl zufrieden und sie schien nichts weiter zu wünschen, als durch Aufmerksamkeit und Treue ihren Wohlthätern dankbar zu seyn. Sie war wohlgebildet und es fanden sich einige Freyer um sie ein. Man glaubte nicht, daß eine dieser Verbindungen zu ihrem Glück gereichen würde, und sie zeigte auch nicht das mindeste Verlangen ihren Zustand zu ändern.

Auf einmal begab sich’s, daß man, wenn das Mädchen in dem Hause Geschäfts halber herumging, unter ihr, [2-17] hier und da, pochen hörte. Anfangs schien es zufällig, aber da das Klopfen nicht aufhörte und beynahe jeden ihrer Schritte bezeichnete, ward sie ängstlich und traute sich kaum aus dem Zimmer der gnädigen Frau heraus zu gehen, als in welchem sie allein Ruhe hatte.

Dieses Pochen ward von jedermann vernommen, der mit ihr ging oder nicht weit von ihr stand. Anfangs scherzte man darüber, endlich aber fing die Sache an unangenehm zu werden. Der Herr vom Hause, der von einem lebhaften Geist war, untersuchte nun selbst die Umstände. Man hörte das Pochen nicht eher, als bis das Mädchen ging, und nicht sowohl indem sie den Fuß aufsetzte, als indem sie ihn zum Weiterschreiten aufhob. Doch fielen die Schläge manchmal unregelmäßig und besonders waren sie sehr stark wenn sie quer über einen großen Saal den Weg nahm.

Der Hausvater hatte eines Tages Handwerksleute in der Nähe und ließ, da das Pochen am heftigsten war, gleich hinter ihr die Dielen aufreissen. Es fand sich nichts, ausser daß bey dieser Gelegenheit ein paar grosse Ratten zum Vorschein kamen, deren Jagd viel Lerm im Hause verursachte.

Entrüstet über diese Begebenheit und Verwirrung griff der Hausherr zu einem strengen Mittel, nahm seine gröste Hetzpeitsche von der Wand und schwur, daß er das Mädchen bis auf den Tod prügeln wolle, wenn sich noch ein einzigmal das Pochen hören liesse. Von der Zeit an ging sie ohne Anfechtung im ganzen Hause herum, und man vernahm von dem Pochen nichts weiter. [2-18] Woraus man denn deutlich sieht, fiel Luise ein, daß das schöne Kind sein eignes Gespenst war und aus irgend einer Ursache sich diesen Spaß gemacht und seine Herrschaft zum Besten gehabt hatte.

Keinesweges, versetzte Fritz: denn diejenigen, welche diese Wirkung einem Geiste zuschrieben, glaubten, ein Schutzgeist wolle zwar das Mädchen aus dem Hause haben, aber ihr doch kein Leids zufügen lassen. Andere nahmen es näher und hielten dafür, daß einer ihrer Liebhaber die Wissenschaft oder das Geschick gehabt habe, diese Töne zu erregen, um das Mädchen aus dem Hause in seine Arme zu nöthigen. Dem sey wie ihm wolle, das gute Kind zehrte sich über diesen Vorfall beynah völlig ab, und schien einem traurigen Geiste gleich, da sie vorher frisch, munter und die Heiterste im ganzen Hause gewesen. Aber auch eine solche körperliche Abnahme läßt sich auf mehr als eine Weise deuten.

Es ist Schade, versetzte Karl, daß man solche Vorfälle nicht genau untersucht, und daß man bey Beurtheilung der Begebenheiten, die uns so sehr interessiren, immer zwischen verschiedenen Wahrscheinlichkeiten schwanken muß, weil die Umstände, unter welchen solche Wunder geschehen, nicht alle bemerkt sind.

Wenn es nur nicht überhaupt so schwer wäre zu untersuchen, sagte der Alte, und in dem Augenblicke, wo etwas dergleichen begegnet, die Punkte und Momente alle gegenwärtig zu haben, worauf es eigentlich ankommt, damit man nichts entwischen lasse, worin Betrug und Irrthum sich verstecken könne. Vermag man denn einem Taschenspieler [2-19] so leicht auf die Sprünge zu kommen, von dem wir doch wissen, daß er uns zum Besten hat?

Kaum hatte er ausgeredet, als in der Ecke des Zimmers auf einmal ein sehr starker Knall sich hören ließ. Alle fuhren auf und Karl sagte scherzend: es wird sich doch kein sterbender Liebhaber hören lassen.

Er hätte gewünscht seine Worte wieder zurück zu nehmen, denn Luise ward bleich und gestand, daß sie für das Leben ihres Bräutigams zittere.

Fritz, um sie zu zerstreuen, nahm das Licht und ging nach dem Schreibtische, der in der Ecke stand. Die gewölbte Decke desselben war quer völlig durchgerissen; man hatte also die Ursache des Klanges; aber demohngeachtet fiel es ihnen auf, daß dieser Schreibtisch von Rautchens bester Arbeit, der schon mehrere Jahre an demselben Platze stand, in diesem Augenblicke zufällig gerissen seyn sollte. Man hatte ihn oft als ein Muster einer vortrefflichen und dauerhaften Tischlerarbeit gerühmt und vorgezeigt, und nun sollte er auf einmal reissen, ohne daß in der Luft die mindeste Veränderung zu spüren war.

Geschwind, sagte Karl, laßt uns zuerst diesen Umstand berichtigen und nach dem Barometer sehen.

Das Quecksilber hatte seinen Stand vollkommen, wie seit einigen Tagen, das Thermometer selbst war nicht mehr gefallen, als die Veränderung von Tag auf Nacht natürlich mit sich brachte.

Schade, daß wir nicht einen Hygrometer bey der Hand [2-20] haben, rief er aus: gerade das Instrument wäre das nöthigste!

Es scheint, sagte der Alte, daß uns immer die nöthigsten Instrumente abgehen, wenn wir Versuche auf Geister anstellen wollen.

Sie wurden in ihren Betrachtungen durch einen Bedienten unterbrochen, der mit Hast herein kam und meldete, daß man ein starkes Feuer am Himmel sehe, man könne aber nicht wissen, ob es in der Stadt oder in der Gegend sey.

Da man durch das Vorhergehende schon empfänglicher für den Schrecken geworden war, so wurden alle mehr, als es vielleicht sonst geschehen seyn würde, von der Nachricht betroffen. Fritz eilte auf das Belvedere des Hauses, wo auf einer grossen horizontalen Scheibe die Karte des Landes ausführlich gezeichnet war, durch deren Hülfe man auch bey Nacht die verschiedenen Lagen der Orte ziemlich genau bestimmen konnte. Die andern blieben, nicht ohne Sorgen und Bewegung, bey einander.

Fritz kam zurück und sagte: ich bringe keine gute Nachricht. Denn höchst wahrscheinlich ist der Brand nicht in der Stadt, sondern auf dem Guthe unsrer Tante. Ich kenne die Richtung sehr genau und fürchte mich nicht zu irren. Man bedaurte die schönen Gebäude und überrechnete den Verlust. Indessen, sagte Fritz, ist mir ein wunderlicher Gedanke eingekommen, der uns wenigstens über das sonderbare Anzeichen des Schreibtisches beruhigen kann. Vor allen Dingen wollen wir die Minute berichtigen, in [2-21] der wir den Klang gehört haben. Sie rechneten zurück und es konnte etwa halb Zwölfe gewesen seyn.

Nun, ihr mögt lachen oder nicht, fuhr Fritz fort, will ich euch meine Muthmaßung erzählen. Ihr wißt, daß unsre Mutter schon vor mehreren Jahren einen ähnlichen, ja man möchte sagen einen gleichen Schreibtisch an unsre Tante geschenkt hat. Beyde waren zu Einer Zeit aus Einem Holze mit der größten Sorgfalt von Einem Meister verfertigt, beyde haben sich bisher trefflich gehalten und ich wollte wetten, daß in dem Augenblicke mit dem Lusthause unsrer Tante der zweyte Schreibtisch verbrennt, und daß sein Zwillingsbruder auch davon leidet. Ich will mich morgen selbst aufmachen und dieses seltsame Factum so gut als möglich zu berichtigen suchen.

Ob Friedrich wirklich diese Meynung hegte, oder ob der Wunsch, seine Schwester zu beruhigen, ihm zu diesem Einfall geholfen, wollen wir nicht entscheiden, genug sie ergriffen die Gelegenheit über manche unleugbare Sympathien zu sprechen und fanden am Ende eine Sympathie zwischen Hölzern die auf Einem Stamm erzeugt worden, zwischen Werken die Ein Künstler verfertigt, noch ziemlich wahrscheinlich. Ja sie wurden einig, dergleichen Phänomene eben so gut für Naturphänomene gelten zu lassen, als andre, welche sich öfter wiederhohlen, die wir mit Händen greifen und doch nicht erklären können.

Ueberhaupt, sagte Karl: scheint mir: daß jedes Phänomen, so wie jedes Factum an sich eigentlich das Interessante sey. Wer es erklärt oder mit andern Begebenheiten zusammenhängt, macht sich gewöhnlich eigentlich [2-22] nur einen Spaß, und hat uns zum besten, wie z. B. der Naturforscher und Historienschreiber. Aber eine einzelne Handlung oder Begebenheit ist interessant, nicht weil sie erklärbar oder wahrscheinlich, sondern weil sie wahr ist. Wenn gegen Mitternacht die Flamme den Schreibtisch der Tante verzehrt hat, so ist das sonderbare Reissen des unsern zu gleicher Zeit für uns eine wahre Begebenheit, sie mag übrigens erklärbar seyn und zusammenhängen mit was sie will.

So tief es auch schon in der Nacht war, fühlte niemand eine Neigung zu Bette zu gehen und Karl erbot sich gleichfalls eine Geschichte zu erzählen, die nicht minder interessant sey, ob sie sich gleich vielleicht eher erklären und begreiffen lasse, als die vorigen.

Der Marschall von Bassompierre, sagte er, erzählt sie in seinen Memoiren; es sey mir erlaubt in seinem Namen zu reden.

Seit fünf oder sechs Monaten hatte ich bemerkt, so oft ich über die kleine Brücke ging, (denn zu der Zeit war der Pont neuf noch nicht gebaut) daß eine schöne Krämerin, deren Laden an einem Schilde mit zwey Engeln kenntlich war, sich tief und wiederhohlt vor mir neigte und mir so weit nachsah, als sie nur konnte. Ihr Betragen fiel mir auf, ich sah sie gleichfalls an und dankte ihr sorgfältig. Einst ritt ich von Fontainebleau nach Paris, und als ich wieder die kleine Brücke herauf kam, trat sie an ihre Ladenthüre und sagte zu mir, indem ich vorbeyritt: mein Herr, Ihre Dienerin! Ich erwiederte ihren Gruß und indem ich mich von Zeit zu Zeit umsah, hatte sie [2-23] sich weiter vorgelehnt, um mir so weit als möglich nachzusehen.

Ein Bedienter nebst einem Postillon folgten mir, die ich noch diesen Abend mit Briefen an einige Damen nach Fontainebleau zurück schicken wollte. Auf meinen Befehl stieg der Bediente ab und ging zu der jungen Frau ihr in meinem Namen zu sagen, daß ich ihre Neigung mich zu sehen und zu grüßen bemerkt hätte, ich wollte, wenn sie wünschte mich näher kennen zu lernen, sie aufsuchen, wo sie verlangte.

Sie antwortete dem Bedienten: er hätte ihr keine bessere Neuigkeit bringen können, sie wolle kommen, wohin ich sie bestellte, nur mit der Bedingung, daß sie eine Nacht mit mir unter Einer Decke zubringen dürfte.

Ich nahm den Vorschlag an und fragte den Bedienten, ob er nicht etwa einen Ort kenne, wo wir zusammen kommen könnten? Er antwortete, daß er sie zu einer gewissen Kupplerin führen wollte; rathe mir aber, weil die Pest sich hier und da zeige, Matratzen, Decken und Leintücher aus meinem Hause hinbringen zu lassen. Ich nahm den Vorschlag an und er versprach mir ein gutes Bett zu bereiten.

Des Abends ging ich hin und fand eine sehr schöne Frau von ohngefähr zwanzig Jahren, mit einer zierlichen Nachtmütze, einem sehr feinen Hemde, einem kurzen Unterrocke von grün wollenem Zeuge. Sie hatte Pantoffeln an den Füßen und eine Art von Pudermantel übergeworfen. Sie gefiel mir ausserordentlich, und da ich mir einige [2-24] Freyheiten herausnehmen wollte, lehnte sie meine Liebkosungen mit sehr guter Art ab und verlangte mit mir zwischen zwey Leintüchern zu seyn. Ich erfüllte ihr Begehren und kann sagen, daß ich niemals ein zierlicheres Weib gekannt, noch von irgend einer mehr Vergnügen genossen hätte. Den andern Morgen fragte ich sie: ob ich sie nicht noch einmal sehen könnte, ich verreise erst Sonntag, und wir hatten die Nacht vom Donnerstag auf den Freytag mit einander zugebracht.

Sie antwortete mir: daß sie es gewiß lebhafter wünsche als ich, wenn ich aber nicht den ganzen Sonntag bliebe, sey es ihr unmöglich, denn nur in der Nacht vom Sonntag auf den Montag könne sie mich wieder sehen. Als ich einige Schwierigkeiten machte, sagte sie: Ihr seyd wohl meiner in diesem Augenblicke schon überdrüßig und wollt nun Sonntags verreisen; aber Ihr werdet bald wieder an mich denken und gewiß noch einen Tag zugeben, um eine Nacht mit mir zuzubringen.

Ich war leicht zu überreden, versprach ihr den Sonntag zu bleiben und die Nacht auf den Montag mich wieder an dem nemlichen Orte einzufinden. Darauf antwortete sie mir: ich weiß recht gut, mein Herr, daß ich in ein schändliches Haus um Ihrentwillen gekommen bin; aber ich habe es freywillig gethan, und ich hatte ein so unüberwindliches Verlangen mit Ihnen zu seyn, daß ich jede Bedingung eingegangen wäre. Aus Leidenschaft bin ich an diesen abscheulichen Ort gekommen, aber ich würde mich für eine feile Dirne halten, wenn ich zum zweytenmal dahin zurückkehren könnte. Möge ich eines elenden Todes sterben, wenn ich außer meinem Mann und Euch [2-25] irgend jemand zu Willen gewesen bin, und nach irgend einem andern verlange. Aber was thäte man nicht für eine Person, die man liebt und für einen Bassompierre? Um seinetwillen bin ich in das Haus gekommen, um eines Mannes willen, der durch seine Gegenwart diesen Ort ehrbar gemacht hat. Wollt Ihr mich noch einmal sehen, so will ich Euch bey meiner Tante einlassen.

Sie beschrieb mir das Haus aufs genaueste und fuhr fort: ich will Euch von zehn Uhr bis Mitternacht erwarten, ja noch später, die Thüre soll offen seyn. Erst findet Ihr einen kleinen Gang, in dem haltet Euch nicht auf, denn die Thüre meiner Tante geht da heraus. Dann stößt euch eine Treppe sogleich entgegen, die Euch ins erste Geschoß führt, wo ich Euch mit offnen Armen empfangen werde.

Ich machte meine Einrichtung, ließ meine Leute und meine Sachen vorausgehen und erwartete mit Ungeduld die Sonntags Nacht, in der ich das schöne Weibchen wieder sehen sollte. Um zehn Uhr war ich schon am bestimmten Orte. Ich fand die Thüre, die sie mir bezeichnet hatte, sogleich, aber verschlossen und im ganzen Hause Licht, das sogar von Zeit zu Zeit wie eine Flamme aufzulodern schien. Ungeduldig fing ich an zu klopfen, um meine Ankunft zu melden; aber ich hörte eine Mannsstimme, die mich fragte, wer draußen sey?

Ich ging zurück und einige Straßen auf und ab. Endlich zog mich das Verlangen wieder nach der Thüre. Ich fand sie offen und eilte durch den Gang die Treppe hinauf. Aber wie erstaunt war ich, als ich in dem Zimmer [2-26] ein paar Leute fand, welche Bettstroh verbrannten und bey der Flamme, die das ganze Zimmer erleuchtete, zwey nackte Körper auf dem Tische ausgestreckt sahe. Ich zog mich eilig zurück und stieß im Hinausgehen auf ein paar Todtengräber, die mich fragten, was ich suchte? Ich zog den Degen, um sie mir vom Leibe zu halten und kam nicht unbewegt von diesem seltsamen Anblick nach Hause. Ich trank sogleich drei bis vier Gläser Wein, ein Mittel gegen die pestilenzialischen Einflüsse, das man in Deutschland sehr bewährt hält, und trat, nachdem ich ausgeruhet, den andern Tag meine Reise nach Lothringen an.

Alle Mühe, die ich mir nach meiner Rückkunft gegeben, irgend etwas von dieser Frau zu erfahren, war vergeblich. Ich ging sogar nach dem Laden der zwey Engel; allein die Miethleute wußten nicht, wer vor ihnen darin gesessen hatte.

Dieses Abentheuer begegnete mir mit einer Person vom geringen Stande, aber ich versichere, daß ohne den unangenehmen Ausgang es eins der reizendsten gewesen wäre, deren ich mich erinnere, und daß ich niemals ohne Sehnsucht an das schöne Weibchen habe denken können.

Auch dieses Räthsel, versetzte Fritz, ist so leicht nicht zu lösen. Denn es bleibt zweifelhaft, ob das artige Weibchen in dem Hause mit an der Pest gestorben, oder ob sie es nur dieses Umstands wegen vermieden habe.

Hätte sie gelebt, versetzte Karl, so hatte sie ihren Geliebten gewiß auf der Gasse erwartet, und keine Gefahr [2-27] hätte sie abgehalten, ihn wieder aufzusuchen. Ich fürchte immer sie hat mit auf dem Tische gelegen.

Schweigt, sagte Luise: die Geschichte ist gar zu schrecklich! Was wird das für eine Nacht werden, wenn wir uns mit solchen Bildern zu Bette legen.

Es fällt mir noch eine Geschichte ein, sagte Karl, die artiger ist und die Bassompierre von einem seiner Vorfahren erzählt.

Eine schöne Frau, die den Anherrn ausserordentlich liebte, besuchte ihn alle Montage auf seinem Sommerhause, wo er die Nacht mit ihr zubrachte, indem er seine Frau glauben ließ, daß er diese Zeit zu einer Jagdparthie bestimmt habe.

Zwey Jahre hatten sie sich ununterbrochen auf diese Weise gesehen, als seine Frau einigen Verdacht schöpfte, sich eines Morgens nach dem Sommerhause schlich und ihren Gemahl mit der Schönen im tiefen Schlafe antraf. Sie hatte weder Muth noch Willen sie aufzuwecken, nahm aber ihren Schleyer vom Kopfe und deckte ihn über die Füße der Schlafenden.

Als das Frauenzimmer erwachte und den Schleyer erblickte, that sie einen hellen Schrey, brach in laute Klage aus und jammerte, daß sie ihren Geliebten nicht mehr wieder sehen, ja daß sie sich ihm auf hundert Meilen nicht nähern dürfe. Sie verließ ihn, nachdem sie ihm drey Geschenke, ein kleines Fruchtmaaß, einen Ring und einen Becher für seine drey rechtmäßigen Töchter verehrt und [2-28] ihm die größte Sorgfalt für diese Gaben anbefohlen hatte. Man hub sie sorgfältig auf und die Abkömmlinge dieser drey Töchter glaubten die Ursache manches glücklichen Ereignisses in dem Besitz dieser Gabe zu finden.

Das sieht nun schon eher dem Mährchen der schönen Melusine und andern dergleichen Feengeschichten ähnlich, sagte Luise.

Und doch hat sich eine solche Tradition, versetzte Friedrich: und ein ähnlicher Talismann in unserm Hause erhalten.

Wie wäre denn das? fragte Karl.

Es ist ein Geheimniß, versetzte jener: nur der älteste Sohn darf es allenfalls bey Lebzeiten des Vaters erfahren, und nach seinem Tode das Kleinod besitzen.

Du hast es also in Verwahrung? fragte Luise.

Ich habe wohl schon zu viel gesagt, versetzte Friedrich, indem er das Licht anzündete, um sich hinweg zu begeben.

[4-41]
Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten.
Fortsetzung.

Die Familie hatte zusammen, wie gewöhnlich, das Frühstück eingenommen und die Baronesse saß wieder an ihrem Stickrahmen. Nach einem kurzen allgemeinen Stillschweigen begann der geistliche Hausfreund mit einigem Lächeln: es ist zwar selten, daß Sänger, Dichter und Erzähler, die eine Gesellschaft zu unterhalten versprechen, es zur rechten Zeit thun, vielmehr lassen sie sich gewöhnlich, wo sie willig seyn sollten, sehr dringend bitten, und sind zudringlich, wenn man ihren Vortrag gern ablehnen möchte. Ich hoffe daher eine Ausnahme zu machen, wenn ich anfrage, ob Ihnen in diesem Augenblicke gelegen sey irgend eine Geschichte anzuhören?

Recht gerne, versetzte die Baronesse, und ich glaube es werden alle übrige mit mir übereinstimmen. Doch wenn Sie uns eine Geschichte zur Probe geben wollen, so muß ich Ihnen sagen, welche Art ich nicht liebe. Jene Erzählungen machen mir keine Freude, bey welchen, nach Weise der Tausend und Einen Nacht, Eine Begebenheit in die andere eingeschachtelt, Ein Interesse durch das andere verdrängt wird. Wo sich der Erzähler genöthigt sieht, die Neugierde, die er auf eine leichtsinnige Weise erregt hat, durch Unterbrechung zu reitzen, und die Aufmerksamkeit, [4-42] anstatt sie durch eine vernünftige Folge zu befriedigen, nur durch seltsame und keineswegs lobenswürdige Kunstgriffe aufzuspannen. Ich tadle das Bestreben, aus Geschichten, die sich der Einheit des Gedichts nähern sollen, rhapsodische Räthsel zu machen und den Geschmack immer tiefer zu verderben. Die Gegenstände Ihrer Erzählungen gebe ich Ihnen ganz frey, aber lassen Sie uns wenigstens an der Form sehen, daß wir in guter Gesellschaft sind. Geben Sie uns zum Anfang eine Geschichte von wenig Personen und Begebenheiten, die gut erfunden und gedacht sey, wahr, natürlich und nicht gemein, so viel Handlung als unentbehrlich und so viel Gesinnung als nöthig ist, die nicht still stehe, sich nicht auf Einem Flecke zu langsam bewege, sich aber auch nicht übereile, in der die Menschen erscheinen wie man sie gern mag, nicht vollkommen, aber gut, nicht außerordentlich, aber interessant und liebenswürdig. Ihre Geschichte sey unterhaltend, so lange wir sie hören, befriedigend wenn sie zu Ende ist und hinterlasse uns einen stillen Reitz weiter nachzudenken.

Kennte ich Sie nicht besser, gnädige Frau, versetzte der Geistliche, so würde ich glauben, Ihre Absicht sey mein Waarenlager, noch eh’ ich irgend etwas davon ausgekramt habe, durch diese hohen und strengen Forderungen völlig in Mißkredit zu setzen. Wie selten möchte man Ihnen nach Ihrem Maßstab Genüge leisten können. Selbst in diesem Augenblicke, fuhr er fort, als er ein wenig nachgedacht, nöthigen Sie mich die Erzählung die ich im Sinne hatte, zurück zu stellen und auf eine andere Zeit zu verlegen, und ich weiß wirklich nicht, ob ich mich in der Eile vergreife, wenn ich eine alte Geschichte, an die ich aber immer mit [4-43] einiger Vorliebe gedacht habe, sogleich aus dem Stegreife vorzutragen anfange.

In einer italiänischen Seestadt lebte vor Zeiten ein Handelsmann, der sich von Jugend auf durch Thätigkeit und Klugheit auszeichnete. Er war dabey ein guter Seemann und hatte grosse Reichthümer erworben, indem er selbst nach Alexandria zu schiffen, kostbare Waaren zu erkaufen oder einzutauschen pflegte, die er alsdann zu Hause wieder abzusetzen oder in die nördlichen Gegenden Europens zu versenden wußte. Sein Vermögen wuchs von Jahr zu Jahr um so mehr, als er in seiner Geschäftigkeit selbst das größte Vergnügen fand, und ihm keine Zeit zu kostspieligen Zerstreuungen übrig blieb.

Bis in sein funfzigstes Jahr hatte er sich auf diese Weise emsig fortbeschäftigt und ihm war von den geselligen Vergnügungen wenig bekannt worden, mit welchen ruhige Bürger ihr Leben zu würzen verstehen; eben so wenig hatte das schöne Geschlecht, bey allen Vorzügen seiner Landsmänninnen, seine Aufmerksamkeit nicht weiter erregt, als insofern er ihre Begierde nach Schmuck und Kostbarkeiten sehr wohl kannte, und sie gelegentlich zu nutzen wußte.

Wie wenig versah er sich daher auf die Veränderung, die in seinem Gemüthe vorgehen sollte, als eines Tags sein reich beladen Schiff in dem Hafen seiner Vaterstadt einlief, eben an einem jährlichen Feste, das besonders der Kinder wegen gefeyert wurde. Knaben und Mädchen pflegten nach dem Gottesdienste in allerley Verkleidungen sich zu zeigen, bald in Prozessionen, bald in Schaaren [4-44] durch die Stadt zu scherzen, und sodann im Felde auf einem großen freyen Platz allerhand Spiele zu treiben, Kunststücke und Geschicklichkeiten zu zeigen, und in artigem Wettstreit ausgesetzte kleine Preise zu gewinnen.

Anfangs wohnte unser Seemann dieser Feyer mit Vergnügen bey; als er aber die Lebenslust der Kinder und die Freude der Eltern daran lange betrachtet und so viele Menschen im Genuß einer gegenwärtigen Freude und der angenehmsten aller Hoffnungen gefunden hatte, mußte ihm, bey einer Rückkehr auf sich selbst, sein einsamer Zustand äußerst auffallen. Sein leeres Haus fing zum erstenmal an, ihm ängstlich zu werden, und er klagte sich selbst in seinen Gedanken an.

O ich Unglückseliger! warum gehn mir so spät die Augen auf? Warum erkenne ich erst im Alter jene Güter, die allein den Menschen glücklich machen. So viel Mühe! so viele Gefahren! was haben sie mir verschafft? Sind gleich meine Gewölbe voller Waaren, meine Kisten voll edler Metalle, und meine Schränke voll Schmuck und Kleinodien; so können doch diese Güter mein Gemüth weder erheitern noch befriedigen. Je mehr ich sie aufhäufe, desto mehr Gesellen scheinen sie zu verlangen; Ein Kleinod fordert das andere, Ein Goldstück das andere. – Sie erkennen mich nicht für den Hausherrn; sie rufen mir ungestum zu: geh und eile, schaffe noch mehr unsresgleichen herbey! Gold erfreut sich nur des Goldes, das Kleinod des Kleinods: So gebieten sie mir schon die ganze Zeit meines Lebens, und erst spät fühle ich, daß mir in allem diesen kein Genuß bereitet ist. Leider jetzt, da die Jahre kommen, fange ich an zu denken und sage zu mir: du [4-45] genießest diese Schätze nicht, und niemand wird sie nach dir genießen! Hast du jemals eine geliebte Frau damit geschmückt? hast du eine Tochter damit ausgestattet? hast du einen Sohn in den Stand gesetzt, sich die Neigung eines guten Mädchens zu gewinnen und zu befestigen? Niemals! Von allen deinen Besitzthümern hast du, hat niemand der Deinigen etwas besessen, und was du mühsam zusammengebracht hast, wird nach deinem Tode ein Fremder leichtfertig verprassen.

O wie anders werden heute Abend jene glückliche Eltern ihre Kinder um den Tisch versammlen, ihre Geschicklichkeit preißen, und sie zu guten Thaten aufmuntern! Welche Lust glänzte aus ihren Augen, und welche Hoffnung schien aus dem Gegenwärtigen zu entspringen. Solltest du denn aber selbst gar keine Hoffnung fassen können? Bist du denn schon ein Greis? ist es nicht genug, die Versäumniß einzusehen, jetzt, da noch nicht aller Tage Abend gekommen ist. Nein in deinem Alter ist es noch nicht thörigt, ans Freyen zu denken, mit deinen Gütern wirst du ein braves Weib erwerben und glücklich machen, und siehst du noch Kinder in deinem Hause, so werden dir diese späten Früchte den größten Genuß geben, anstatt daß sie oft denen, die sie zu früh vom Himmel erhalten, zur Last werden und zur Verwirrung gereichen.

Als er durch dieses Selbstgespräch seinen Vorsatz bey sich befestigt hatte, rief er zwey Schiffsgesellen zu sich und eröffnete ihnen seine Gedanken. Sie, die gewohnt waren, in allen Fällen willig und bereit zu seyn, fehlten auch dießmal nicht, und eilten, sich in der Stadt nach den jüngsten und schönsten Mädchen zu erkundigen, denn ihr [4-46] Patron, da er einmal nach dieser Waare lüstern ward, sollte auch die beste finden und besitzen.

Er selbst feyerte so wenig, als seine Abgesandten. Er gieng, fragte, sah und hörte, und fand bald, was er suchte in einem Frauenzimmer, das in diesem Augenblick das Schönste der ganzen Stadt genannt zu werden verdiente, ohngefähr sechszehn Jahr alt, wohlgebildet und gut erzogen, deren Gestalt und Wesen das Angenehmste zeigte, und das Beste versprach.

Nach einer kurzen Unterhandlung, durch welche der vortheilhafteste Zustand, sowohl bey Lebzeiten als nach dem Tode des Mannes, der Schönen versichert war, vollzog man die Heirath mit großer Pracht und Lust, und von diesem Tage an fühlte sich unser Handelsmann zum erstenmal im wirklichen Besitz und Genuß seiner Reichthümer. Nun verwandte er mit Freuden die schönsten und reichsten Stoffe zur Bekleidung des schönen Körpers, die Juwelen glänzten ganz anders an der Brust und in den Haaren seiner Geliebten, als ehemals im Schmuckkästchen, und die Ringe erhielten einen unendlichen Werth von der Hand, die sie trug.

So fühlte er sich nicht allein so reich, sondern reicher als bisher, indem seine Güter sich durch Theilnehmung und Anwendung zu vermehren schienen. Auf diese Weise lebte das Paar fast ein Jahr lang in der größten Zufriedenheit, und er schien seine Liebe zu einem thätigen und herumstreifenden Leben gegen das Gefühl häuslicher Glückseligkeit gänzlich vertauscht zu haben. Aber eine alte Gewohnheit legt sich so leicht nicht ab, und eine Richtung, [4-47] die wir früh genommen, kann wohl einige Zeit abgelenkt, aber nie ganz unterbrochen werden.

So hatte auch unser Handelsmann oft, wenn er andere sich einschiffen oder glücklich in den Hafen zurückkehren sah, wieder die Regungen seiner alten Leidenschaft gefühlt, ja er hatte selbst in seinem Hause, an der Seite seiner Gattin, manchmal Unruhe und Unzufriedenheit empfunden. Dieses Verlangen vermehrte sich mit der Zeit und verwandelte sich zuletzt in eine solche Sehnsucht, daß er sich äußerst unglücklich fühlen mußte, und er zuletzt wirklich krank ward.

Was soll nun aus dir werden? sagte er zu sich selbst, du erfährst nun wir thörigt es ist in späten Jahren eine alte Lebensweise gegen eine neue vertauschen zu wollen. Wie sollen wir das, was wir immer getrieben und gesucht haben, aus unsern Gedanken, ja aus unsern Gliedern wieder heraus bringen, und wie geht es mir nun? der ich bisher wie ein Fisch das Wasser, wie ein Vogel die freye Luft geliebt, da ich mich in einem Gebäude bey allen Schätzen und bey der Blume aller Reichthümer, bey einer schönen jungen Frau eingesperrt habe? Anstatt daß ich dadurch hoffte Zufriedenheit zu gewinnen und meiner Güter zu genießen, so scheint es mir daß ich alles verliere, indem ich nichts weiter erwerbe. Mit Unrecht hält man die Menschen für Thoren, welche in rastloser Thätigkeit Güter auf Güter zu häufen suchen; denn die Thätigkeit ist das Glück, und für den der die Freuden eines ununterbrochnen Bestrebens empfinden kann, ist der erworbene Reichthum ohne Bedeutung. Aus Mangel von Beschäftigung werde ich elend, aus Mangel von Bewegung krank, [4-48] und wenn ich keinen andern Entschluß fasse, so bin ich in kurzer Zeit dem Tode nahe.

Freylich ist es ein gewagtes Unternehmen, sich von einer jungen liebenswürdigen Frau zu entfernen. Ist es billig um ein reitzendes und reitzbares Mädchen zu freyen und sie nach einer kurzen Zeit sich selbst, der langen Weile, ihren Empfindungen und Begierden zu überlassen? Spatzieren diese jungen seidnen Herren nicht schon jetzt vor meinen Fenstern auf und ab? Suchen sie nicht schon jetzt, in der Kirche und in Gärten, die Aufmerksamkeit meines Weibchens an sich zu ziehen? und was wird erst geschehen, wenn ich weg bin? Soll ich glauben, daß mein Weib durch ein Wunder gerettet werden könnte? Nein, in ihrem Alter, bey ihrer Konstitution wäre es thörigt zu hoffen, daß sie sich der Freuden der Liebe enthalten könnte? Entfernst du dich, so wirst du bey deiner Rückkunft die Neigung deines Weibes, und ihre Treue zugleich mit der Ehre deines Hauses verlohren haben.

Diese Betrachtungen und Zweifel, mit denen er sich eine Zeitlang quälte, verschlimmerten den Zustand, in dem er sich befand, aufs äußerste. Seine Frau, seine Verwandten und Freunde betrübten sich um ihn, ohne daß sie die Ursache seiner Krankheit hätten entdecken können. Endlich ging er nochmals bey sich zu Rathe und rief nach einiger Ueberlegung aus: Thörigter Mensch! du läßt es dir so sauer werden, ein Weib zu bewahren, das du doch bald, wenn dein Uebel fortdauert, sterbend hinter dir und einem andern lassen mußt. Ist es nicht wenigstens klüger und besser, du suchst das Leben zu erhalten, wenn du gleich in Gefahr kommst, an ihr dasjenige zu verlieren, was als [4-49] das höchste Gut der Frauen geschätzt wird. Wie mancher Mann kann durch seine Gegenwart den Verlust dieses Schatzes nicht hindern, und vermißt gedultig, was er nicht erhalten kann. Warum solltest du nicht Muth haben, dich eines solchen Gutes zu entschlagen, da von diesem Entschlusse dein Leben abhängt.

Mit diesen Worten ermannte er sich und ließ seine Schiffsgesellen rufen. Er trug ihnen auf nach gewohnter Weise ein Fahrzeug zu befrachten, und alles bereit zu halten, daß sie bey dem ersten günstigen Winde auslaufen könnten. Darauf erklärte er sich gegen seine Frau folgendermaßen:

Laß dich nicht befremden, wenn du in dem Hause eine Bewegung siehst, woraus du schließen kannst, daß ich mich zu einer Abreise anschicke; betrübe dich nicht, wenn ich dir gestehe, daß ich abermals eine Seefahrt zu unternehmen gedenke. Meine Liebe zu dir ist noch immer dieselbe, und sie wird es gewiß in meinem ganzen Leben bleiben. Ich erkenne den Werth des Glücks, das ich bisher an Deiner Seite genoß, und würde ihn noch reiner fühlen, wenn ich mir nicht oft Vorwürfe der Unthätigkeit und Nachlässigkeit im Stillen machen müßte. Meine alte Neigung wacht wieder auf und meine alte Gewohnheit zieht mich wieder an. Erlaube mir, daß ich den Markt von Alexandrien wieder sehe, den ich jetzt mit größerem Eifer besuchen werde, weil ich dort die köstlichsten Stoffe und die edelsten Kostbarkeiten für Dich zu gewinnen denke. Ich lasse Dich im Besitz aller meiner Güter und meines ganzen Vermögens, bediene Dich dessen und vergnüge Dich mit deinen Eltern und Verwandten. [4-50] Die Zeit der Abwesenheit geht auch vorüber, und mit vielfacher Freude werden wir uns wieder sehen.

Nicht ohne Thränen machte ihm die liebenswürdige Frau die zärtlichsten Vorwürfe, versicherte: daß sie ohne ihn keine fröhliche Stunde hinbringen werde, und bat ihn nur, da sie ihn weder halten könne noch einschränken wolle, daß er ihrer auch in der Abwesenheit zum Besten gedenken möge.

Nachdem er darauf verschiedenes mit ihr über einige Geschäfte und häusliche Angelegenheiten gesprochen, sagte er nach einer kleinen Pause: ich habe nun noch etwas auf dem Herzen, davon Du mir frey zu reden erlauben mußt, nur bitte ich Dich aufs herzlichste nicht, zu mißdeuten was ich sage, sondern auch selbst in dieser Besorgniß meine Liebe zu erkennen.

Ich kann es errathen, versetzte die Schöne darauf, Du bist um meinetwegen besorgt, indem Du nach Art der Männer unser Geschlecht ein für allemal für schwach hältst. Du hast mich bisher jung und froh gekannt, und nun glaubst Du, daß ich in Deiner Abwesenheit leichtsinnig und verführbar seyn werde. Ich schelte diese Sinnesart nicht, denn sie ist bey euch Männern gewöhnlich; aber wie ich mein Herz kenne, darf ich Dir versichern, daß nichts so leicht Eindruck auf mich machen, und kein möglicher Eindruck so tief wirken soll, um mich von dem Wege abzuleiten, auf dem ich bisher an der Hand der Liebe und Pflicht hinwandelte. Sey ohne Sorgen, Du sollst deine Frau so zärtlich und treu bey Deiner Rückkunft wieder finden, als Du sie Abends fandest, wenn Du nach einer kleinen Adwesenheit in meine Arme zurückkehrtest. [4-51] Diese Gesinnungen traue ich Dir zu, versetzte der Gemahl, und bitte Dich darinn zu verharren. Laß uns aber an die äußersten Falle denken, warum soll man sich nicht auch darauf vorsehen? Du weißt wie sehr deine schöne und reitzende Gestalt die Augen unsrer jungen Mitbürger auf sich zieht; sie werden sich in meiner Abwesenheit noch mehr als bisher um Dich bemühen; sie werden sich Dir auf alle Weise zu nähern, ja zu gefallen suchen. Nicht immer wird das Bild Deines Gemahls, wie jetzt seine Gegenwart, sie von deiner Thüre und deinem Herzen verscheuchen. Du bist ein edles und gutes Kind, aber die Forderungen der Natur sind rechtmäßig und gewaltsam; sie stehen mit unserer Vernunft beständig im Streite und tragen gewöhnlich den Sieg davon. Unterbrich mich nicht. Du wirst gewiß in meiner Abwesenheit selbst bey dem pflichtmäßigen Andenken an mich das Verlangen empfinden, wodurch das Weib den Mann anzieht, und von ihm angezogen wird. Ich werde eine Zeitlang der Gegenstand Deiner Wünsche seyn; aber wer weiß was für Umstände zusammentreffen, was für Gelegenheiten sich finden, und ein anderer wird in der Wirklichkeit erndten was die Einbildungskraft mir zugedacht hatte. Werde nicht ungedultig, ich bitte Dich, höre mich aus.

Sollte der Fall kommen, dessen Möglichkeit Du leugnest, und den ich auch nicht zu beschleunigen wünsche, daß Du ohne die Gesellschaft eines Mannes nicht länger bleiben, die Freuden der Liebe nicht wohl entbehren könntest, so versprich mir nur, an meine Stelle keinen von den leichtsinnigen Knaben zu wählen, die, so artig sie auch aussehen mögen, der Ehre noch mehr als der Tugend einer Frauen gefährlich sind. Mehr durch Eitelkeit als [4-52] durch Begierde beherrscht, bemühen sie sich um eine jede, und sie finden nichts natürlicher, als eine der andern aufzuopfern. Fühlst Du dich geneigt, dich nach einem Freunde umzusehen, so forsche nach einem, der diesen Nahmen verdient, der bescheiden und verschwiegen die Freuden der Liebe noch durch die Wohlthat des Geheimnisses zu erheben weiß.

Hier verbarg die schöne Frau ihren Schmerz nicht länger und die Thränen, die sie bisher zurückgehalten hatte, stürzten reichlich aus ihren Augen. Was Du auch von mir denken magst, rief sie nach einer leidenschaftlichen Umarmung aus, so ist doch nichts entfernter von mir, als das Verbrechen, das Du gewissermaßen für unvermeidlich hältst. Möge, wenn jemals auch nur ein solcher Gedanke in mir entsteht, die Erde sich aufthun, und mich verschlingen, und möge alle Hoffnung der Seeligkeit mir entrissen werden, die uns eine so reitzende Fortdauer unsers Daseyns verspricht. Entferne das Mißtrauen aus Deiner Brust, und laß mir die ganz reine Hoffnung, Dich bald wieder in meinen Armen zu sehen.

Nachdem er auf alle Weise seine Gattin zu beruhigen gesucht, schiffte er sich den andern Morgen ein, seine Fahrt war glücklich, und er gelangte bald nach Alexandrien.

Indessen lebte seine Gattin in dem ruhigen Besitz eines grossen Vermögens nach aller Lust und Bequemlichkeit, jedoch eingezogen, und pflegte außer ihren Eltern und Verwandten niemand zu sehen, und indem die Geschäfte ihres Mannes durch getreue Diener fortgeführt wurden, bewohnte sie ein grosses Haus, in dessen prächtigen Zimmern [4-53] sie mit Vergnügen täglich das Angedenken ihres Gemahls erneuerte.

So sehr sie aber auch sich stille hielt und eingezogen lebte, waren doch die jungen Leute der Stadt nicht unthätig geblieben. Sie versäumten nicht, häufig vor ihrem Fenster vorbey zu gehen, und suchten des Abends durch Musik und Gesänge ihre Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Die schöne Einsame fand Anfangs diese Bemühungen unbequem und lästig, doch gewöhnte sie sich bald daran, und ließ an den langen Abenden, ohne sich zu bekümmern woher sie kämen, die Serenaden als eine angenehme Unterhaltung sich gefallen, und konnte dabey manchen Seufzer, der ihrem Abwesenden galt, nicht zurückhalten.

Anstatt daß ihre unbekannten Verehrer, wie sie hoffte, nach und nach müde geworden wären, schienen sich ihre Bemühungen noch zu vermehren und zu einer beständigen Dauer anzulassen. Sie konnte nun die wiederkehrenden Instrumente und Stimmen, die wiederholten Melodien schon unterscheiden, und bald sich die Neugierde nicht mehr versagen, zu wissen, wer die Unbekannten, und besonders wer die Beharrlichen seyn möchten? Sie durfte sich zum Zeitvertreib eine solche Theilnahme wohl erlauben.

Sie fing daher an, von Zeit zu Zeit durch ihre Vorhänge und Halbläden nach der Straße zu sehen, auf die Vorbeygehenden zu merken, und besonders die Männer zu unterscheiden, die ihre Fenster am längsten im Auge behielten. Es waren meist schöne wohlgekleidete junge Leute, die aber freylich in Gebärden sowohl als in ihrem ganzen Aeußern eben soviel Leichtsinn als Eitelkeit sehen [4-54] liessen. Sie schienen mehr durch ihre Aufmerksamkeit auf das Haus der Schönen sich merkwürdig machen, als jener eine Art von Verehrung beweisen zu wollen.

Wahrlich, sagte die Dame manchmal scherzend zu sich selbst, mein Mann hat einen klugen Einfall gehabt! Durch die Bedingung, unter der er mir einen Liebhaber zugesteht, schließt er alle diejenigen aus, die sich um mich bemühen, und die mir allenfalls gefallen könnten. Er weiß wohl, daß Klugheit, Bescheidenheit und Verschwiegenheit Eigenschaften eines ruhigen Alters sind, die zwar unser Verstand schätzt, die aber unsre Einbildungskraft keineswegs aufzuregen, noch unsre Neigung anzureitzen im Stande sind. Vor diesen, die mein Haus mit ihren Artigkeiten belagern, bin ich sicher, daß sie kein Vertrauen erwecken, und die, denen ich mein Vertrauen schenken könnte, finde ich nicht im mindesten liebenswürdig.

In der Sicherheit dieser Gedanken erlaubte sie sich immer mehr, dem Vergnügen an der Musik und an der Gestalt der vorbeygehenden Jünglinge nachzuhängen, und ohne daß sie es merkte, wuchs nach und nach ein unruhiges Verlangen in ihrem Busen, dem sie nur zu spät zu widerstreben gedachte. Die Einsamkeit und der Müßiggang, das bequeme, gute und reichliche Leben waren ein Element, in welchem sich eine unregelmäßige Begierde früher, als das gute Kind dachte, entwickeln mußte.

Sie fing nun an, jedoch mit stillen Seufzern, unter den Vorzügen ihres Gemahls auch seine Welt- und Menschenkenntniß, besonders die Kenntniß des weiblichen Herzens, zu bewundern. So war es also doch möglich, was ich [4-55] ihm so lebhaft abstritt, sagte sie zu sich selbst, und so war es also doch nöthig, in einem solchen Falle mir Vorsicht und Klugheit anzurathen. Doch was können Vorsicht und Klugheit, da wo der unbarmherzige Zufall nur mit einem unbestimmten Verlangen zu spielen scheint. Wie soll ich den wählen, den ich nicht kenne, und bleibt bey näherer Bekanntschaft noch eine Wahl übrig?

Mit solchen und hundert andern Gedanken vermehrte die schöne Frau das Uebel, das bey ihr schon weit genug um sich gegriffen hatte. Vergebens suchte sie sich zu zerstreuen, jeder angenehme Gegenstand machte ihre Empfindung rege, und ihre Empfindung brachte, auch in der tiefsten Einsamkeit, angenehme Bilder in ihrer Einbildungskraft hervor.

In solchem Zustande befand sie sich, als sie unter andern Stadtneuigkeiten von ihren Verwandten vernahm, es sey ein junger Rechtsgelehrter, der zu Bologna studiert habe, so eben in seine Vaterstadt zurückgekommen. Man wußte nicht genug zu seinem Lobe zu sagen. Bey außerordentlichen Kenntnissen zeigte er eine Klugheit und Gewandtheit die sonst Jünglingen nicht eigen ist, und bey einer sehr reitzenden Gestalt die größte Bescheidenheit. Als Procurator hatte er bald das Zutrauen der Bürger und die Achtung der Richter gewonnen. Täglich fand er sich auf dem Rathhause ein, um daselbst seine Geschäfte zu besorgen und zu betreiben.

Die Schöne hörte die Schilderung eines so vollkommenen Mannes nicht ohne Verlangen, ihn näher kennen zu lernen, und nicht ohne stillen Wunsch, in ihm denjenigen [4-56] zu finden, dem sie ihr Herz, selbst nach der Vorschrift ihres Mannes übergeben könnte. Wie aufmerksam ward sie daher, als sie vernahm, daß er täglich vor ihrem Hause vorbeygehe, wie sorgfältig beobachtete sie die Stunde, in der man auf dem Rathhause sich zu versammlen pflegte. Nicht ohne Bewegung sah sie ihn endlich vorbey gehen, und wenn seine schöne Gestalt und seine Jugend für sie nothwendig reitzend seyn mußten, so war seine Bescheidenheit von der andern Seite dasjenige was sie in Sorgen versetzte.

Einige Tage hatte sie ihn heimlich beobachtet und konnte nun dem Wunsche nicht länger widerstehen, seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Sie kleidete sich mit Sorgfalt, trat auf den Balkon, und das Herz schlug ihr, als sie ihn die Straße herkommen sah. Allein wie betrübt, ja beschämt war sie, als er wie gewöhnlich mit bedachtigen Schritten, in sich gekehrt und mit niedergeschlagenen Augen, ohne sie auch nur zu bemerken, auf das zierlichste seines Weges vorbey ging.

Vergebens versuchte sie mehrere Tage hintereinander auf eben diese Weise von ihm bemerkt zu werden. Immer ging er seinen gewöhnlichen Schritt, ohne die Augen aufzuschlagen oder da und dorthin zu wenden. Je mehr sie ihn aber ansah, destomehr schien er ihr derjenige zu seyn, dessen sie so sehr bedurfte. Ihre Neigung ward täglich lebhafter, und, da sie ihr nicht widerstand, endlich ganz und gar gewaltsam. Wie! sagte sie zu sich selbst, nachdem dein edler verständiger Mann den Zustand vorausgesehen, in dem du dich in seiner Abwesenheit befinden würdest, da seine Weissagung eintrifft, daß du ohne Freund [4-57] und Günstling nicht leben kannst, sollst du dich nun verzehren und abhärmen, zu der Zeit, da dir das Glück einen Jüngling zeigt, völlig nach deinem Sinne, nach dem Sinne deines Gatten, einen Jüngling, mit dem du die Freuden der Liebe in einem undurchdringlichen Geheimniß genießen kannst. Thörigt, wer die Gelegenheit versäumt, thörigt, wer der gewaltsamen Liebe widerstehen will!

Mit solchen und vielen andern Gedanken suchte sich die schöne Frau in ihrem Vorsatze zu stärken, und nur kurze Zeit ward sie noch von Ungewißheit hin und her getrieben. Endlich aber wie es begegnet, daß eine Leidenschaft, welcher wir lange widerstehen, uns endlich auf einmal dahin reißt, und unser Gemüth dergestalt erhöht, daß wir auf Besorgniß und Furcht, Zurückhaltung und Schaam, Verhältnisse und Pflichten mit Verachtung als auf kleinliche Hindernisse zurücksehen; so faßte sie auf einmal den raschen Entschluß, ein junges Mädchen, das ihr diente, zu dem geliebten Manne zu schicken, und es koste nun was es wolle, zu seinem Besitze zu gelangen.

Das Mädchen eilte und fand ihn, als er eben mit vielen Freunden zu Tische saß, und richtete ihren Gruß, den ihre Frau sie gelehrt hatte, pünktlich aus. Der junge Procurator wunderte sich nicht über diese Botschaft; er hatte den Handelsmann in seiner Jugend gekannt, er wußte, daß er gegenwärtig abwesend war, und ob er gleich von seiner Heirath nur von weitem gehört hatte, vermuthete er doch, daß die zurückgelassene Frau, in der Abwesenheit ihres Mannes, wahrscheinlich in einer wichtigen Sache seines rechtlichen Beystandes bedürfe. Er antwortete deswegen dem Mädchen auf das Verbindlichste [4-58] und versicherte, daß er, sobald man von der Tafel aufgestanden, nicht säumen würde, ihrer Gebieterin aufzuwarten. Mit unaussprechlicher Freude vernahm die schöne Frau, daß sie den Geliebten nun bald sehen und sprechen sollte. Sie eilte sich aufs beste anzuziehen und ließ geschwind ihr Haus und ihre Zimmer auf das reinlichste ausputzen. Orangenblätter und Blumen wurden gestreut, der Sopha mit den köstlichsten Teppigen bedeckt. So ging die kurze Zeit, die er ausblieb, beschäftigt hin, die ihr sonst unerträglich lang geworden wäre.

Mit welcher Bewegung ging sie ihm entgegen, als er endlich ankam, mit welcher Verwirrung hieß sie ihn, indem sie sich auf das Ruhebette niederließ, auf ein Tabouret setzen, das zunächst dabey stand. Sie verstummte in seiner so erwünschten Nähe, sie hatte nicht bedacht, was sie ihm sagen wollte, auch er war still und saß bescheiden vor ihr. Endlich ermannte sie sich und sagte nicht ohne Sorge und Beklommenheit:

Sie sind noch nicht lange in Ihrer Vaterstadt wieder angekommen, mein Herr, und schon sind Sie allenthalben für einen talentreichen und zuverläßigen Mann bekannt. Auch ich setze mein Vertrauen auf Sie in einer wichtigen und sonderbaren Angelegenheit, die, wenn ich es recht bedenke, eher für den Beichtvater als für den Sachwalter gehört. Seit einem Jahre bin ich an einen würdigen und reichen Mann verheirathet, der so lange wir zusammen lebten, die größte Aufmerksamkeit für mich hatte, und über den ich mich nicht beklagen würde, wenn nicht ein unruhiges Verlangen zu reisen und zu handeln ihn seit einiger Zeit aus meinen Armen gerissen hätte. [4-59] Als ein verständiger und gerechter Mann fühlte er wohl das Unrecht, das er mir durch seine Entfernung anthat; er begrif, daß ein junges Weib nicht wie Juwelen und Perlen verwahrt werden könne. Er wußte, daß sie vielmehr einem Garten voll schöner Früchte gleicht, die für jedermann, so wie für den Herrn verloren wären, wenn er eigensinnig die Thüre auf einige Jahre verschließen wollte. Er sprach mir daher vor seiner Abreise sehr ernstlich zu, er versicherte mich, daß ich ohne Freund nicht würde leben können, er gab mir dazu nicht allein die Erlaubniß, sondern er drang in mich und nöthigte mir gleichsam das Versprechen ab, daß ich der Neigung, die sich in meinem Herzen finden würde, frey und ohne Anstand folgen wollte.

Sie hielt einen Augenblick inne, aber bald gab ihr ein vielversprechender Blick des jungen Mannes Muth genug in ihrem Bekenntniß fortzufahren.

Eine einzige Bedingung fügte mein Gemahl zu seiner übrigens so nachsichtigen Erlaubniß. Er empfahl mir die äußerste Vorsicht und verlangte ausdrücklich, daß ich mir einen gesetzten, zuverläßigen, klugen und verschwiegnen Freund wählen sollte. Ersparen Sie mir das übrige zu sagen, mein Herr, ersparen Sie mir die Verwirrung, mit der ich Ihnen bekennen würde, wie sehr ich für Sie eingenommen bin und errathen Sie aus diesem Zutrauen meine Hoffnungen und meine Wünsche.

Nach einer kurzen Pause versetzte der junge liebenswürdige Mann mir gutem Bedachte: wie sehr bin ich Ihnen für das Vertrauen verbunden, durch welches Sie [4-60] mich in einem so hohen Grade ehren und glücklich machen. Ich wünsche nur lebhaft, Sie zu überzeugen, daß Sie sich an keinen Unwürdigen gewendet haben. Lassen Sie mich Ihnen zuerst als Rechtsgelehrter antworten, und als ein solcher gesteh ich Ihnen, daß ich Ihren Gemahl bewundere, der sein Unrecht so deutlich gefühlt und eingesehen hat: denn es ist gewiß, daß ein solcher, der ein junges Weib zurück läßt um ferne Weltgegenden zu besuchen, als ein solcher anzusehen ist, der irgend ein anderes Besitzthum völlig derelinquirt und durch die deutlichste Handlung auf alles Recht daran Verzicht thut. Wie es nun dem ersten besten erlaubt ist eine solche völlig ins Freye gefallene Sache wieder zu ergreifen; so find ich um so mehr natürlich und billig, daß eine junge Frau, die sich in diesem Zustande befindet, ihre Neigung abermals verschenke, und sich einem Freunde, der ihr angenehm und zuverläßig scheint, ohne Bedenken überlasse.

Tritt nun aber gar, wie hier, der Fall ein, daß der Ehemann selbst, seines Unrechtes sich bewußt, mit ausdrücklichen Worten seiner hinterlassenen Frau dasjenige erlaubt, was er ihr nicht verbieten kann; so bleibt gar kein Zweifel übrig, um so mehr, da demjenigen kein Unrecht geschieht, der es willig zu ertragen erklärt hat.

Wenn Sie mich nun, fuhr der junge Mann mit ganz andern Blicken und dem lebhaftesten Ausdrucke fort, indem er die schöne Freundin bey der Hand nahm, wenn Sie mich zu Ihrem Diener erwählen, so machen Sie mich mit einer Glückseligkeit bekannt, von der ich bisher keinen Begriff hatte. Seyn Sie versichert, rief er aus, [4-61] indem er die Hand küßte, daß Sie keinen ergebenern, zärtlichern, treuern und verschwiegenern Diener hätten finden können.

Wie beruhigt fühlte sich nach dieser Erklärung die schöne Frau. Sie scheute sich nicht ihm ihre Zärtlichkeit aufs lebhafteste zu zeigen; sie drückte seine Hände, drängte sich näher an ihn und legte ihr Haupt auf seine Schultern. Nicht lange blieben sie in dieser Lage, als er sich auf eine sanfte Weise von ihr zu entfernen suchte, und nicht ohne Betrübniß zu reden begann: Kann sich wohl ein Mensch in einem seltsamern Verhältnisse befinden? ich bin gezwungen mich von Ihnen zu entfernen und mir die größte Gewalt anzuthun, in einem Augenblicke, da ich mich den süßesten Gefühlen überlassen sollte. Ich darf mir das Glück, das mich in Ihren Armen erwartet, gegenwärtig nicht zueignen. Ach! wenn nur der Aufschub mich nicht um meine schönsten Hoffnungen betrügt.

Die Schöne fragte ängstlich nach der Ursache dieser sonderbaren Aeußerung.

Eben als ich in Bologna, versetzte er, am Ende meiner Studien war und mich aufs äußerste angriff, mich zu meiner künftigen Bestimmung geschickt zu machen, verfiel ich in eine schwere Krankheit, die, wo nicht mein Leben zu zerstöhren, doch meine körperlichen und Geistes-Kräfte zu zerrütten drohte. In der größten Noth und unter den heftigsten Schmerzen that ich der Mutter Gottes ein Gelübde, daß ich, wenn sie mich genesen ließe, ein Jahr lang in strengem Fasten zubringen und mich alles Genusses, von welcher Art er auch sey, enthalten [4-62] wolle. Schon zehn Monate habt ich mein Gelübde auf das treulichste erfüllt und sie sind mir in Betrachtung der großen Wohlthat die ich erhalten, keinesweges lang geworden, da es mir nicht beschwerlich ward, manches gewohnte und bekannte Gute zu entbehren. Aber zu welcher Ewigkeit werden mir nun zwey Monate, die noch übrig sind, da mir erst nach Verlauf derselben ein Glück zu Theil werden kann, welches alle Begriffe übersteigt. Lassen Sie sich die Zeit nicht lang werden und entziehen Sie mir Ihre Gunst nicht, die Sie mir so freywillig zugedacht haben.

Die Schöne, mit dieser Erklärung nicht sonderlich zufrieden, faßte doch wieder bessern Muth, als der Freund nach einigem Nachdenken zu reden fortfuhr: Ich wage zwar kaum Ihnen einen Vorschlag zu thun und das Mittel anzuzeigen, wodurch ich früher von meinem Gelübde entbunden werden kann. Wenn ich jemand fände, der so streng und sicher wie ich das Gelübde zu halten übernähme, und die Hälfte der noch übrigen Zeit mit mir theilte; so würde ich um so geschwinder frey seyn, und nichts würde sich unsern Wünschen entgegenstellen. Sollten Sie nicht, meine süße Freundin, um unser Glück zu beschleunigen, willig seyn einen Theil des Hindernisses, das uns entgegensteht, hinweg zu räumen. Nur der zuverläßigsten Person kann ich einen Antheil an meinem Gelübde übertragen; es ist streng, denn ich darf des Tages nur zweymal Brod und Wasser geniessen, darf des Nachts nur wenige Stunden auf einem harten Lager zubringen und muß ohnerachtet meiner vielen Geschäfte eine große Anzahl Gebete verrichten. Kann ich, wie es mir heute geschehen ist, nicht vermeiden, bey einem Gastmal [4-63] zu erscheinen; so darf ich deswegen doch nicht meine Pflicht hintansetzen, vielmehr muß ich den Reitzungen aller Leckerbissen, die vor mir vorbey gehen, zu widerstehen suchen. Können Sie sich entschließen einen Monat lang gleichfalls alle diese Gesetze zu befolgen; so werden Sie alsdann sich selbst in dem Besitz eines Freundes desto mehr erfreuen, als Sie ihn durch ein so lobenswürdiges Unternehmen gewissermaßen selbst erworben haben.

Die schöne Dame vernahm ungern die Hindernisse, die sich ihrer Neigung entgegen setzten, doch war ihre Liebe zu dem jungen Manne durch seine Gegenwart dergestalt vermehrt worden, daß ihr keine Prüfung zu streng schien, wenn ihr nur dadurch der Besitz eines so werthen Guts versichert werden konnte. Sie sagte ihm daher mit den gefälligsten Ausdrücken: mein süßer Freund! das Wunder wodurch Sie Ihre Gesundheit wieder erlangt haben, ist mir selbst so werth und verehrungswürdig, daß ich es mir zur Freude und Pflicht mache, an dem Gelübde Theil zu nehmen, das Sie dagegen zu erfüllen schuldig sind. Ich freue mich, Ihnen einen so sichern Beweis meiner Neigung zu geben; ich will mich auf das genauste nach Ihrer Vorschrift richten, und ehe Sie mich lossprechen, soll mich nichts von dem Wege entfernen, auf den Sie mich einleiten.

Nachdem der junge Mann mit ihr aufs genauste diejenigen Bedingungen abgeredet, unter welchen sie ihm die Hälfte seines Gelübdes ersparen konnte, entfernte er sich mit der Versicherung, daß er sie bald wieder besuchen und nach der glücklichen Beharrlichkeit in ihrem Vorsatze fragen würde, und so mußte sie ihn gehen lassen, als er ohne [4-64] Händedruck, ohne Kuß, mit einem kaum bedeutenden Blicke von ihr schied. Ein Glück für sie war die Beschäftigung, die ihr der seltsame Vorsatz gab, denn sie hatte manches zu thun, um ihre Lebensart völlig zu verändern. Zuerst wurden die schönen Blätter und Blumen hinausgekehrt, die sie zu seinem Empfang hatte streuen lassen, dann kam an die Stelle des wohlgepolsterten Ruhebettes ein hartes Lager, auf das sie sich, zum erstenmal in ihrem Leben nur von Wasser und Brod kaum gesättigt, des Abends niederlegte. Des andern Tages war sie beschäftigt Hemden zuzuschneiden und zu nähen, deren sie eine bestimmte Zahl für ein Armen- und Krankenhaus fertig zu machen versprochen hatte. Bey dieser neuen und unbequemen Beschäftigung, unterhielt sie ihre Einbildungskraft immer mit dem Bilde ihres süßen Freundes und mit der Hoffnung künftiger Glückseligkeit, und bey eben diesen Vorstellungen schien ihre schmale Kost ihr eine herzstärkende Nahrung zu gewähren.

So vergieng eine Woche, und schon am Ende derselben fingen die Rosen ihrer Wangen an einigermaßen zu verbleichen. Kleider, die ihr sonst wohl paßten, waren zu weit und ihre sonst so raschen und muntern Glieder matt und schwach geworden: als der Freund wieder erschien und ihr durch seinen Besuch neue Stärke und Leben gab. Er ermahnte sie in ihrem Vorsatze zu beharren, munterte sie durch sein Beyspiel auf, und ließ von weitem die Hoffnung eines ungestöhrten Genusses durchblicken. Nur kurze Zeit hielt er sich auf, und versprach bald wieder zu kommen.

Die wohlthätige Arbeit ging aufs neue muntrer fort, [4-65] und von der strengen Diät ließ man keineswegs nach. Aber auch leider! hätte sie durch eine grosse Krankheit nicht mehr erschöpft werden können. Ihr Freund, der sie am Ende der Woche abermals besuchte, sah sie mit dem größten Mitleiden an, und stärkte sie durch den Gedanken, daß die Hälfte der Prüfung nun schon vorüber sey.

Nun ward ihr das ungewohnte Fasten, Beten und Arbeiten mit jedem Tage lästiger, und die übertriebene Enthaltsamkeit schien den gesunden Zustand eines an Ruhe und reichliche Nahrung gewöhnten Körpers gänzlich zu zerrütten. Die Schöne konnte sich zuletzt nicht mehr auf den Füßen halten, und war genöthigt, ohnerachtet der warmen Jahrszeit, sich in doppelte und dreyfache Kleider zu hüllen, um die beynah völlig verschwindende innerliche Wärme einigermaßen zusammen zu halten. Ja sie war nicht länger im Stande aufrecht zu bleiben, und sogar genöthigt in der letzten Zeit das Bette zu hüten.

Welche Betrachtungen mußte sie da über ihren Zustand machen? wie oft ging diese seltsame Begebenheit vor ihrer Seele vorbey, und wie schmerzlich fiel es ihr, als zehn Tage vergiengen, ohne daß der Freund erschienen wäre, der sie diese äußersten Aufopferungen kostete. Dagegen aber bereitete sich in diesen trüben Stunden ihre völlige Genesung vor, ja sie ward entschieden. Denn als bald darauf ihr Freund erschien und sich an ihr Bette auf eben dasselbe Tabourett setzte, auf dem er ihre erste Erklärung vernommen hatte, und ihr freundlich, ja gewissermaßen zärtlich zusprach, die kurze Zeit nach standhaft auszudauern, unterbrach sie ihn mit Lächeln und sagte: [4-66] es bedarf weiter keines Zuredens, mein werther Freund, und ich werde mein Gelübde diese wenigen Tage mit Geduld und mit der Ueberzeugung ausdauern, daß Sie es mir zu meinem Besten auferlegt haben. Ich bin jetzt zu schwach, als daß ich Ihnen meinen Dank ausdrücken könnte, wie ich ihn empfinde. Sie haben mich mir selbst erhalten; Sie haben mich mir selbst gegeben, und ich erkenne, daß ich mein ganzes Daseyn von nun an Ihnen schuldig bin.

Wahrlich mein Mann war verständig und klug, und kannte das Herz einer Frau; er war billig genug, sie über eine Neigung nicht zu schelten, die durch seine Schuld in ihrem Busen entstehen konnte, ja er war großmüthig genug, seine Rechte der Foderung der Natur hintan zu setzen. Aber Sie mein Herr, Sie sind vernünftig und gut; Sie haben mich fühlen lassen, daß außer der Neigung noch etwas in uns ist, das ihr das Gleichgewicht halten kann, daß wir fähig sind, jedem gewohnten Gut zu entsagen und selbst unsre heißesten Wünsche von uns zu entfernen. Sie haben mich in diese Schule durch Irrthum und Hoffnung geführt, aber beyde sind nicht mehr nöthig, wenn wir uns erst mit dem guten und mächtigen Ich bekannt gemacht haben, das so still und ruhig in uns wohnt, und so lange biß es die Herrschaft im Hause erhält, wenigstens durch zarte Erinnerungen seine Gegenwart unaufhörlich merken läßt. Leben Sie wohl. Ihre Freundinn wird Sie künftig mit Vergnügen sehen; wirken Sie auf Ihre Mitbürger wie auf mich; entwickeln Sie nicht allein die Verwirrungen, die nur zu leicht über Besitzthümer entstehen, sondern zeigen Sie ihnen auch durch sanfte Anleitung und durch Beyspiel, daß in jedem Menschen die [4-67] Kraft der Tugend im Verborgenen keimt; die allgemeine Achtung wird Ihr Lohn seyn, und Sie werden mehr als der erste Staatsmann und der größte Held den Namen Vater des Vaterland« verdienen.

[7-50]
Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten.
Fortsetzung.

Man muß Ihren Prokurator loben, sagte die Baronesse, er ist zierlich, vernünftig, unterhaltend und unterrichtend; so sollten alle diejenigen seyn, die uns von einer Verirrung abhalten oder davon zurück bringen wollen. Wirklich verdient die Erzählung vor vielen andern den Ehrentitel einer moralischen Erzählung. Geben Sie uns mehrere von dieser Art, und unsre Gesellschaft wird sich deren gewiß erfreuen.

Der Alte. Wenn diese Geschichte Ihren Beyfall hat, so ist es mir zwar sehr angenehm, doch thut mir’s leid, wenn Sie mehr moralische Erzählungen wünschen, denn es ist die erste und letzte.

Luise. Es bringt Ihnen nicht viel Ehre, daß Sie in Ihrer Sammlung gerade von der besten Art nur eine einzige haben.

Der Alte. Sie verstehn mich unrecht. Es ist nicht die einzige moralische Geschichte, die ich erzählen kann, sondern alle gleichen sich dergestalt, daß man immer nur dieselbe zu erzählen scheint.

Luise. Sie sollten sich doch endlich diese Paradoxen [7-51] abgewöhnen, die das Gespräch nur verwirren; erklären Sie sich deutlicher.

Der Alte. Recht gern. Nur diejenige Erzählung verdient moralisch genannt zu werden, die uns zeigt, daß der Mensch in sich eine Kraft habe, aus Ueberzeugung eines Bessern, selbst gegen seine Neigung, zu handeln. Dieses lehrt uns diese Geschichte, und keine moralische Geschichte kann was anders lehren.

Luise. Und ich muß also, um moralisch zu handeln, gegen meine Neigung handeln?

Der Alte. Ja.

Luise. Auch wenn sie gut ist?

Der Alte. Keine Neigung ist an sich gut, sondern nur in so fern sie etwas gutes wirkt.

Luise. Wenn man nun Neigung zur Wohlthätigkeit hätte?

Der Alte. So soll man sich verbiethen, wohlthatig zu seyn, sobald man sieht, daß man sein eigen Hauswesen dadurch zu Grunde richtet.

Luise. Und wenn man einen unwiderstehlichen Trieb zur Dankbarkeit hätte.

Der Alte. Dafür ist bey den Menschen schon gesorgt, daß die Dankbarkeit bey ihnen niemals zum Triebe [7-52] werden kann. Doch gesetzt auch, so würde der zu schätzen seyn, der sich lieber undankbar zeigte, als daß er etwas Schändliches aus Liebe zu seinem Wohlthäter unternähme.

Luise. So könnte es denn also doch unzählige moralische Geschichten geben.

Der Alte. In diesem Sinne, ja; doch würden sie alle nichts weiter sagen, als was mein Prokurator gesagt hat, und deswegen kann man ihn einzig dem Geiste nach nennen, denn darin haben Sie recht, der Stoff kann sehr verschieden seyn.

Luise. Hätten Sie sich eigentlicher ausgedruckt, so hätten wir nicht gestritten.

Der Alte. Aber auch nicht gesprochen. Verwirrungen und Mißverständnisse sind die Quellen des thätigen Lebens und der Unterhaltung.

Luise. Ich kann doch noch nicht ganz mit Ihnen einig seyn. Wenn ein tapferer Mann mit Gefahr seines eigenen Lebens andere rettet, ist das keine moralische Handlung?

Der Alte. Nach meiner Art mich auszudrücken nicht. Wenn aber ein furchtsamer Mensch seine Furcht überwindet und eben dasselbe thut, dann ist es eine moralische Handlung.

Die Baroneß. Ich wollte, lieber Freund, Sie [7-53] gäben uns noch einige Beyspiele, und verglichen sich gelegentlich mit Luisen über die Theorie. Gewiß, ein Gemüth, das Neigung zum Guten hat, muß uns, wenn wir es gewahr werden, schon höchlich erfreuen; aber schöneres ist nichts in der Welt als Neigung durch Vernunft und Gewissen geleitet. Haben Sie noch eine Geschichte dieser Art, so wünschen wir sie zu hören. Ich liebe mir sehr Parallelgeschichten. Eine deutet auf die andere hin und erklärt ihren Sinn besser als viele trockne Worte.

Der Alte. Ich kann wohl noch einige, die hieher gehören, vorbringen, denn ich habe auf diese Eigenschaften des menschlichen Geistes besonders acht gegeben.

Luise. Nur eins möchte ich mir ausbitten. Ich läugne nicht, daß ich die Geschichten nicht liebe, die unsre Einbildungskraft immer in fremde Länder nöthigen. Muß denn alles in Italien und Sicilien geschehen? Sind denn Neapel, Palermo und Smyrna die einzigen Orte, wo etwas Interessantes vorgehen kann? Mag man doch den Schauplatz der Feenmährchen nach Samarcand und Ormus versetzen, um unsre Einbildungskraft zu verwirren. Wenn Sie aber unsern Geist, unser Herz bilden wollen, so geben Sie uns einheimische, geben Sie uns Familiengemälde, und wir werden uns desto eher darin erkennen, und wenn wir uns getroffen fühlen, desto gerührter an unser Herz schlagen.

Der Alte. Auch darin soll Ihnen willfahrt werden. Doch ist es mit den Familiengemälden eine eigene Sache. Sie sehen einander alle so gleich, und wir haben [7-54] fast alle Verhätnisse derselben schon gut bearbeitet auf unsern Theatern gesehen. Indessen will ichs wagen und eine Geschichte erzählen, von der Ihnen schon etwas ähnliches bekannt ist, und die nur durch eine genaue Darstellung dessen was in den Gemüthern vorging, neu und interessant werden dürfte.

Man kann in Familien oft die Bemerkung machen, daß Kinder, sowohl der Gestalt als dem Geiste nach, bald vom Vater bald von der Mutter Eigenschaften zu haben scheinen, und so kommt auch manchmal der Fall vor, daß ein Kind die Naturen beyder Eltern auf eine besondere und verwundenrswürdige Weise verbindet.

Hievon war ein junger Mensch, den ich Ferdinand nennen will, ein auffallender Beweis. Seine Bildung erinnerte an beyde Eltern, und ihre Gemüthsart konnte man in der seinigen genau unterscheiden. Er hatte den leichten und frohen Sinn des Vaters, so auch den Trieb den Augenblick zu genießen und eine gewisse leidenschaftliche Art bey manchen Gelegenheiten nur sich selbst in Anschlag zu bringen. Von der Mutter aber hatte er, so schien es, ruhige Ueberlegung, ein Gefühl von Recht und Billigkeit und eine Anlage zur Kraft sich für andere aufzuopfern, und man sieht hieraus leicht, daß diejenigen, die mit ihm umgingen, oft, um seine Handlungen zu erklären, zu der Hypothese ihre Zuflucht nehmen mußten, daß der junge Mann wohl zwey Seelen haben möchte.

Ich übergehe mancherley Scenen, die in seiner Jugend vorfielen, und erzähle nur eine Begebenheit, die [7-55] seinen ganzen Charakter ins Licht setzt, und in seinem Leben eine entschiedene Epoke machte.

Er hatte von Jugend auf eine reichliche Lebensart genossen, denn seine Eltern waren wohlhabend, lebten und erzogen ihre Kinder wie es solchen Leuten geziemt, und wenn der Vater in Gesellschaften, beym Spiel und durch zierliche Kleidung mehr als billig war ausgab, so wußte die Mutter als eine gute Haushälterin dem gewöhnlichen Aufwande solche Grenzen zu setzen, daß im Ganzen ein Gleichgewicht blieb und niemal ein Mangel zum Vorschein kommen konnte. Dabey war der Vater als Handelsmann glücklich; es geriethen ihm manche Speculationen, die er sehr kühn unternommen hatte, und weil er gern mit Menschen lebte, hatte er sich in Geschäften auch vieler Verbindungen und mancher Beyhülfe zu erfreuen.

Die Kinder, als strebende Naturen, wählen sich gewöhnlich im Hause das Beyspiel dessen, der am meisten zu leben und zu geniessen scheint. Sie sehen in einem Vater, der sichs wohl seyn läßt, die entschiedene Regel, wornach sie ihre Lebensart einzurichten haben, und weil sie schon früh zu dieser Einsicht gelangen, so schreiten meistentheils ihre Begierden und Wünsche in großer Disproportion der Kräfte ihres Hauses fort. Sie finden sich bald überall gehindert, um so mehr als jede neue Generation neue und frühere Anforderungen macht, und die Eltern den Kindern dagegen meistens nur gewähren möchten, was sie selbst in früherer Zeit genossen, da noch jedermann mäßiger und einfacher zu leben sich bequemte.

[7-56] Ferdinand wuchs mit der unangenehmen Empfindung heran, daß ihm oft dasjenige fehle, was er an seinen Gespielen sah. Er wollte in Kleidung, in einer gewissen Liberalität des Lebens und Betragens hinter niemanden zurück bleiben, er wollte seinem Vater ähnlich werden, dessen Beyspiel er täglich vor Augen sah, und der ihm doppelt als Musterbild erschien, einmal als Vater, für den der Sohn gewöhnlich ein günstiges Vorurtheil hegt, und dann wieder weil der Knabe sah, daß der Mann auf diesem Wege ein vergnügliches und genußreiches Leben führte und dabey von jedermann geschätzt und geliebt wurde.

Ferdinand hatte hierüber, wie man sich leicht denken kann, manchen Streit mit der Mutter, da er dem Vater die abgelegten Röcke nicht nachtragen, sondern selbst immer in der Mode seyn wollte. So wuchs er heran und seine Forderungen wuchsen immer vor ihm her, so daß er zuletzt, da er achtzehn Jahr alt war, ganz ausser Verhältniß mit seinem Zustande sich fühlen mußte.

Schulden hatte er bisher nicht gemacht, denn seine Mutter hatte ihm davor den größten Abscheu eingeflößt, sein Vertrauen zu erhalten gesucht und in mehreren Fällen das Aeußerste gethan, um seine Wünsche zu erfüllen, oder ihn aus kleinen Verlegenheiten zu reissen. Unglücklicherweise war in eben dem Zeitpunkte, wo er nun als Jüngling noch mehr aufs Aeussere sah, wo er durch die Neigung zu einem sehr schönen Mädchen, verflochten in grössere Gesellschaft, sich andern nicht allein gleich zu stellen, sondern vor andern sich hervorzuthun und zu gefallen wünschte, die Mutter in ihrer Haushaltung gedrängter [7-57] als jemals, und anstatt seine Forderungen wie sonst zu befriedigen, fing sie an seine Vernunft, sein gutes Herz, seine Liebe zu ihr in Anspruch zu nehmen, und setzte ihn, indem sie ihn zwar überzeugte aber nicht veränderte, wirklich in Verzweiflung.

Er konnte ohne alles zu verlieren, was ihm so lieb als sein Leben war, die Verhältnisse nicht verändern, in denen er sich befand. Von der ersten Jugend an war er diesem Zustande entgegen gewachsen; er war mit allem, was ihn umgab, zusammen gewachsen; er konnte keine Faser seiner Verbindungen, Gesellschaften, Spatziergänge und Lustparthien zerreissen, ohne zugleich einen alten Schulfreund, einen Gespielen, eine neue ehrenvolle Bekanntschaft und, was das schlimmste war, seine Liebe zu verletzen.

Wie hoch und werth er seine Neigung hielt, begreift man leicht, wenn man erfahrt, daß sie zugleich seiner Sinnlichkeit, seinem Geiste, seiner Eitelkeit und seinen lebhaften Hoffnungen schmeichelte. Eins der schönsten, angenehmsten und reichsten Mädchen der Stadt gab ihm, wenigstens für den Augenblick, den Vorzug vor seinen vielen Mitwerbern. Sie erlaubte ihm mit dem Dienst, den er ihr widmete, gleichsam zu prahlen, und sie schienen wechselsweise auf die Ketten stolz zu seyn, die sie einander angelegt hatten. Nun war es ihm Pflicht, ihr überall zu folgen, Zeit und Geld in ihrem Dienste zu verwenden und auf jede Weise zu zeigen, wie werth ihm ihre Neigung und wie unentbehrlich ihm ihr Besitz sey.

Dieser Umgang und dieses Bestreben machte Ferdinanden [7-58] mehr Aufwand als es unter andern Umständen natürlich gewesen wäre. Sie war eigentlich von ihren abwesenden Eltern einer sehr wunderlichen Tante anvertraut worden, und es erforderte mancherley Künste und seltsame Anstalten, um Ottilien, diese Zierde der Gesellschaft, in Gesellschaft zu bringen. Ferdinand erschöpfte sich in Erfindungen, um ihr die Vergnügungen zu verschaffen, die sie so gern genoß und die sie jedem, der um sie war, zu erhöhen wußte.

Und in eben diesem Augenblicke von einer geliebten und verehrten Mutter zu ganz andern Pflichten aufgefordert zu werden; von dieser Seite keine Hülfe zu sehen, den lebhaften Abscheu vor Schulden zu fühlen, die auch seinen Zustand nicht lange würden gefristet haben, dabey von jedermann für wohlhabend und freygebig angesehen zu werden, und das tägliche und dringende Bedürfniß des Geldes zu empfinden, war gewiß eine der peinlichsten Lagen, in der sich ein junges, durch Leidenschaften bewegtes Gemüth befinden kann.

Gewisse Vorstellungen, die ihm früher nur leicht vor der Seele vorüber gingen, hielt er nun fester; gewisse Gedanken, die ihn sonst nur Augenblicke beunruhigten, schwebten länger vor seinem Geiste, und gewisse verdrießliche Empfindungen wurden daurender und bitterer. Hatte er sonst seinen Vater als sein Muster angesehen, so beneidete er ihn nun als seinen Nebenbuhler. Von allem, was der Sohn wünschte, war jener im Besitz; alles, worüber dieser sich ängstigte, ward jenem leicht. Und es war nicht etwa von dem Nothwendigen die Rede, sondern von dem was jeder hätte entbehren können. Da [7-59] glaubte denn der Sohn, daß der Vater wohl auch manchmal entbehren sollte, um ihn genießen zu lassen. Der Vater dagegen war ganz anderer Gesinnung; er war von denen Menschen, du sich viel erlauben und die deswegen in den Fall kommen denen, die von ihnen abhängen, viel zu versagen. Er hatte dem Sohne etwas gewisses ausgesetzt und verlangte genaue Rechenschaft ja eine regelmässige Rechnung von ihm darüber.

Nichts schärft das Auge des Menschen mehr als wenn man ihn einschränkt, darum sind die Frauen durchaus klüger als die Männer, und auf niemand sind Untergebene aufmerksamer, als auf den, der befiehlt, ohne zugleich durch sein Beyspiel voraus zu gehen. So ward der Sohn auf alle Handlungen seines Vaters aufmerksam, besonders auf die, die Geldausgaben betrafen. Er horchte genauer auf, wenn er hörte, der Vater habe im Spiel verloren oder gewonnen, er beurtheilte ihn strenger, wenn jener sich etwas willkührllch kostspieliges erlaubte.

Ist es nicht sonderbar, sagte er zu sich selbst, daß Eltern, indem sie sich mit Genuß allerley Art überfüllen, indem sie blos nach Willkühr ein Vermögen, das ihnen der Zufall gegeben hat, benutzen, ihre Kinder gerade zu der Zeit von jedem billigen Genusse ausschliessen, da die Jugend am empfänglichsten dafür ist! Und mit welchem Rechte thun sie es? Und wie sind sie zu diesem Rechte gelangt? Soll der Zufall allein entscheiden, und kann das ein Recht werden, wo der Zufall wirkt? Lebte der Großvater noch, der seine Enkel wie seine Kinder hielt, es würde mir viel besser ergehen; er würde mir es nicht am Nothwendigen fehlen lassen; denn ist [7-60] uns das nicht nothwendig, was wir in Verhältnissen brauchen, zu denen wir erzogen und gebohren sind? der Großvater würde mich nicht darben lassen, so wenig er des Vaters Verschwendung zugeben würde. Hätte er länger gelebt, hätte er klar eingesehen, daß sein Enkel auch werth ist, zu genießen, so hätte er vielleicht in dem Testament mein früheres Glück entschieden. Sogar habe ich gehört, daß der Großvater eben vom Tode übereilt worden, da er einen letzten Willen aufzusetzen gedachte, und so hat vielleicht blos der Zufall mir meinen frühern Antheil an einem Vermögen entzogen, den ich, wenn mein Vater so zu wirthschaften fortfährt, wohl gar auf immer verlieren kann.

Mit diesen und andern Sophistereyen über Besitz und Recht, über die Frage, ob man ein Gesetz oder eine Einrichtung, zu denen man seine Stimme nicht gegeben, zu befolgen brauche, und in wiefern es dem Menschen erlaubt sey im Stillen von den bürgerlichen Gesetzen abzuweichen, beschäftigte er sich oft in seinen einsamen verdrießlichsten Stunden, wenn er irgend aus Mangel des baaren Geldes eine Lustparthie oder eine andere angenehme Gesellschaft ausschlagen mußte. Denn schon hatte er kleine Sachen von Werth, die er besaß, vertrödelt und sein gewöhnliches Taschengeld wollte keineswegs hinreichen.

Sein Gemüth verschloß sich und man kann sagen, daß er in diesen Augenblicken seine Mutter nicht achtete, die ihm nicht helfen konnte, und seinen Vater haßte, der ihm überall im Wege zu stehen schien.

[7-61] Zu eben der Zeit machte er eine Entdeckung, die seinen Unwillen noch mehr erregte. Er bemerkte, daß sein Vater nicht allein kein guter, sondern auch ein unordentlicher Haushälter war. Denn er nahm oft aus seinem Schreibtische in der Geschwindigkeit Geld, ohne es aufzuzeichnen, und fing nachher manchmal wieder an zu zählen und zu rechnen, und schien verdrießlich, daß die Summen mit der Casse nicht übereinstimmen wollten. Der Sohn machte diese Bemerkung mehrmals, und um so empfindlicher ward es ihm, wenn er zu eben der Zeit, da der Vater nur willkührlich in das Geld hinein griff, einen entschiedenen Mangel spürte.

Zu dieser Gemüthsart traf ein sonderbarer Zufall, der ihm eine reizende Gelegenheit gab, dasjenige zu thun, wozu er nur einen dunkeln und unentschiedenen Trieb gefühlt hatte.

Sein Vater gab ihm den Auftrag, einen Kasten alter Briefe durch zu sehen und zu ordnen. Eines Sonntags, da er allein war, trug er ihn durch das Zimmer, wo der Schreibtisch stand, der des Vaters Casse enthielt. Der Kasten war schwer; er hatte ihn unrecht gefaßt, und wollte ihn einen Augenblick absetzen, oder vielmehr nur anlehnen. Unvermögend ihn zu halten, stieß er gewaltsam an die Ecke des Schreibtisches, und der Deckel desselben flog auf. Er sah nun alle die Rollen vor sich liegen, zu denen er manchmal nur hinein geschielt hatte, setzte seinen Kasten nieder und nahm, ohne zu denken oder zu überlegen, eine Rolle von der Seite weg, wo der Vater gewöhnlich sein Geld zu willkührlichen Ausgaben herzunehmen schien. Er druckte den Schreibtisch wieder [7-62] zu und versuchte den Seitenstoß, der Deckel flog jedesmal auf und es war so gut, als wenn er den Schlüssel zum Pulte gehabt hätte.

Mit Heftigkeit suchte er nunmehr jede Vergnügung wieder, die er bisher hatte entbehren müssen. Er war fleißiger um seine Schöne; alles was er that und vornahm, war leidenschaftlicher; seine Lebhaftigkeit und Anmuth hatten sich in ein heftiges ja beynahe wildes Wesen verwandelt, das ihm zwar nicht übel ließ, doch niemanden wohlthätig war.

Was der Feuerfunke auf ein geladnes Gewehr, das ist die Gelegenheit zur Neigung, und jede Neigung, die wir gegen unser Gewissen befriedigen, zwingt uns ein Uebermaaß von physischer Stärke anzuwenden; wir handeln wieder als wilde Menschen, und es wird schwer, äußerlich diese Anstrengung zu verbergen.

Jemehr ihm seine innere Empfindung widersprach, destomehr häufte Ferdinand künstliche Argumente an einander und desto muthiger und freyer schien er zu handeln, je mehr er sich selbst von einer Seite gebunden fühlte.

Zu derselbigen Zeit waren allerley Kostbarkeiten ohne Werth Mode geworden. Ottilie liebte sich zu schmücken; er suchte einen Weg, sie ihr zu verschaffen, ohne daß Ottilie selbst eigentlich wußte, woher die Geschenke kamen. Die Vermuthung ward auf einen alten Oheim geworfen, und Ferdinand war doppelt vergnügt, indem ihm seine Schöne ihre Zufriedenheit über die Geschenke [7-63] und ihren Verdacht auf den Oheim zugleich zu erkennen gab.

Aber um sich und ihr dieses Vergnügen zu machen mußte er noch einigemal den Schreibtisch seines Vaters eröffnen, und that es mit desto weniger Sorge, als der Vater zu verschiedenen Zeiten Geld hinein gelegt und herausgenommen hatte, ohne es aufzuschreiben.

Bald darauf sollte Ottilie zu ihren Eltern auf einige Monate verreisen. Die jungen Leute betrübten sich äusserst da sie scheiden sollten, und ein Umstand machte ihre Trennung noch bedeutender. Ottilie erfuhr durch einen Zufall, daß die Geschenke, die sie erhalten hatte, von Ferdinanden kamen; sie setzte ihn darüber zu Rede und als er es gestand, schien sie sehr verdrießlich zu werden. Sie bestand darauf, daß er sie zurücknehmen sollte, und diese Zumuthung machte ihm die bittersten Schmerzen. Er erklärte ihr, daß er ohne sie nicht leben könne noch wolle; er bat sie ihm ihre Neigung zu erhalten, und beschwur sie ihm ihre Hand nicht zu versagen, sobald er versorgt und häuslich eingerichtet seyn würde. Sie liebte ihn, sie war gerührt, sie sagte ihm zu, was er wünschte, und in diesem glücklichen Augenblicke versiegelten sie ihr Versprechen mit den lebhaftesten Umarmungen und mit tausend herzlichen Küssen.

Nach ihrer Abreise schien Ferdinand sich sehr allein. Die Gesellschaften, in welchen er sie zu sehen pflegte, reitzten ihn nicht mehr, indem sie fehlte. Er besuchte nur noch aus Gewohnheit sowohl Freunde als Lustörter, und nur mit Widerwillen griff er noch einigemal in die [7-64] Casse des Vaters, um Ausgaben zu bestreiten, zu denen ihn keine Leidenschaften nöthigten. Er war oft allein und die gute Seele schien die Oberhand zu gewinnen. Er erstaunte über sich selbst bey ruhigem Nachdenken, wie er jene Sophistereyen über Recht und Besitz, über Ansprüche an fremdes Guth und wie die Rubriken alle heißen mochten, bey sich auf eine so kalte und schiefe Weise habe durchführen und dadurch eine unerlaubte Handlung beschönigen können. Es ward ihm nach und nach deutlich, daß nur Treue und Glauben die Menschen schätzenswerth machen, daß der Gute eigentlich leben müsse, um alle Gesetze zu beschämen, indem ein anderer sie entweder umgehen, oder zu seinem Vortheil gebrauchen mag.

Inzwischen eh diese wahren und guten Begriffe bey ihm ganz klar wurden und zu herrschenden Entschlüssen führten, unterlag er doch noch einigemal der Versuchung, aus der verbotenen Quelle in dringenden Fällen zu schöpfen. Niemals that er es aber ohne Widerwillen, und nur wie von einem bösen Geiste an den Haaren hingezogen.

Endlich ermannte er sich und faßte den Entschluß, vor allen Dingen die Handlung sich unmöglich zu machen und seinen Vater von dem Zustande des Schlosses zu unterrichten. Er fing es klug an und trug den Kasten mit den nunmehr geordneten Briefen in Gegenwart seines Vaters durch das Zimmer, beging mit Vorsatz die Ungeschicklichkeit, mit dem Kasten wider den Schreibtisch zu stossen, und wie erstaunte der Vater, als er den Deckel auffahren sah. Sie untersuchten beyde das [7-65] Schloß und fanden, daß die Schließbaken durch die Zeit abgenutzt und die Bänder wandelbar waren. Sogleich ward alles reparirt und Ferdinand hatte seit langer Zeit keinen vergnügtern Augenblick, als da er das Geld in so guter Verwahrung sah.

Aber dieß war ihm nicht genug. Er nahm sich sogleich vor, die Summe, die er seinem Vater entwendet hatte, und die er noch wohl wußte, wieder zu sammlen und sie ihm auf eine oder die andere Weise zuzustellen. Er fing nun an aufs genauste zu leben und von seinem Taschengelde, was nur möglich war zu sparen. Freylich war das nur wenig, was er hier zurückhalten konnte, gegen das, was er sonst verschwendet hatte, indessen schien die Summe schon groß, da sie ein Anfang war, sein Unrecht wieder gut zu machen. Und gewiß ist ein ungeheurer Unterschied zwischen dem letzten Thaler, den man borgt, und zwischen dem ersten, den man abbezahlt.

Nicht lange war er auf diesem guten Wege, als der Vater sich entschloß, ihn in Handelsgeschäften zu verschicken. Er sollte sich mit einer entfernten Fabrikanstalt bekannt machen. Man hatte die Absicht in einer Gegend, wo die ersten Bedürfnisse und die Handarbeit sehr wohlfeil waren, selbst ein Contoir zu errichten, einen Compagnon dorthin zu setzen, den Vortheil, den man gegenwärtig andern gönnen mußte, selbst zu gewinnen, und durch Geld und Credit die Anstalt ins Große zu treiben. Ferdinand sollte die Sache in der Nähe untersuchen und davon einen umständlichen Bericht abstatten. Der Vater hatte ihm ein Reisegeld ausgesetzt und ihm vorgeschrieben [7-66] damit auszukommen; es war reichlich und er hatte sich nicht darüber zu beklagen.

Auch auf seiner Reise lebte Ferdinand sehr sparsam, rechnete und überrechnete und fand, daß er den dritten Theil seines Reisegeldes ersparen könnte, wenn er auf jede Weise sich einzuschränken fortführe. Er hoffte nun auch auf Gelegenheit, zu dem übrigen nach und nach zu gelangen, und er fand sie. Denn die Gelegenheit ist eine gleichgültige Göttinn, sie begünstigt das Gute wie das Böse.

In der Gegend, die er besuchen sollte, fand er alles weit vortheilhafter, als man geglaubt hatte. Jedermann ging in dem alten Schlendrian handwerksmäßig fort. Von neu entdeckten Vortheilen hatte man keine Kenntniß, oder man hatte keinen Gebrauch davon gemacht. Man wendete nur mäßige Summen Geldes auf und war mit einem mäßigen Profit zufrieden, und er sah bald ein, daß man mit einem gewissen Capital, mit Vorschüssen, Einkauf des ersten Materials im Großen, mit Anlegung von Maschinen durch die Hülfe tüchtiger Werkmeister eine große und solide Einrichtung würde machen können.

Er fühlte sich durch die Idee dieser möglichen Thätigkeit sehr erhoben. Die herrliche Gegend, in der ihm jeden Augenblick seine geliebte Ottilie vorschwebte, ließ ihn wünschen, daß sein Vater ihn an diesen Platz setzen, ihm das neue Etablissement anvertrauen und so auf eine reichliche und unerwartete Weise ausstatten möchte.

Er sah alles mit größrer Aufmerksamkeit, weil er [7-67] alles schon als das seinige ansah. Er hatte zum erstenmal Gelegenheit, seine Kenntnisse, seine Geisteskräfte, sein Urtheil anzuwenden. Die Gegend sowohl als die Gegenstände interessirten ihn aufs höchste, sie waren Labsal und Heilung für sein verwundetes Herz, denn nicht ohne Schmerzen konnte er sich des väterlichen Hauses erinnern, in welchem er wie in einer Art von Wahnsinn eine Handlung begehen konnte, die ihm nun das größte Verbrechen zu seyn schien.

Ein Freund seines Hauses, ein wackrer aber kränklicher Mann, der selbst den Gedanken eines solchen Etablissements zuerst in Briefen gegeben hatte, war ihm stets zur Seite, zeigte ihm alles, machte ihn mit seinen Ideen bekannt, und freute sich, wenn ihm der junge Mensch entgegen, ja zuvorkam. Dieser Mann führte ein sehr einfaches Leben, theils aus Neigung, theils weil seine Gesundheit es so forderte. Er hatte keine Kinder, eine Nichte pflegte ihn, der er sein Vermögen zugedacht hatte, der er einen wackern und thätigen Mann wünschte, um mit Unterstützung eines fremden Capitals und frischer Kräfte dasjenige ausgeführt zu sehen, wovon er zwar einen Begriff hatte, wovon ihn aber seine physischen und ökonomischen Umstände zurück hielten.

Kaum hatte er Ferdinanden gesehen, als ihm dieser sein Mann zu seyn schien, und seine Hoffnung wuchs, als er so viel Neigung des jungen Menschen zum Geschäft und zu der Gegend bemerkte. Er ließ seiner Nichte seine Gedanken merken, und diese schien nicht abgeneigt. Sie war ein junges wohlgebildetes, gesundes und auf jede Weise gut geartetes Mädchen. Die Sorgfalt für [7-68] ihres Oheims Haushaltung erhielt sie immer rasch und thätig, und die Sorge für seine Gesundheit immer weich und gefällig. Man konnte sich zur Gattin keine vollkommnere Person wünschen.

Ferdinand, der nur die Liebenswürdigkeit und die Liebe Ottiliens vor Augen hatte, sah über das gute Landmädchen hinweg, oder wünschte, wenn Ottilie einst als seine Gattin in diesen Gegenden wohnen würde, ihr eine solche Haushälterin und Beschließerin beygeben zu können. Er erwiederte die Freundlichkeit und Gefälligkeit des Mädchens auf eine sehr ungezwungene Weise; er lernte sie näher kennen und sie schätzen; er begegnete ihr bald mit mehrerer Achtung und sowohl sie als ihr Oheim legten sein Betragen nach ihren Wünschen aus.

Ferdinand hatte sich nunmehr genau umgesehen und von allem unterrichtet. Er hatte mit Hülfe des Oheims einen Plan gemacht, und nach seiner gewöhnlichen Leichtigkeit nicht verborgen, daß er darauf rechne, selbst den Plan auszuführen. Zugleich hatte er der Nichte viele Artigkeiten gesagt und jede Haushaltung glücklich gepriesen, die einer so sorgfältigen Wirthin überlassen werden könnte. Sie und ihr Onkel glaubten daher, daß er wirklich Absichten habe, und waren in allem um desto gefälliger gegen ihn.

Nicht ohne Zufriedenheit hatte Ferdinand bey seinen Untersuchungen gefunden, daß er nicht allein auf die Zukunft vieles von diesem Platze zu hoffen habe, sondern daß er auch gleich jetzt einen vortheilhaften Handel schließen, seinem Vater die entwendete Summe wieder erstatten [7-69] und sich also von dieser drückenden Last auf einmal befreyen könne. Er eröffnete seinem Freunde die Absicht seiner Speculation, der eine ausserordentliche Freude darüber hatte, und ihm alle mögliche Beyhülfe leistete, ja er wollte seinem jungen Freunde alles auf Credit verschaffen, das dieser jedoch nicht annahm, sondern einen Theil davon sogleich von dem Ueberschusse des Reisegelds bezahlte, und den andern in gehöriger Frist abzutragen versprach.

Mit welcher Freude er die Waaren packen und laden ließ, war nicht auszusprechen, mit welcher Zufriedenheit er seinen Rückweg antrat, läßt sich gedenken. Denn die höchste Empfindung, die der Mensch haben kann, ist die, wenn er sich von einem Hauptfehler, ja von einem Verbrechen durch eigene Kraft erhebt und los macht. Der gute Mensch, der ohne auffallende Abweichung vom rechten Pfade vor sich hinwandelt, gleicht einem ruhigen lobenswürdigen Bürger, da hingegen jener als ein Held und Ueberwinder Bewunderung und Preiß verdient, und in diesem Sinne scheint das paradoxe Wort gesagt zu seyn, daß die Gottheit selbst an einem zurückkehrenden Sünder mehr Freude habe, als an neun und neunzig Gerechten.

Aber leider konnte Ferdinand durch seine guten Entschlüsse, durch seine Besserung und Wiedererstattung die traurigen Folgen der That nicht aufheben, die ihn erwarteten, und die sein schon wieder beruhigtes Gemüth aufs neue schmerzlich kränken sollten. Während seiner Abwesenheit hatte sich das Gewitter zusammengezogen, das gerade bey seinem Eintritte in das väterliche Haus losbrechen sollte.

[7-70] Ferdinands Vater war, wie wir wissen, was seine Privatcasse betraf, nicht der ordentlichste, die Handlungssachen hingegen wurden von einem geschickten und genauen Associe sehr richtig besorgt. Der Alte hatte das Geld, das ihm der Sohn entwendete, nicht eben gemerkt, ausser daß unglücklicherweise darunter ein Paquet einer in diesen Gegenden ungewöhnlichen Münzsorte gewesen war, die er einem Fremden im Spiel abgewonnen hatte. Diese vermißte er und der Umstand schien ihm bedenklich. Allein was ihn äusserst beunruhigte war, daß ihm einige Rollen, jede mit hundert Dukaten, fehlten, die er vor einiger Zeit verborgt, aber gewiß wieder erhalten hatte. Er wußte, daß der Schreibtisch sonsten durch einen Stoß aufgegangen war, er sah als gewiß an, daß er beraubt sey, und gerieth darüber in die äusserste Heftigkeit. Sein Argwohn schweifte auf allen Seiten herum. Unter den fürchterlichsten Drohungen und Verwünschungen erzählte er den Vorfall seiner Frau; er wollte das Haus um und um kehren, alle Bediente, Mägde und Kinder verhören lassen, niemand blieb von seinem Argwohn frey. Die gute Frau that ihr möglichstes, ihren Gatten zu beruhigen; sie stellte ihm vor, in welche Verlegenheit und Discredit diese Geschichte ihn und sein Haus bringen könnte, wenn sie ruchbar würde, daß niemand an dem Unglück, das uns betreffe, Antheil nehme, als nur um uns durch sein Mitleiden zu demüthigen, daß bey einer solchen Gelegenheit weder er noch sie verschont werden würden, daß man noch wunderlichere Anmerkungen machen könnte, wenn nichts heraus käme, daß man vielleicht den Thäter entdecken, und, ohne ihn auf Zeitlebens unglücklich zu machen, das Geld wieder erhalten könne. Durch diese und andere Vorstellungen [7-71] bewog sie ihn endlich ruhig zu bleiben, und durch stille Nachforschungen der Sache näher zu kommen.

Und leider war die Entdeckung schon nahe genug. Ottiliens Tante war von dem wechselseitigen Versprechen der jungen Leute unterrichtet. Sie wußte von den Geschenken, die ihre Nichte angenommen hatte. Das ganze Verhältniß war ihr nicht angenehm, und sie hatte nur geschwiegen, weil ihre Nichte abwesend war. Eine sichere Verbindung mit Ferdinand schien ihr vortheilhaft, ein ungewisses Abentheuer war ihr unerträglich. Da sie also vernahm, daß der junge Mensch bald zurückkommen sollte, da sie auch ihre Nichte täglich wieder erwartete, eilte sie, von dem, was geschehen war, den Eltern Nachricht zu geben und ihre Meynung darüber zu hören, zu fragen, ob eine baldige Versorgung für Ferdinand zu hoffen sey, und ob man in eine Heirath mit ihrer Nichte willige.

Die Mutter verwunderte sich nicht wenig, als sie von diesen Verhältnissen hörte. Sie erschrack, als sie vernahm, welche Geschenke Ferdinand an Ottilien gegeben hatte. Sie verbarg ihr Erstaunen, bat die Tante, ihr einige Zeit zu lassen, um gelegentlich mit ihrem Manne über du Sache zu sprechen, versicherte, daß sie Ottilien für eine vortheilhafte Parthie halte, und daß es nicht unmöglich sey, ihren Sohn nächstens auf eine schickliche Weise auszustatten.

Als die Tante sich entfernt hatte, hielt sie es nicht für räthlich, ihrem Manne die Entdeckung zu vertrauen. Ihr lag nur daran, das unglückliche Geheimniß aufzuklären, [7-72] ob Ferdinand, wie sie fürchtete, die Geschenke von dem entwendeten Geld gemacht habe? Sie eilte zu dem Kaufmann, der diese Art Geschmeide vorzüglich verkaufte, feilschte um ähnliche Dinge und sagte zuletzt: er müsse sie nicht übertheuern, denn ihrem Sohn, der eine solche Commission gehabt, habe er die Sachen wohlfeiler gegeben. Der Handelsmann betheuerte nein! zeigte die Preiße genau an und sagte dabey: man müsse noch das Agio der Geldsorte hinzurechnen, in der Ferdinand zum Theil bezahlt habe. Er nannte ihr zu ihrer größten Betrübniß die Sorte; es war die, die dem Vater fehlte.

Sie ging nun, nachdem sie sich zum Scheine die nächsten Preise aufsetzen lassen, mit sehr bedrängtem Herzen hinweg. Ferdinands Verirrung war zu deutlich, die Rechnung der Summe, die dem Vater fehlte, war groß, und sie sah nach ihrer sorglichen Gemüthsart die schlimmste That und die fürchterlichsten Folgen. Sie hatte die Klugheit, die Entdeckung vor ihrem Manne zu verbergen, sie erwartete die Zurückkunft ihres Sohnes mit getheilter Furcht und Verlangen. Sie wünschte sich aufzuklären, und fürchtete das Schlimmste zu erfahren.

Endlich kam er mit großer Heiterkeit zurück. Er konnte Lob für sein Geschäft erwarten, und brachte zugleich in seinen Waaren heimlich das Lösegeld mit, wodurch er sich von dem geheimen Verbrechen zu befreyen gedachte.

Der Vater nahm seine Relation gut, doch nicht mit solchem Beyfall auf, wie er hofte, denn der Vorgang mit dem Gelde machte den Mann zerstreut und verdrießlich, [7-73] um so mehr als er einige ansehnliche Posten in diesem Augenblick zu bezahlen hatte. Diese Laune des Vaters drückte ihn sehr, noch mehr die Gegenwart der Wände, der Mobilien, des Schreibtisches, die Zeugen seines Verbrechens gewesen waren. Seine ganze Freude war hin, seine Hoffnungen und Ansprüche; er fühlte sich als einen gemeinen, ja als einen schlechten Menschen.

Er wollte sich eben nach einem stillen Vertriebe der Waaren, die nun bald ankommen sollten, umsehen, und sich durch die Thätigkeit aus seinem Elende herausreissen, als die Mutter ihn bey Seite nahm und ihm mit Liebe und Ernst sein Vergehen vorhielt, und ihm auch nicht den mindesten Ausweg zum Leugnen offen ließ. Sein weiches Herz war zerrissen; er warf sich unter tausend Thränen zu ihren Füßen, bekannte, bat um Verzeihung, betheuerte, daß nur die Neigung zu Ottilien ihn verleiten können, und daß sich keine andere Laster zu diesem jemals gesellt hätten. Er erzählte darauf die Geschichte seiner Reue, daß er vorsetzlich dem Vater die Möglichkeit, den Schreibtisch zu eröffnen, entdeckt, und daß er durch Ersparniß auf der Reise und durch eine glückliche Speculation sich im Stande sehe, alles wieder zu ersetzen.

Die Mutter, die nicht gleich nachgeben konnte, bestand darauf zu wissen, wo er mit den großen Summen hingekommen sey, denn die Geschenke betrügen den geringsten Theil. Sie zeigte ihm zu seinem Entsetzen eine Berechnung dessen, was dem Vater fehlte; er konnte sich nicht einmal ganz zu dem Silber bekennen, und hoch und theuer schwur er, von dem Golde nichts angerührt zu haben. Hierüber war die Mutter äußerst zornig. Sie [7-74] verwieß ihm, daß er in dem Augenblicke, da er durch aufrichtige Reue seine Besserung und Bekehrung wahrscheinlich machen sollte, seine liebevolle Mutter noch mit Leugnen, Lügen und Mährchen aufzuhalten gedenke, daß sie gar wohl wisse, wer des einen fähig sey, sey auch des übrigen alles fähig. Wahrscheinlich habe er unter seinen liederlichen Kameraden Mitschuldige, wahrscheinlich sey der Handel, den er geschlossen, mit dem entwendeten Gelde gemacht, und schwerlich würde er davon etwas erwähnt haben, wenn die Uebelthat nicht zufällig wäre entdeckt worden. Sie drohte ihm mit dem Zorne des Vaters, mit bürgerlichen Strafen, mit völliger Verstossung, doch nichts kränkte ihn mehr, als daß sie ihn merken ließ, eine Verbindung zwischen ihm und zwischen Ottilien sey eben zur Sprache gekommen. Sie verließ ihn mit gerührtem Herzen in dem traurigsten Zustande. Er sah seinen Fehler entdeckt, er sah sich in dem Verdachte, der sein Verbrechen vergrößerte. Wie wollte er seine Eltern überreden, daß er das Gold nicht angegriffen? Bey der heftigen Gemüthsart seines Vaters mußte er einen öffentlichen Ausbruch befürchten; er sah sich im Gegensatze von allem dem, was er seyn konnte. Die Aussicht auf ein thätiges Leben, auf eine Verbindung mit Ottilien verschwand. Er sah sich verstoßen, flüchtig, und in fremden Weltgegenden allem Ungemach ausgesetzt.

Aber selbst alles dieses, was seine Einbildungskraft verwirrte, seinen Stolz verletzte, seine Liebe kränkte, war ihm nicht das Schmerzlichste. Am tiefsten verwundete ihn der Gedanke, daß sein redlicher Vorsatz, sein männlicher Entschluß, sein befolgter Plan, das Geschehene wieder gut zu machen, ganz verkannt, ganz geleugnet, [7-75] gerade zum Gegentheil ausgelegt werden sollte. Wenn ihn jene Vorstellungen zu einer dunkeln Verzweiflung brachten, indem er bekennen mußte, daß er sein Schiksal verdient hatte, so ward er durch diese aufs innigste gerührt, indem er die traurige Wahrheit erfuhr, daß eine Uebelthat selbst gute Bemühungen zu Grunde zu richten im Stande ist. Diese Rückkehr auf sich selbst, diese Betrachtung daß das edelste Streben vergebens seyn sollte, machte ihn weich; er wünschte nicht mehr zu leben.

In diesen Augenblicken dürstete seine Seele nach einem höhern Beystand. Er fiel an seinem Stuhle nieder, den er mit seinen Thränen benetzte, und forderte Hülfe vom göttlichen Wesen. Sein Gebet war eines erhörenswerthen Innhalts: der Mensch, der sich selbst vom Laster wieder erhebt, habe Anspruch auf eine unmittelbare Hülfe, derjenige, der keine seiner Kräfte ungebraucht lasse, könne sich da, wo sie eben ausgehen, wo sie nicht hinreichen, auf den Beystand des Vaters im Himmel berufen.

In dieser Ueberzeugung, in dieser dringenden Bitte verharrte er eine Zeitlang und bemerkte kaum, daß seine Thüre sich öffnete und jemand hereintrat. Es war die Mutter, die mit heiterm Gesichte auf ihn zukam, seine Verwirrung sah und ihn mit tröstlichen Worten anredete. Wie glücklich bin ich, sagte sie, daß ich dich wenigstens als keinen Lügner finde, und daß ich deine Reue für wahr halten kann. Das Gold hat sich gefunden, der Vater, als er es von einem Freunde wieder erhielt, gab es dem Cassier aufzuheben, und durch die vielen Beschäftigungen des Tages zerstreut, hat er es vergessen. Mit dem Silber stimmt deine Angabe ziemlich zusammen, [7-76] die Summe ist nun viel geringer. Ich konnte die Freude meines Herzens nicht verbergen, und versprach dem Vater die fehlende Summe wieder zu verschaffen, wenn er sich zu beruhigen und weiter nach der Sache nicht zu fragen verspräche.

Ferdinand ging sogleich zur größten Freude über. Er eilte sein Handelsgeschäft zu vollbringen, stellte bald der Mutter das Geld zu, ersetzte selbst das, was er nicht genommen hatte, was er wußte, daß bloß durch die Unordnung des Vaters in seinen Ausgaben vermißt wurde. Er war fröhlich und heiter, doch hatte dieser ganze Vorfall eine sehr ernsthafte Wirkung bey ihm zurückgelassen. Er hatte sich überzeugt, daß der Mensch Kraft habe, das Gute zu wollen und zu vollbringen, er glaubte nun auch, daß dadurch der Mensch das göttliche Wesen für sich interessiren und sich dessen Beystand versprechen könne, den er so eben unmittelbar erfahren hatte. Mit großer Freudigkeit entdeckte er nun dem Vater seinen Plan, sich in jenen Gegenden niederzulassen. Er stellte die Anstalt in ihrem ganzen Werthe und Umfange vor; der Vater war nicht abgeneigt und die Mutter entdeckte heimlich ihrem Gatten das Verhältniß Ferdinands zu Ottilien. Diesem gefiel eine so glänzende Schwiegertochter, und die Aussicht, seinen Sohn ohne Kosten ausstatten zu können, war ihm sehr angenehm.

[9-45]
Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten.
Fortsetzung.

Diese Geschichte gefällt mir, sagte Luise, als der Alte geendigt hatte, und ob sie gleich aus dem gemeinen Leben genommen ist; so kommt sie mir doch nicht alltäglich vor. Denn wenn wir uns selbst fragen und andere beobachten; so finden wir, daß wir selten durch uns selbst bewogen werden, diesem oder jenem Wunsche zu entsagen; meist sind es die äußern Umstände die uns dazu nöthigen.

Ich wünschte, sagte Karl, daß wir gar nicht nöthig hätten uns etwas zu versagen, sondern daß wir dasjenige gar nicht kennten was wir nicht besitzen sollen. Leider ist in unsern Zuständen alles so zusammen gedrängt, alles ist bepflanzt, alle Bäume hängen voller Früchte und wir sollen nur immer drunter weggehen, uns an dem Schatten begnügen und auf die schönsten Genüsse Verzicht thun.

Lassen Sie uns, sagte Luise zum Alten, nun Ihre Geschichte weiter hören.

Der Alte. Sie ist wirklich schon aus.

Luise. Die Entwicklung haben wir freylich gehört, nun möchten wir aber auch gerne das Ende vernehmen.

[9-46] Der Alte. Sie unterscheiden richtig, und da Sie sich für das Schicksal meines Freundes interessiren, so will ich Ihnen wie es ihm ergangen noch kürzlich erzählen.

Befreyt von der drückenden Last eines so häßlichen Vergehens, nicht ohne bescheidne Zufriedenheit mit sich selbst, dachte er nun an sein künftiges Glück und erwartete sehnsuchtsvoll die Rückkunft Ottiliens, um sich gegen sie zu erklären und um sein gegebenes Wort im ganzen Umfange zu erfüllen. Sie kam in Gesellschaft ihrer Eltern; er eilte zu ihr, er fand sie schöner und heiterer als jemals. Mit Ungedult erwartete er den Augenblick in welchem er sie allein sprechen und ihr seine Aussichten vorlegen konnte. Die Stunde kam und mit aller Freude und Zärtlichkeit der Liebe erzählte er ihr seine Hofnungen, die Nähe seines Glücks und den Wunsch, es mit ihr zu theilen. Allein wie verwundert war er, ja wie bestürzt, als sie die ganze Sache, sehr leichtsinnig, ja man dürfte beinahe sagen höhnisch aufnahm. Sie scherzte nicht ganz fein über die Einsiedeley, die er sich ausgesucht habe, über die Figur die sie beyde spielen würden, wenn sie sich als Schäfer und Schäferin unter ein Strohdach flüchteten und was dergleichen mehr war.

Betroffen und erbittert kehrte er in sich zurück; ihr Betragen hatte ihn verdrossen und er ward einen Augenblick kalt. Sie war ungerecht gegen ihn gewesen, und nun bemerkte er Fehler an ihr, die ihm sonst verborgen geblieben waren. Auch brauchte es kein sehr helles Auge, um zu sehen, daß ein so genannter Vetter, der mit angekommen war, ihre Aufmerksamkeit auf sich [9-47] zog und einen grossen Theil ihrer Neigung gewonnen hatte.

Bey dem unleidlichen Schmerz, den Ferdinand empfand, nahm er sich doch bald zusammen, und die Ueberwindung, die ihm schon einmal gelungen war, schien ihm zum zweytenmale möglich. Er sah Ottilien oft und gewann über sich, sie zu beobachten; er that freundlich ja zärtlich gegen sie, und sie nicht weniger gegen ihn; allein ihre Reize hatten ihre größte Macht verlohren und er fühlte bald, daß selten bey ihr etwas aus dem Herzen kam, daß sie vielmehr nach Belieben zärtlich und kalt, reizend und abstoßend, angenehm und launisch seyn konnte. Sein Gemüth machte sich nach und nach von ihr los, und er entschloß sich auch noch die letzten Fäden entzwey zu reissen.

Diese Operation war schmerzhafter als er sich vorgestellt hatte. Er fand sie eines Tages allein und nahm sich ein Herz, sie an ihr gegebenes Wort zu erinnern und jene Augenblicke ihr ins Gedächtniß zurück zu rufen, in denen sie beyde durch das zarteste Gefühl gedrungen, eine Abrede auf ihr künftiges Leben genommen hatten. Sie war freundlich, ja man kann fast sagen zärtlich; er ward weicher und wünschte in diesem Augenblick, daß alles anders seyn möchte als er es sichs vorgestellt hatte. Doch nahm er sich zusammen und trug ihr die Geschichte seines bevorstehenden Etablissements mit Ruhe und Liebe vor. Sie schien sich darüber zu freuen und gewissermaßen nur zu bedauern, daß dadurch ihre Verbindung weiter hinausgeschoben werde. Sie gab zu erkennen, daß sie nicht die mindeste Lust habe die Stadt zu verlassen, sie lies [9-48] ihre Hoffnung sehen, daß er sich durch einige Jahre Arbeit in jenen Gegenden, in den Stand setzen könnte, auch unter seinen jetzigen Mitbürgern eine grose Figur zu spielen. Sie lies ihn nicht undeutlich merken, daß sie von ihm erwarte, daß er künftig noch weiter als sein Vater gehen und sich in allem noch ansehnlicher und rechtlicher zeigen werde.

Nur zu sehr fühlte Ferdinand, daß er von einer solchen Verbindung kein Glück zu erwarten habe, und doch war es schwer so vielen Reizen zu entsagen. Ja vielleicht wäre er ganz unschlüßig von ihr weggegangen, hätte ihn nicht der Vetter abgelößt, und in seinem Betragen allzuviel Vertraulichkeit gegen Ottilien gezeigt. Ferdinand schrieb ihr darauf einen Brief, worin er ihr nochmals versicherte, daß sie ihn glücklich machen würde, wenn sie ihm zu seiner neuen Bestimmung folgen wollte; daß er aber für beyde nicht räthlich hielt, eine entfernte Hoffnung auf künftige Zeiten zu nähren, und sich auf eine ungewisse Zukunft durch ein Versprechen zu binden.

Noch auf diesen Brief wünschte er eine günstige Antwort; allein sie kam nicht wie sein Herz, sondern wie sie seine Vernunft billigen mußte. Ottilie gab ihm auf eine sehr zierliche Art sein Wort zurück, ohne sein Herz ganz los zu lassen, und so sprach das Billet auch von ihren Empfindungen; dem Sinne nach war sie gebunden und ihren Worten nach frey.

Was soll ich nun weiter umständlich seyn? Ferdinand eilte in jene friedlichen Gegenden zurück, seine Einrichtung war bald gemacht; er war ordentlich und fleißig [9-49] und ward es nur mehr als das gute natürliche Mädchen, die wir schon kennen, ihn als Gattin beglückte, und der alte Oheim alles that seine häusliche Lage zu sichern und bequem zu machen.

Ich habe ihn in spätern Jahren kennen lernen, umgeben von einer zahlreichen wohlgebildeten Familie. Er hat mir seine Geschichte selbst erzählt und wie es Menschen zu gehen pflegt, denen irgend etwas bedeutendes in früherer Zeit begegnet, so hatte sich auch jene Geschichte so tief bey ihm eingedruckt, daß sie einen großen Einfluß auf sein Leben hatte. Selbst als Mann und Hausvater pflegte er sich manchmal etwas das ihm Freude würde gemacht haben, zu versagen, um nur nicht aus der Uebung einer so schönen Tugend zu kommen, und seine ganze Erziehung bestand gewissermaßen darin, daß seine Kinder sich gleichsam aus dem Stegreife etwas mußten versagen können.

Auf eine Weise die ich im Anfang nicht billigen konnte untersagte er, zum Beyspiel, einem Knaben bey Tische von einer beliebten Speise zu essen. Zu meiner Verwunderung blieb der Knabe heiter, und es war als wenn weiter nichts geschehen wäre.

Und so liessen die ältesten aus eigener Bewegung manchmal ein edles Obst oder sonst einen Leckerbissen vor sich vorbeygehen; dagegen erlaubte er ihnen ich möchte wohl sagen alles, und es fehlte nicht an Arten und Unarten in seinem Hause. Er schien über alles gleichgültig zu seyn und ließ ihnen eine fast unbändige Freyheit; nur fiel es ihm die Woche einmal ein, daß alles auf die [9-50] Minute geschehen mußte, alsdann wurden des Morgens gleich die Uhren regulirt, ein jeder erhielt seine Ordre für den Tag, Geschäfte und Vergnügungen wurden gehäuft und niemand durfte eine Sekunde fehlen. Ich könnte Ihnen stundenlang von seinen Gesprächen und Anmerkungen über diese sonderbare Art der Erziehung unterhalten. Er scherzte mit mir als einem catholischen Geistlichen über meine Gelübde und behauptete, daß eigentlich jeder Mensch sowohl sich selbst Enthaltsamkeit als andern Gehorsam geloben sollte; nicht um sie immer, sondern um sie zur rechten Zeit auszuüben.

Die Baroneß machte eben einige Anmerkungen und gestand, daß dieser Freund im Ganzen wohl recht gehabt habe; denn so komme auch in einem Reiche alles auf die executive Gewalt an; die Gesetzgebende möge so vernünftig seyn als sie wolle, es helfe dem Staate nichts, wenn die ausführende nicht mächtig sey.

Luise sprang ans Fenster, denn sie hörte Friedrichen zum Hofe hereinreiten. Sie gieng ihm entgegen und führte ihn ins Zimmer. Er schien heiter, ob er gleich von Scenen des Jammers und der Verwüstung kam, und anstatt sich in eine genaue Erzählung des Brandes einzulassen, der das Haus ihrer Tante betroffen, versicherte er, daß es ausgemacht sey, daß der Schreibetisch zu eben der Stunde dort verbrannt sey, da der ihrige hier so heftige Sprünge bekommen hatte.

In eben dem Augenblicke, sagte er, als der Brand sich schon dem Zimmer näherte rettete der Verwalter noch eine Uhr, die auf eben diesem Schreibtische stand. Im [9-51] Hinaustragen mochte sich etwas am Werke verrücken und sie blieb auf halb zwölfe stehen. Wir haben also wenigstens was die Zeit betrifft eine völlige Uebereinstimmung. Die Baroneß lächelte, der Hofmeister behauptete, daß wenn zwey Dinge zusammenträfen, man deswegen noch nicht auf ihren Zusammenhang schließen könne! Luisen gefiel es dagegen diese beyden Vorfälle zu verknüpfen, besonders da sie von dem Wohlbefinden ihres Bräutigams Nachricht gehabt hatte, und man ließ der Einbildungskraft abermals vollkommen freyen Lauf.

Wissen Sie nicht, sagte Karl zum Alten, uns irgend ein Mährchen zu erzählen? Die Einbildungskraft ist ein schönes Vermögen, nur mag ich nicht gern, wenn sie das was wirklich geschehen ist, verarbeiten will; die luftigen Gestalten, die sie erschaft, sind uns als Wesen einer eigenen Gattung sehr willkommen, verbunden mit der Wahrheit bringt sie meist nur Ungeheuer hervor und scheint mir alsdann gewöhnlich mit dem Verstand und der Vernunft im Widerspruche zu stehen. Sie muß sich, deucht mich, an keinen Gegenstand hängen, sie muß uns keinen Gegenstand aufdringen wollen, sie soll, wenn sie Kunstwerke hervorbringt, nur wie eine Musik auf uns selbst spielen, uns in uns selbst bewegen und zwar so daß wir vergessen, daß etwas ausser uns sey, das diese Bewegung hervorbringt.

Fahren Sie nicht fort, sagte der Alte, Ihre Anforderungen an ein Product der Einbildungskraft umständlicher auszuführen. Auch das gehört zum Genuß an solchen Werken, daß wir ohne Forderungen genießen, denn sie selbst kann nicht fordern, sie muß erwarten was [9-52] ihr geschenkt wird. Sie macht keine Plane, nimmt sich keinen Weg vor, sondern sie wird von ihren eigenen Flügeln getragen und geführt, und indem sie sich hin und her schwingt, bezeichnet sie die wunderlichsten Bahnen, die sich in ihrer Richtung stets verändern und wenden. Lassen Sie auf meinem gewöhnlichen Spaziergange erst die sonderbaren Bilder wieder in meiner Seele lebendig werden, die mich in frühren Jahren oft unterhielten. Diesen Abend verspreche ich Ihnen ein Mährchen, durch das Sie an nichts und an alles erinnert werden sollen.

Man entließ den Alten gern, um so mehr, da jedes von Friedrichen Neuigkeiten und Nachrichten von dem was indessen geschehen war einzuziehen hoffte.




[10-108]
Mährchen
(zur Fortsezung der Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten.)

An dem großen Fluße, der eben von einem starken Regen geschwollen und übergetreten war, lag, in seiner kleinen Hütte, müde von der Anstrengung des Tages, der alte Fährmann und schlief. Mitten in der Nacht weckten ihn einige laute Stimmen, er hörte, daß Reisende übergesetzt seyn wollten.

Als er vor die Thür hinaus trat sah er zwey große Irrlichter über dem angebundenen Kahne schweben, die ihn versicherten daß sie große Eile hätten und schon an jenem Ufer zu seyn wünschten. Der Alte säumte nicht, stieß ab und fuhr, mit seiner gewöhnlichen Geschicklichkeit, quer über den Strohm, indeß die Fremden in einer unbekannten sehr behenden Sprache gegen einander zischten und mit unter in ein lautes Gelächter ausbrachen, indem sie bald auf den Rändern und Bänken, bald auf dem Boden des Kahns hin und wieder hüpften.

Der Kahn schwankt! rief der Alte und wenn ihr so unruhig seyd kann er umschlagen; setzt euch ihr Lichter!

[10-109] Sie brachen über diese Zumuthung in ein großes Gelächter aus, verspotteten den Alten und waren noch unruhiger als vorher. Er trug ihre Unarten mit Geduld, und stieß bald am jenseitigen Ufer an.

Hier ist für Eure Mühe, riefen die Reisenden, und es fielen, indem sie sich schüttelten, viele glänzende Goldstücken in den feuchten Kahn. – Ums Himmels willen was macht ihr! rief der Alte, ihr bringt mich ins größte Unglück! wäre ein Goldstück ins Wasser gefallen, so würde der Srrohm, der dieß Metall nicht leiden kann, sich in entsetzliche Wellen erhoben, das Schiff und mich verschlungen haben, und wer weiß, wie es euch gegangen seyn würde; nehmt euer Geld wieder zu euch!

Wir können nichts wieder zu uns nehmen, was wir abgeschüttelt haben, versetzten jene.

So macht ihr mir noch die Mühe, sagte der Alte, indem er sich bückte und die Goldstücke in seine Mütze las, daß ich sie zusammen suchen, ans Land tragen und vergraben muß.

Die Irrlichter waren aus dem Kahne gesprungen, und der Alte rief: wo bleibt nun mein Lohn?

Wer kein Gold nimmt, mag umsonst arbeiten! riefen die Irrlichter. – Ihr müßt wissen, daß man mich nur mit Früchten der Erde bezahlen kann. – Mit Früchten der Erde? Wir verschmähen sie, und haben sie nie genossen – Und doch kann ich euch nicht loslassen, bis ihr mir versprecht, daß ihr mir drey Kohlhäupter, [10-110] drey Artischocken und drey große Zwiebeln liefert.

Die Irrlichter wollten scherzend davon schlüpfen; allein sie fühlten sich auf eine unbegreifliche Weise an den Boden gefesselt; es war die unangenehmste Empfindung die sie jemals gehabt hatten. Sie versprachen seine Forderung nächstens zu befriedigen, er entließ sie und stieß ab. Er war schon weit hinweg als sie ihm nachriefen: Alter! hört Alter! wir haben das wichtigste vergessen! Er war fort und hörte sie nicht. Er hatte sich an derselben Seite den Fluß hinab treiben lassen, wo er in einer gebirgigten Gegend, die das Wasser niemals erreichen konnte, das gefährliche Gold verscharren wollte. Dort fand er zwischen hohen Felsen eine ungeheure Kluft, schüttete es hinein und fuhr nach seiner Hütte zurück.

In dieser Kluft befand sich die schöne grüne Schlange, die durch die herabklingende Münze aus ihrem Schlafe geweckt wurde. Sie ersah kaum die leuchtenden Scheiben als sie solche auf der Stelle, mit großer Begierde verschlang, und alle Stücke die sich in dem Gebüsch und zwischen den Felsritzen zerstreut hatten, sorgfältig aufsuchte.

Kaum waren sie verschlungen, so fühlte sie mit der angenehmsten Empfindung das Gold in ihren Eingeweiden schmelzen und sich durch ihren ganzen Körper ausbreiten und zur größten Freude bemerkte sie, daß sie durchsichtig und leuchtend geworden war. Lange hatte man ihr schon versichert, daß diese Erscheinung möglich [10-111] sey; weil sie aber zweifelhaft war, ob dieses Licht lange dauern könne, so trieb sie die Neugierde und der Wunsch sich für die Zukunft sicher zu stellen aus dem Felsen heraus, um zu untersuchen, wer das schöne Gold herein gestreut haben könnte. Sie fand niemanden; desto angenehmer war es ihr, sich selbst, da sie zwischen Kräutern und Gesträuchen hinkroch, und ihr anmuthiges Licht, das sie durch das frische Grün verbreitete, zu bewundern. Alle Blätter schienen von Smaragd, alle Blumen auf das herrlichste verklärt; vergebens durchstrich sie die einsame Wildniß, desto mehr aber wuchs ihre Hoffnung, als sie auf die Fläche kam und von weiten einen Glanz der dem ihrigen ähnlich war, erblickte. Find ich doch endlich meines Gleichen! rief sie aus und eilte nach der Gegend zu. Sie achtete nicht die Beschwerlichkeit durch Sumpf und Rohr zu kriechen; denn ob sie gleich auf trockenen Bergwiesen, in hohen Felsritzen am liebsten lebte, gewürzhafte Kräuter gerne genoß und mit zartem Thau und frischem Quellwasser ihren Durst gewöhnlich stillte; so hätte sie doch des lieben Goldes willen und in Hoffnung des herrlichen Lichtes alles unternommen was man ihr auferlegte.

Sehr ermüdet gelangte sie endlich zu einem feuchten Ried, wo unsere beyden Irrlichter hin und wieder spielten. Sie schoß auf sie loß, begrüßte sie, und freute sich so angenehme Herren von ihrer Verwandtschafft zu finden. Die Lichter strichen an ihr her, hüpften über sie weg und lachten nach ihrer Weise. Frau Muhme, sagten sie, wenn Sie schon von der horizontalen Linie sind, so hat das doch nichts zu bedeuten; freylich sind wir nur von Seiten des Scheins verwandt, denn sehen Sie nur [10-112] (hier machten beyde Flammen, indem sie ihre ganze Breite aufopferten, sich so lang und spitz als möglich) wie schön uns Herren von der vertikalen Linie diese schlanke Länge kleidet; nehmen Sie’s uns nicht übel, meine Freundin; welche Familie kann sich das rühmen? so lang es Irrlichter giebt, hat noch keins weder gesessen noch gelegen.

Die Schlange fühlte sich in der Gegenwart dieser Verwandten sehr unbehaglich, denn sie mochte den Kopf so hoch heben als sie wollte, so fühlte sie doch daß sie ihn wieder zur Erde biegen muste um von der Stelle zu kommen, und hatte sie sich vorher im dunkeln Hayn außerordentlich wohlgefallen, so schien ihr Glanz in Gegenwart dieser Vettern sich jeden Augenblick zu vermindern, ja sie fürchtete, daß er endlich gar verlöschen werde.

In dieser Verlegenheit fragte sie eilig, ob die Herren ihr nicht etwa Nachricht geben könnten, wo das glänzende Gold herkomme, das vor kurzem in die Felskluft gefallen sey; sie vermuthe es sey ein Goldregen, der unmittelbar vom Himmel träufle. Die Irrlichter lachten und schüttelten sich und es sprangen eine große Menge Goldstücke um sie herum. Die Schlange fuhr schnell darnach sie zu verschlingen. Laßt es euch schmecken, Frau Muhme, sagten die artigen Herren, wir können noch mit mehr aufwarten. Sie schüttelten sich noch einige Male mit großer Behendigkeit, so daß die Schlange kaum die kostbare Speise schnell genug hinunter bringen konnte. Sichtlich fing ihr Schein an zu wachsen und sie leuchtete wirklich aufs herrlichste, indeß die Irrlichter ziemlich [10-113] mager und klein geworden waren, ohne jedoch von ihrer guten Laune das mindeste zu verlieren.

Ich bin euch auf ewig verbunden, sagte die Schlange, nachdem sie von ihrer Mahlzeit wieder zu Athem gekommen war, fordert von mir was ihr wollt, was in meinen Kräften ist, will ich euch leisten.

Recht schön! riefen die Irrlichter, sage, wo wohnt die schöne Lilie? Führ uns so schnell als möglich zum Pallaste und Garten der schönen Lilie, wir sterben vor Ungedult, uns ihr zu Füßen zu werfen.

Diesen Dienst, versetzte die Schlange mit einem tiefen Seufzer, kann ich euch sogleich nicht leisten. Die schöne Lilie wohnt leider jenseit des Wassers. – Jenseit des Wassers! Und wir lassen uns in dieser stürmischen Nacht übersetzen! wie grausam ist der Fluß, der uns nun scheidet! sollte es nicht möglich seyn, den Alten wieder zu errufen.

Sie würden sich vergebens bemühen, versetzte die Schlange, denn wenn Sie ihn auch selbst an dem diesseitigen Ufer anträfen, so würde er Sie nicht einnehmen; er darf jedermann herüber, niemand hinüber bringen. – Da haben wir uns schön gebettet; giebt es denn kein ander Mittel, über das Wasser zu kommen? – Noch einige, nur nicht in diesem Augenblick. Ich selbst kann die Herren übersetzen, aber erst in der Mittagsstunde. – Das ist eine Zeit, in der wir nicht gerne reisen. – So können Sie Abends auf dem Schatten des Riesen hinüber fahren – Wie geht das zu? – Der grosse Riese, der [10-114] nicht weit von hier wohnt, vermag mit seinem Körper nichts; seine Hände heben keinen Strohhalm, seine Schultern würden kein Reisbündel tragen; aber sein Schatten vermag viel, ja alles, deswegen ist er beym Aufgang und Untergang der Sonne am mächtigsten, und so darf man sich Abends nur auf den Nacken seines Schatten setzen, der Riese geht alsdann sachte gegen das Ufer zu und der Schatten bringt den Wanderer über das Wasser hinüber. Wollen Sie aber um Mittagszeit sich an jener Waldecke einfinden, wo das Gebüsch dicht ans Ufer stößt, so kann ich Sie übersetzen und der schönen Lilie vorstellen; scheuen Sie hingegen die Mittagshitze, so dürfen Sie nur gegen Abend in jener Felsenbucht den Riesen aufsuchen, der sich gewiß recht gefällig zeigen wird.

Mit einer leichten Verbeugung entfernten sich die jungen Herren und die Schlange war zufrieden von ihnen loszukommen, theils um sich in ihrem eigenen Lichte zu erfreuen, theils eine Neugierde zu befriedigen, von der sie schon lange auf eine sonderbare Weise gequält ward.

In den Felsklüften, in denen sie oft hin und wieder kroch, hatte sie an einem Orte eine sonderbare Entdeckung gemacht. Denn ob sie gleich durch diese Abgründe ohne ein Licht zu kriechen genöthiget war, so konnte sie doch durchs Gefühl die Gegenstände recht wohl unterscheiden. Nur unregelmäßige Naturproducte war sie gewohnt überall zu finden; bald schlang sie sich zwischen den Zacken großer Cristalle hindurch, bald fühlte sie die Hacken und Haare des gediegenen Silbers und brachte ein und den andern Edelstein mit sich ans Licht hervor. Doch hatte sie zu ihrer großen Verwunderung in einem ringsum [10-115] verschlossenen Felsen Gegenstände gefühlt, welche die bildende Hand des Menschen verriethen. Glatte Wände, an denen sie nicht aufsteigen konnte, scharfe regelmäßige Kanten, wohlgebildete Säulen, und, was ihr am sonderbarsten vorkam, menschliche Figuren, um die sie sich mehrmals geschlungen hatte, und die sie für Erz oder äusserst polirten Marmor halten mußte. Alle diese Erfahrungen wünschte sie noch zuletzt durch den Sinn des Auges zusammen zu fassen und das was sie nur muthmaßte, zu bestätigen. Sie glaubte sich nun fähig durch ihr eigenes Licht dieses wunderbare unterirrdische Gewölbe zu erleuchten, und hoffte auf einmal mit diesen sonderbaren Gegenständen völlig bekannt zu werden. Sie eilte und fand auf dem gewohnten Wege bald die Ritze, durch die sie in das Heiligthum zu schleichen pflegte.

Als sie sich am Orte befand, sah sie sich mit Neugier um, und obgleich ihr Schein alle Gegenstände der Rotonde nicht erleuchten konnte, so wurden ihr doch die nächsten deutlich genug. Mit Erstaunen und Ehrfurcht sah sie in eine glänzende Nische hinauf, in welcher das Bildniß eines ehrwürdigen Königs in lauterm Golde aufgestellt war. Dem Maaß nach war die Bildsäule über Menschengröße, der Gestalt nach aber das Bildniß eher eines kleinen als eines großen Mannes. Sein wohlgebildeter Körper war mit einem einfachen Mantel umgeben, und ein Eichenkranz hielt seine Haare zusammen.

Kaum hatte die Schlange dieses ehrwürdige Bildniß angeblickt, als der König zu reden anfing und fragte: wo kommst du her? – Aus den Klüften, versetzte die Schlange, in denen das Gold wohnt. – Was ist herrlicher [10-116] als Gold, fragte der König? – Das Licht, antwortete die Schlange. – Was ist erquicklicher als Licht? fragte jener – das Gespräch antwortete diese.

Sie hatte unter diesen Reden bey Seite geschielt und in der nächsten Nische ein anderes herrliches Bild gesehen. In derselben saß ein silberner König, von langer, und eher schmächtiger Gestalt; sein Körper war mit einem verzierten Gewande überdeckt, Krone, Gürtel und Scepter mit Edelsteinen geschmückt; er hatte die Heiterkeit des Stolzes in seinem Angesichte und schien eben reden zu wollen, als an der marmornen Wand eine Ader, die dunkelfarbig hindurchlief, auf einmal hell ward und ein angenehmes Licht durch den ganzen Tempel verbreitete. Bey diesem Lichte sahe die Schlange den dritten König, der von Erz in mächtiger Gestalt da saß, sich auf seine Keule lehnte, mit einem Lorbeerkranze geschmückt war, und eher einem Felsen als einem Menschen glich. Sie wollte sich nach dem vierten umsehen, der in der größten Entfernung von ihr stand, aber die Mauer öfnete sich, indem die erleuchtete Ader wie ein Blitz zuckte und verschwand.

Ein Mann von mittlerer Größe, der heraustrat, zog die Aufmerksamkeit der Schlange auf sich. Er war als ein Bauer gekleidet und trug eine kleine Lampe in der Hand, in deren stille Flamme man gerne hinein sah, und die auf eine wunderbare Weise, ohne auch nur einen Schatten zu werfen, den ganzen Dom erhellte.

Warum kommst du, da wir Licht haben? fragte der silberne König. – Ihr wißt, daß ich das Dunkle nicht [10-117] erleuchten darf. – Endigt sich mein Reich? fragte der silberne König. – Spät oder nie, versetzte der Alte.

Mit einer starken Stimme fing der eherne König an zu fragen: wann werde ich aufstehn? – Bald, versetzte der Alte. – Mit wem soll ich mich verbinden? fragte der König. – Mit deinen ältern Brüdern, sagte der Alte. – Was wird aus dem jüngsten werden? fragte der König. – Er wird sich setzen, sagte der Alte.

Ich bin nicht müde, rief der vierte König mit einer rauhen stotternden Stimme.

Die Schlange war, indessen jene redeten, in dem Tempel leise herumgeschlichen, hatte alles betrachtet und besah nunmehr den vierten König in der Nähe. Er stand an eine Säule gelehnt, und seine ansehnliche Gestalt war eher schwerfällig als schön. Allein das Metall, woraus es gegossen war, konnte man nicht leicht unterscheiden. Genau betrachtet war es eine Mischung der drey Metalle, aus denen seine Brüder gebildet waren. Aber beym Gusse schienen diese Materien nicht recht zusammen geschmolzen zu seyn; goldne und silberne Adern liefen unregelmäßig durch eine eherne Masse hindurch, und gaben dem Bilde ein unangenehmes Ansehn.

Indessen sagte der goldne König zum Manne: wie viel Geheimnisse weißt du? – Drey versetzte der Alte – Welches ist das wichtigste? fragte der silberne König. – Das offenbare, versetzte der Alte. – Willst du es auch uns eröffnen? fragte der eherne. – Sobald ich das vierte weiß, sagte der Alte – Was kümmerts mich! murmelte der zusammengesetzte König vor sich hin. [10-118] Ich weiß das vierte, sagte die Schlange, näherte sich dem Alten und zischte ihm etwas ins Ohr. – Es ist an der Zeit! rief der Alte mit gewaltiger Stimme. Der Tempel schallte wieder, die metallenen Bildsäulen klangen, und in dem Augenblick versank der Alte nach Westen und die Schlange nach Osten, und jedes durchstrich mit großer Schnelle die Klüfte der Felsen.

Alle Gänge, durch die der Alte hindurch wandelte, füllten sich hinter ihm sogleich mit Gold, denn seine Lampe hatte die wunderbare Eigenschaft, alle Steine in Gold, alles Holz in Silber, todte Thiere in Edelsteine zu verwandeln, und alle Metalle zu zernichten; diese Wirkung zu äussern mußte sie aber ganz allein leuchten. Wenn ein ander Licht neben ihr war, wirkte sie nur einen schönen hellen Schein, und alles Lebendige ward immer durch sie erquickt.

Der Alte trat in seine Hütte, die an dem Berge angebauet war, und fand sein Weib in der größten Betrübniß. Sie saß am Feuer und weinte und konnte sich nicht zufrieden geben. Wie unglücklich bin ich, rief sie aus, wollt ich dich heute doch nicht fortlassen! – Was giebt es denn? fragte der Alte ganz ruhig.

Kaum bist du weg, sagte sie mit Schluchzen, so kommen zwey ungestüme Wanderer vor die Thüre; unvorsichtig lasse ich sie herein, es schienen ein paar artige, rechtliche Leute; sie waren in leichte Flammen gekleidet, man hätte sie für Irrlichter halten können; kaum sind sie im Hause, so fangen sie an, auf eine unverschämte Weise, mir mit Worten zu schmeicheln, und werden so zudringlich, daß ich mich schäme daran zu denken. [10-119] Nun, versetzte der Mann lächelnd, die Herren haben wohl gescherzt; denn deinem Alter nach sollten sie es wohl bey der allgemeinen Höflichkeit gelassen haben.

Was Alter! Alter! rief die Frau, soll ich immer von meinem Alter hören? Wie alt bin ich denn? Gemeine Höflichkeit! Ich weiß doch was ich weiß. Und sieh dich nur um, wie die Wände aussehen; sieh nur die alten Steine, die ich seit hundert Jahren nicht mehr gesehen habe; alles Gold haben sie herunter geleckt, du glaubst nicht, mit welcher Behendigkeit, und sie versicherten immer, es schmecke viel besser als gemeines Gold. Als sie die Wände rein gefegt hatten, schienen sie sehr gutes Muthes, und gewiß sie waren auch in kurzer Zeit sehr viel größer, breiter und glänzender geworden. Nun fingen sie ihren Muthwillen von neuem an, streichelten mich wieder, hießen mich ihre Königin, schüttelten sich und eine Menge Goldstücke sprangen herum; du siehst noch wie sie dort unter der Bank leuchten; aber welch ein Unglück! unser Mops fraß einige davon und sieh da liegt er am Kamine todt; das arme Thier! ich kann mich nicht zufrieden geben. Ich sah es erst, da sie fort waren, denn sonst hätte ich nicht versprochen, ihre Schuld beym Fährmann abzutragen. – Was sind sie schuldig? fragte der Alte – Drey Kohlhäupter, sagte die Frau, drey Artischocken und drey Zwiebeln, wenn es Tag wird, habe ich versprochen, sie an den Fluß zu tragen.

Du kannst ihnen den Gefallen thun, sagte der Alte, denn sie werden uns gelegentlich auch wieder dienen.

Ob sie uns dienen werden, weiß ich nicht, aber versprochen und betheuert haben sie es. [10-120] Indessen war das Feuer im Kamine zusammengebrannt, der Alte überzog die Kohlen mit vieler Asche, schaffte die leuchtenden Goldstücke bey Seite und nun leuchtete sein Lämpchen wieder allein, in dem schönsten Glanze, die Mauern überzogen sich mit Gold und der Mops war zu dem schönsten Onyx geworden, den man sich denken konnte. Die Abwechselung der braunen und schwarzen Farbe des kostbaren Gesteins machte ihn zum seltensten Kunstwerke.

Nimm deinen Korb, sagte der Alte, und stelle den Onyx hinein; alsdann nimm die drey Kohlhäupter, die drey Artischocken und die drey Zwiebeln lege sie umher und trage sie zum Flusse. Gegen Mittag laß dich von der Schlange übersetzen und besuche die schöne Lilie, bring ihr den Onyx, sie wird ihn durch ihre Berührung lebendig machen, wie sie alles Lebendige durch ihre Berührung tödtet; sie wird einen treuen Gefährden an ihm haben. Sage ihr, sie solle nicht trauern, ihre Erlösung sey nahe, das größte Unglück könne sie als das größte Glück betrachten, denn es sey an der Zeit.

Die Alte packte ihren Korb und machte sich, als es Tag war, auf den Weg. Die aufgehende Sonne schien hell über den Fluß herüber, der in der Ferne glänzte, das Weib gieng mit langsamem Schritt, denn der Korb drückte sie aufs Haupt und es war nicht der Onyx der so lastete. Alles todte was sie trug fühlte sie nicht, vielmehr hob sich alsdann der Korb in die Höhe und schwebte über ihrem Haupte. Aber ein frisches Gemüß oder ein kleines lebendiges Thier zu tragen war ihr äußerst beschwerlich. Verdrießlich war sie eine Zeitlang hingegangen als sie auf einmal, erschreckt, stille [10-121] stand, denn sie hätte beynahe auf den Schatten des Riesen getreten, der sich über die Ebene bis zu ihr hin erstreckte, und nun sah sie erst den gewaltigen Riesen, der sich im Fluß gebadet hatte, aus dem Wasser heraussteigen und sie wußte nicht, wie sie ihm ausweichen sollte. Sobald er sie gewahr ward, fing er sie scherzhafft zu begrüßen an und die Hände seines Schattens griffen sogleich in den Korb. Mit Leichtigkeit und Geschicklichkeit nahmen sie ein Kohlhaupt, eine Artischocke und eine Zwiebel heraus und brachten sie dem Riesen zum Munde, der sodann weiter den Fluß hinauf ging und dem Weibe den Weg frey ließ.

Sie bedachte, ob sie nicht lieber zurückgehen und die fehlende Stücke aus ihrem Garten wieder ersetzen sollte, und ging unter diesen Zweifeln immer weiter vorwärts, so daß sie bald an dem Ufer des Flusses ankam. Lange saß sie in Erwartung des Fährmanns, den sie endlich mit einem sonderbaren Reisenden herüberschiffen sah. Ein junger edler schöner Mann, den sie nicht genug ansehen konnte, stieg aus dem Kahne.

Was bringt Ihr? rief der Alte. – Es ist das Gemüse das Euch die Irrlichter schuldig sind, versetzte die Frau und wieß ihre Waare hin. Als der Alte von jeder Sorte nur zwey fand ward er verdrießlich und versicherte daß er sie nicht annehmen könne. Die Frau bat ihn inständig, erzählte ihm daß sie jetzt nicht nach Hause gehen könne und daß ihr die Last auf dem Wege den sie vor sich habe beschwerlich sey. Er blieb bey seiner abschläglichen Antwort, indem er sie versicherte daß es nicht einmal von ihm abhange. Was mir gebührt, muß ich [10-122] neun Stunden zusammen lassen, und ich darf nichts annehmen, bis ich dem Fluß ein Drittheil übergeben habe. Nach vielen hin und wiederreden versetzte endlich der Alte: es ist noch ein Mittel. Wenn Ihr Euch gegen den Fluß verbürgt und Euch als Schuldnerin bekennen wollt, so nehm ich die sechs Stücke zu mir, es ist aber einige Gefahr dabey. – Wenn ich mein Wort halte, so laufe ich doch keine Gefahr? – Nicht die geringste. Steckt Eure Hand in den Fluß, fuhr der Alte fort, und versprecht daß Ihr in vier und zwanzig Stunden die Schuld abtragen wollt.

Die Alte thats, aber wie erschrack sie nicht als sie ihre Hand kohlschwarz wieder aus dem Wasser zog. Sie schalt heftig auf den Alten, versicherte, daß ihre Hände immer das schönste an ihr gewesen wären, und daß sie, ohnerachtet der harten Arbeit, diese edlen Glieder weiß und zierlich zu erhalten gewußt habe. Sie besah die Hand mit großem Verdrusse und rief verzweiflungsvoll aus: Das ist noch schlimmer! ich sehe sie ist gar geschwunden, sie ist viel kleiner als die andere.

Jetzt scheint es nur so, sagte der Alte, wenn Ihr aber nicht Wort haltet, kann es wahr werden. Die Hand wird nach und nach schwinden und endlich ganz verschwinden, ohne daß Ihr den Gebrauch derselben entbehrt. Ihr werdet alles damit verrichten können nur daß sie niemand sehen wird. – Ich wollte lieber ich könnte sie nicht brauchen und man säh’ mirs nicht an, sagte die Alte, indessen hat das nichts zu bedeuten, ich werde mein Wort halten, um diese schwarze Haut und diese Sorge bald los zu werden. Eilig nahm sie darauf den Korb, [10-123] der sich von selbst über ihren Scheitel erhob und frey in die Höhe schwebte und eilte dem jungen Manne nach, der sachte und in Gedanken am Ufer hinging. Seine herrliche Gestalt und sein sonderbarer Anzug hatten sich der Alten tief eingedruckt.

Seine Brust war mit einem glänzenden Harnisch bedeckt, durch den alle Theile seines schönen Leibes sich durchbewegten. Um seine Schultern hing ein purpur Mantel, um sein unbedecktes Haupt wallten braune Haare in schönen Locken; sein holdes Gesicht war den Strahlen der Sonne ausgesetzt, so wie seine schön gebauten Füße. Mit nackten Sohlen ging er gelassen über den heissen Sand hin und ein tiefer Schmerz schien alle äussere Eindrücke abzustumpfen.

Die gesprächige Alte suchte ihn zu einer Unterredung zu bringen, allein er gab ihr mir kurzen Worten wenig Bescheid, so daß sie endlich ungeachtet seiner schönen Augen müde ward ihn immer vergebens anzureden, von ihm Abschied nahm und sagte: Ihr geht mir zu langsam, mein Herr, ich darf den Augenblick nicht versäumen um über die grüne Schlange den Fluß zu passiren und der schönen Lilie das vortrefliche Geschenk von meinem Manne zu überbringen. Mit diesen Worten schritt sie eilends fort und eben so schnell ermannte sich der schöne Jüngling und eilte ihr auf dem Fuße nach. Ihr geht zur schönen Lilie! rief er aus, da gehen wir Einen Weg. Was ist das für ein Geschenk das Ihr tragt?

Mein Herr, versetzte die Frau dagegen, es ist nicht [10-124] billig nachdem Ihr meine Fragen so einsylbig abgelehnt habt, Euch mit solcher Lebhaftigkeit nach meinen Geheimnissen zu erkundigen. Wollt Ihr aber einen Tausch eingehen und mir Eure Schicksale erzählen, so will ich Euch nicht verbergen wie es mit mir und meinem Geschenke steht. Sie wurden bald einig; Die Frau vertraute ihm ihre Verhältnisse, die Geschichte des Hundes und ließ ihn dabey das wundervolle Geschenk betrachten.

Er hob sogleich das natürliche Kunstwerk aus dem Korbe und nahm den Mops der sanft zu ruhen schien, in seine Arme. Glückliches Thier! rief er aus, du wirst von ihren Händen berührt, du wirst von ihr belebt werden, anstatt daß Lebendige vor ihr fliehen um nicht ein trauriges Schicksal zu erfahren, Doch was sage ich traurig! ist es nicht viel betrübter und bänglicher durch ihre Gegenwart gelähmt zu werden, als es seyn würde von ihrer Hand zu sterben. Sieh mich an, sagte er zu der Alten, in meinen Jahren, welch einen elenden Zustand muß ich erdulten. Diesen Harnisch, den ich mit Ehren im Kriege getragen, diesen Purpur, den ich durch eine weise Regierung zu verdienen suchte, hat mir das Schicksal gelassen, jenen als eine unnöthige Last, diesen als eine unbedeutende Zierde. Krone, Scepter und Schwert sind hinweg, ich bin übrigens so nackt und bedürftig als jeder andere Erdensohn, denn so unselig wirken ihre schönen blauen Augen, daß sie allen lebendigen Wesen ihre Kraft nehmen und daß diejenigen, die ihre berührende Hand nicht tödtet, sich in den Zustand lebendig wandelnder Schatten versetzt fühlen.

So fuhr er fort zu klagen und befriedigte die Neugierde [10-125] der Alten keineswegs, welche nicht sowohl von seinem innern als von seinem äußern Zustande unterrichtet seyn wollte. Sie erfuhr weder den Nahmen seines Vaters noch seines Königreichs. Er streichelte den harten Mops, den die Sonnenstrahlen und der warme Busen des Jünglings als wenn er lebte erwärmt hatten. Er fragte viel nach dem Mann mit der Lampe, nach den Wirkungen des heiligen Lichtes und schien sich davon für seinen traurigen Zustand künftig viel Gutes zu versprechen.

Unter diesen Gesprächen sahen sie von ferne den majestätischen Bogen der Brücke, der von Einem Ufer zum andern hinüber reichte, im Glanz der Sonne auf das wunderbarste schimmern. Beyde erstaunten, denn sie hatten dieses Gebäude noch nie so herrlich gesehen. Wie! rief der Prinz; war sie nicht schon schön genug, als sie vor unsern Augen wie von Jaspis und Prasem gebaut da stand, muß man nicht fürchten sie zu betreten, da sie aus Smaragd, Chrysopras und Chrysolit mit der anmuthigsten Mannigfaltigkeit zusammengesetzt erscheint. Beyde wusten nicht die Veränderung, die mit der Schlange vorgegangen war, denn die Schlange war es, die sich jeden Mittag über den Fluß hinüber bäumte und in Gestalt einer kühnen Brücke da stand. Die Wanderer betraten sie mit Ehrfurcht und giengen schweigend hinüber.

Sie waren kaum an jenseitigem Ufer, als die Brücke sich zu schwingen und zu bewegen anfing, in kurzem die Oberfläche des Wassers berührte und die grüne Schlange in ihrer eigenthümlichen Gestalt den Wanderern auf dem Lande nachgleitete. Beyde hatten kaum für die Erlaubniß [10-126] auf ihrem Rücken über den Fluß zu setzen gedankt, als sie bemerkten, daß ausser ihnen dreyen noch mehrere Personen in der Gesellschaft seyn müßten, die sie jedoch mit ihren Augen nicht erblicken konnten. Sie hörten neben sich ein Gezisch, dem die Schlange gleichfalls mit einem Gezisch antwortete, sie horchten auf und konnten endlich folgendes vernehmen: wir werden, sagten ein paar wechselnde Stimmen, uns erst Incognito in dem Park der schönen Lilie umsehen, und ersuchen euch uns mit Anbruch der Nacht, sobald wir nur irgend präsentabel sind, der vollkommenen Schönheit vorzustellen. An dem Rande des grossen Sees werdet ihr uns antreffen. Es bleibt dabey, antwortete die Schlange und ein zischender Laut verlohr sich in der Luft.

Unsre drey Wanderer beredeten sich nunmehr in welcher Ordnung sie bey der Schönen vortreten wollten, denn so viel Personen auch nun sie seyn konnten, so durften sie doch nur einzeln kommen und gehen, wenn sie nicht empfindliche Schmerzen erdulten sollten.

Das Weib mit dem verwandelten Hunde im Korbe nahte sich zuerst dem Garten und suchte ihre Gönnerin auf, die leicht zu finden war, weil sie eben zur Harfe sang; die lieblichen Töne zeigten sich erst als Ringe auf der Oberfläche des stillen Sees, dann wie ein leichter Hauch setzten sie Gras und Büsche in Bewegung. Auf einem eingeschlossenen grünen Platze in dem Schatten einer herrlichen Gruppe mannigfaltiger Bäume saß sie und bezauberte beym ersten Anblick aufs neue die Augen, das Ohr und das Herz des Weibes das sich ihr mit Entzücken näherte und bey sich selbst schwur, die Schöne sey [10-127] während ihrer Abwesenheit nur immer schöner geworden. Schon von weiten rief die gute Frau dem liebenswürdigsten Mädchen Gruß und Lob zu. Welch ein Glück Euch anzusehen, welch einen Himmel verbreitet Eure Gegenwart um Euch her! Wie die Harfe so reizend in Eurem Schoße lehnt, wie Eure Arme sie so sanft umgeben, wie sie sich nach Eurer Brust zu sehnen scheint und wie sie unter der Berührung Eurer schlanken Finger so zärtlich klingt! Dreyfach glücklicher Jüngling, der du ihren Platz einnehmen konntest!

Unter diesen Worten war sie näher gekommen, die schöne Lilie schlug die Augen auf, ließ die Hände sinken und versetzte: betrübe mich nicht durch ein unzeitiges Lob, ich empfinde nur desto stärker mein Unglück. Sieh hier zu meinen Füßen liegt der arme Canarienvogel todt, der sonst meine Lieder auf das angenehmste begleitete; er war gewöhnt auf meiner Harfe zu sitzen und sorgfältig abgerichtet mich nicht zu berühren; heute, indem ich vom Schlaf erquickt, ein ruhiges Morgenlied anstimme, und mein kleiner Sänger munterer als jemals seine harmonischen Töne hören läßt, schießt ein Habicht über meinem Haupte hin, das arme kleine Thier, erschrocken, flüchtet in meinen Busen und in dem Augenblick fühl ich die letzten Zuckungen seines scheidenden Lebens. Zwar von meinem Blicke getroffen schleicht der Räuber dort ohnmächtig am Wasser hin, aber was kann mir seine Strafe helfen, mein Liebling ist todt und sein Grab wird nur das traurige Gebüsch meines Gartens vermehren.

Ermannt euch, schöne Lilie! rief die Frau indem sie selbst eine Thräne abtrocknete, welche ihr die Erzählung [10-128] des unglücklichen Mädchens aus den Augen gelockt hatte, nehmt Euch zusammen, mein Alter läßt Euch sagen, Ihr sollt eure Trauer mäßigen; das gröste Unglück als Vorbote des größten Glückes ansehen; denn es sey an der Zeit; und wahrhaftig, fuhr die Alte fort, es geht bunt in der Welt zu. Seht nur meine Hand wie sie schwarz geworden ist, wahrhaftig sie ist schon um vieles kleiner ich muß eilen eh’ sie gar verschwindet! Warum mußt ich den Irrlichtern eine Gefälligkeit erzeigen, warum mußt ich dem Riesen begegnen und warum meine Hand in den Fluß tauchen? Könnt Ihr mir nicht ein Kohlhaupt, eine Artischocke und eine Zwiebel geben? so bring ich sie dem Fluße und meine Hand ist weiß wie vorher, so daß ich sie fast neben die Eurige halten könnte.

Kohlhäupter und Zwiebel könntest du allenfalls noch finden; aber Artischocken suchest du vergebens. Alle Pflanzen in meinem grossen Garten tragen weder Blüthen noch Früchte, aber jedes Reis das ich breche und auf das Grab eines Lieblings pflanze grünt sogleich und schießt hoch auf. Alle diese Gruppen, diese Büsche, diese Hayne habe ich leider wachsen sehen. Die Schirme dieser Pinien, die Obelisken dieser Zypressen, die Colossen von Eichen und Buchen, alles waren kleine Reißer als ein trauriges Denkmal von meiner Hand in einen sonst unfruchtbaren Boden gepflanzt.

Die Alte hatte auf diese Rede wenig acht gegeben und nur ihre Hand betrachtet, die in der Gegenwart der schönen Lilie immer schwärzer und von Minute zu Minute kleiner zu werden schien. Sie wollte ihren Korb nehmen und eben forteilen, als sie fühlte daß sie das [10-129] Beste vergessen hatte. Sie hub sogleich den verwandelten Hund heraus und setzte ihn nicht weit von der Schönen ins Gras. Mein Mann, sagte sie, schickt Euch dieses Andenken, Ihr wißt, daß Ihr diesen Edelstein durch Eure Berührung beleben könnt. Das artige treue Thier wird Euch gewiß viel Freude machen und die Betrübniß, daß ich ihn verliehre, kann nur durch den Gedanken aufgeheitert werden daß Ihr ihn besitzt.

Die schöne Lilie sah das artige Thier mit Vergnügen und wie es schien mit Verwunderung an. Es kommen viele Zeichen zusammen, sagte sie, die mir einige Hoffnung einflößen; aber ach! ist es nicht bloß ein Wahn unsrer Natur, daß wir dann, wenn vieles Unglück zusammen trift, uns vorbilden das Beste sey nah.

Was helfen mir die vielen guten Zeichen?
Des Vogels Tod, der Freundin schwarze Hand?
Der Mops von Edelstein, hat er wohl seines gleichen?
Und hat ihn nicht die Lampe mir gesandt?
Entfernt vom süßen menschlichen Genusse,
Bin ich doch mit dem Jammer nur vertraut.
Ach! warum steht der Tempel nicht am Flusse,
Ach! warum ist die Brücke nicht gebaut!

Ungedultig hatte die gute Frau diesem Gesange zugehört, den die schöne Lilie mit den angenehmen Tönen ihrer Harfe begleitete und der jeden andern entzückt hätte. Eben wollte sie sich beurlauben, als sie durch die Ankunft der grünen Schlange abermals abgehalten wurde. Diese hatte die letzten Zeilen des Liedes gehört und sprach deshalb der schönen Lilie sogleich zuversichtlich Muth ein. [10-130] Die Weissagung von der Brücke ist erfüllt! rief sie aus, fragt nur diese gute Frau wie herrlich der Bogen gegenwärtig erscheint. Was sonst undurchsichtiger Jaspis, was nur Prasem war, durch den das Licht höchstens auf den Kanten durchschimmerte, ist nun durchsichtiger Edelstein geworden. Kein Beryll ist so klar und kein Smaragd so schön farbig.

Ich wünsche euch Glück dazu, sagte Lilie, allein verzeihet mir wenn ich die Weissagung noch nicht erfüllt glaube. Ueber den hohen Bogen eurer Brücke können nur Fußgänger hinüber schreiten und es ist uns versprochen, daß Pferde und Wagen und Reisende aller Art zu gleicher Zeit über die Brücke herüber und hinüber wandern sollen. Ist nicht von den grossen Pfeilern geweissagt, die aus dem Flusse selbst heraussteigen werden?

Die Alte hatte ihre Augen immer auf die Hand geheftet, unterbrach hier das Gespräch und empfahl sich. Verweilt noch einen Augenblick sagte die schöne Lilie, und nehmt meinen armen Canarienvogel mit. Bittet die Lampe, daß sie ihn in einen schönen Topas verwandle, ich will ihn durch meine Berührung beleben und er, mit Eurem guten Mops, soll mein bester Zeitvertreib seyn; aber eilt was Ihr könnt, denn mit Sonnenuntergang ergreift unleidliche Fäulniß das arme Thier und zerreißt den schönen Zusammenhang seiner Gestalt auf ewig.

Die Alte legte den kleinen Leichnam zwischen zarte Blätter in den Korb und eilte davon.

Wie dem auch sey, sagte die Schlange indem sie das abgebrochene Gespräch fortsetzte, der Tempel ist erbauet. [10-131] Er steht aber noch nicht am Flusse, versetzte die Schöne.

Noch ruht er in den Tiefen der Erde, sagte die Schlange; ich habe die Könige gesehen und gesprochen.

Aber wann werden sie aufstehen? fragte Lilie.

Die Schlange versetzte, ich hörte die grossen Worte im Tempel ertönen: es ist an der Zeit.

Eine angenehme Heiterkeit verbreitete sich über das Angesicht der Schönen. Höre ich doch, sagte sie, die glücklichen Worte schon heute zum zweytenmal, wann wird der Tag kommen, an dem ich sie dreymal höre?

Sie stand auf und sogleich trat ein reitzendes Mädchen aus dem Gebüsch, das ihr die Harfe abnahm. Dieser folgte eine andere, die den elfenbeinernen, geschnitzten Feldstuhl, worauf die Schöne gesessen hatte, zusammenschlug und das silberne Kissen unter den Arm nahm. Eine Dritte die einen grossen, mit Perlen gestickten Sonnenschirm trug, zeigte sich darauf erwartend ob Lilie, auf einem Spatziergange, etwa ihrer bedürfe. Ueber allen Ausdruck schön und reitzend waren diese drey Mädchen und doch erhöhten sie nur die Schönheit der Lilie, indem sich jeder gestehen mußte, daß sie mit ihr gar nicht verglichen werden konnten.

Mit Gefälligkeit hatte indeß die schöne Lilie den wunderbaren Mops betrachtet. Sie beugte sich, berührte ihn und in dem Augenblicke sprang er auf. Munter sah er [10-132] sich um, lief hin und wieder und eilte zuletzt seine Wohlthäterin auf das freundlichste zu begrüßen. Sie nahm ihn auf die Arme und drückte ihn an sich. So kalt du bist, rief sie aus, und obgleich nur ein halbes Leben in dir wirkt, bist du mir doch willkommen, zärtlich will ich dich lieben, artig mit dir scherzen, freundlich dich streicheln, und fest dich an mein Herz drücken. Sie ließ ihn darauf los jagte ihn von sich, rief ihn wieder, scherzte so artig mit ihm und trieb sich so munter und unschuldig mit ihm auf dem Grase herum, daß man mit neuem Entzücken ihre Freude betrachten und Theil daran nehmen mußte, so wie kurz vorher ihre Trauer jedes Herz zum Mitleid gestimmt hatte.

Diese Heiterkeit, diese anmuthigen Scherze wurden durch die Ankunft des traurigen Jünglings unterbrochen. Er trat herein wie wir ihn schon kennen, nur schien die Hitze des Tages ihn noch mehr abgemattet zu haben und in der Gegenwart der Geliebten ward er mit jedem Augenblicke blässer. Er trug den Habicht auf seiner Hand, der wie eine Taube ruhig saß und die Flügel hängen ließ.

Es ist nicht freundlich, rief Lilie ihm entgegen, daß du mir das verhaßte Thier vor die Augen bringst. Das Ungeheuer, das meinen kleinen Sänger heute getödtet hat.

Schilt den unglücklichen Vogel nicht, versetzte darauf der Jüngling, klage vielmehr dich an und das Schicksal, und vergönne mir daß ich mit dem Gefährten meines Elends Gesellschafft mache.

Indessen hörte der Mops nicht auf, die Schöne zu [10-133] necken, und sie antwortete dem durchsichtigen Liebling durch das freundlichste Betragen. Sie klatschte mit den Händen um ihn zu verscheuchen, dann lief sie um ihn wieder nach sich zu ziehen. Sie suchte ihn zu haschen wenn er floh und jagte ihn von sich weg wenn er sich an sie zu drängen versuchte. Der Jüngling sah stillschweigend und mit wachsendem Verdrusse zu; aber endlich da sie das häßliche Thier das ihm ganz abscheulich vorkam, auf den Arm nahm, an ihren weissen Busen drückte und die schwarze Schnauze mit ihren himmlischen Lippen küßte, verging ihm alle Geduld und er rief voller Verzweiflung aus: muß ich, der ich durch ein trauriges Geschick vor dir, vielleicht auf immer, in einer getrennten Gegenwart lebe, der ich durch dich alles, ja mich selbst, verlohren habe, muß ich vor meinen Augen sehen daß eine so widernatürliche Mißgeburt dich zur Freude reitzen, deine Neigung fesseln und deine Umarmung geniessen kann. Soll ich noch länger nur so hin und wieder gehen und den traurigen Creiß den Fluß herüber und hinüber abmessen? Nein, es ruht noch ein Funke des alten Heldenmuthes in meinem Busen; er schlage in diesem Augenblick zur letzten Flamme auf. Wenn Steine an deinem Busen ruhen können, so möge ich zu Stein werden wenn deine Berührung tödtet, so will ich von deinen Händen sterben.

Mit diesen Worten machte er eine heftige Bewegung; der Habicht flog von seiner Hand, er aber stürzte auf die Schöne los, sie streckte die Hände aus ihn abzuhalten und berührte ihn nur desto früher. Das Bewußtseyn verließ ihn und mit Entsetzen fühlte sie die schöne Last an ihrem Busen. Mit einem Schrey trat sie zurück und der holde Jüngling sank entseelt aus ihren Armen zur Erde. [10-134] Das Unglück war geschehen! Die süsse Lilie stand unbeweglich, und blickte starr nach dem entseelten Leichnam. Das Herz schien ihr im Busen zu stocken und ihre Augen waren ohne Thränen. Vergebens suchte der Mops ihr eine freundliche Bewegung abzugewinnen, die ganze Welt war mit ihrem Freunde ausgestorben. Ihre stumme Verzweiflung sah sich nach Hülfe nicht um, denn sie kannte keine Hülfe.

Dagegen regte sich die Schlange desto emsiger, sie schien auf Rettung zu sinnen und wirklich dienten ihre sonderbaren Bewegungen wenigstens die nächsten schrecklichen Folgen des Unglücks auf einige Zeit zu hindern. Sie zog mit ihrem geschmeidigen Körper einen weiten Creiß um den Leichnam, faßte das Ende ihres Schwanzes mit den Zähnen und blieb ruhig liegen.

Nicht lange, so trat eine der schönen Dienerinnen Liliens hervor, brachte den elfenbeinernem Feldstuhl, und nöthigte, mit freundlichem Gebärden, die Schöne sich zu setzen, bald darauf kam die Zweyte, die einen feuerfarbenen Schleyer trug und das Haupt ihrer Gebieterinn damit mehr zierte als bedeckte, die Dritte übergab ihr die Harfe und kaum hatte sie das prächtige Instrument an sich gedruckt, und einige Töne aus den Saiten hervorgelockt, als die erste mit einem hellen runden Spiegel zurück kam, sich der Schönen gegen über stellte, ihre Blicke auffing und ihr das angenehmste Bild das in der Natur zu finden war darstellte. Der Schmerz erhöhte ihre Schönheit, der Schleyer ihre Reitze, die Harfe ihre Anmuth, und so sehr man hoffte ihre traurige Lage verändert zu sehen; so sehr wünschte man ihr Bild ewig wie es gegenwärtig erschien fest zu halten. [10-135] Mit einem stillen Blick nach dem Spiegel lockte sie bald schmelzende Töne aus den Saiten, bald schien ihr Schmerz zu steigen, und die Saiten antworteten gewaltsam ihrem Jammer; einigemal öfnete sie den Mund zu singen, aber die Stimme versagte ihr, doch bald lößte sich ihr Schmerz in Thränen auf, zwey Mädchen faßten sie hülfreich in die Arme, die Harfe sank aus ihrem Schoß, kaum ergriff noch die schnelle Dienerin das Instrument und trug es bey Seite.

Wer schafft uns den Mann mit der Lampe, ehe die Sonne untergeht? zischte die Schlange leise, aber vernehmlich; die Mädchen sahen einander an, und Liliens Thränen vermehrten sich. In diesem Augenblicke kam athemloß die Frau mit dem Korbe zurück. Ich bin verlohren und verstümmelt rief sie aus! seht wie meine Hand beynahe ganz weggeschwunden ist, weder der Fährmann noch der Riese wollten mich über setzen, weil ich noch eine Schuldnerin des Wassers bin, vergebens habe ich hundert Kohlhäupter und hundert Zwiebeln angeboten, man will nicht mehr als die drey Stücke und kein Artischocke ist nun einmal in diesen Gegenden zu finden.

Vergeßt eure Noth sagte die Schlange und sucht hier zu helfen, vielleicht kann euch zugleich mit geholfen werden. Eilt was ihr könnt die Irrlichter aufzusuchen, es ist noch zu hell sie zu sehen, aber vielleicht hört ihr sie lachen und flattern. Wenn sie eilen, so setzt sie der Riese noch über den Fluß und sie können den Mann mit der Lampe finden und schicken.

Das Weib eilte so viel sie konnte und die Schlange [10-136] schien eben so ungedultig als Lilie die Rückkunft der beyden zu erwarten. Leider vergoldete schon der Strahl der sinkenden Sonne nur den höchsten Gipfel her Bäume des Dickichts und lange Schatten zogen sich über See und Wiese, die Schlange bewegte sich ungedultig und Lilie zerfloß in Thränen.

In dieser Noth sah die Schlange sich überall um, denn sie fürchtete jeden Augenblick die Sonne werde untergehen, die Fäulniß den magischen Creiß durchdringen und den schönen Jüngling unaufhaltsam anfallen. Endlich erblickte sie hoch in den Lüften, mit purpurrothen Federn, den Habicht, dessen Brust die letztern Strahlen der Sonne auffing. Sie schüttelte sich für Freuden über das gute Zeichen und sie betrog sich nicht, denn kurz darauf sah man den Mann mit der Lampe über den See hergleiten, gleich als wenn er auf Schrittschuhen ginge.

Die Schlange veränderte nicht ihre Stelle, aber die Lilie stand auf und rief ihm zu: welcher gute Geist sendet dich in dem Augenblick, da wir so sehr nach dir verlangen und deiner so sehr bedürfen.

Der Geist meiner Lampe, versetzte der Alte, treibt mich und der Habicht führt mich hierher. Sie spratzelt wenn man meiner bedarf, und ich sehe mich nur in den Lüften nach einem Zeichen um, irgend ein Vogel oder Meteor zeigt mir die Himmelsgegend an, wohin ich mich wenden soll. Sey ruhig, schönstes Mädchen, ob ich helfen kann weiß ich nicht, ein einzelner hilft nicht, sondern wer sich mit vielen zur rechten Stunde vereinigt. Aufschieben wollen wir und hoffen. Halte deinen Creiß [10-137] geschlossen, fuhr er fort, indem er sich an die Schlange wendete, sich auf einen Erdhügel neben sie hinsetzte und den todten Körper beleuchtete. Bringt den artigen Kanarienvogel auch her und leget ihn in den Creiß! Die Mädchen nahmen den kleinen Leichnam aus dem Korbe, den die Alte stehen ließ, und gehorchten dem Manne.

Die Sonne war indessen untergegangen, und wie die Finsterniß zunahm fing nicht allein die Schlange und die Lampe des Mannes nach ihrer Weise zu leuchten an, sondern der Schleyer Liliens gab auch ein sanftes Licht von sich, das wie eine zarte Morgenröthe ihre blassen Wangen und ihr weißes Gewand mit einer unendlichen Anmuth färbte. Man sah sich wechselsweise mit stiller Betrachtung an, Sorge und Trauer waren durch eine sichere Hoffnung gemildert.

Nicht unangenehm erschien daher das alte Weib in Gesellschaft der beyden muntern Flammen, die zwar zeither sehr verschwendet haben musten, denn sie waren wieder äusserst mager geworden, aber sich nur desto artiger gegen die Prinzessin und die übrigen Frauenzimmer betrugen. Mit der grösten Sicherheit und mit vielem Ausdruck sagten sie ziemlich gewöhnliche Sachen, besonders zeigten sie sich sehr empfänglich für den Reitz den der leuchtende Schleyer über Lilien und ihre Begleiterinnen verbreitete. Bescheiden schlugen die Frauenzimmer ihre Augen nieder und das Lob ihrer Schönheit verschönerte sie wirklich. Jedermann war zufrieden und ruhig bis auf die Alte. Ohngeachtet der Versicherung ihres Mannes, daß ihre Hand nicht weiter abnehmen könne solange sie von seiner Lampe beschienen sey, behauptete sie mehr als [10-138] Einmal daß wenn es so fort gehe noch vor Mitternacht dieses edle Glied völlig verschwinden werde.

Der Alte mit der Lampe hatte dem Gespräch der Irrlichter aufmerksam zugehört und war vergnügt, daß Lilie durch diese Unterhaltung zerstreut und aufgeheitert worden. Und wirklich war Mitternacht herbey gekommen man wuste nicht wie. Der Alte sah nach den Sternen und fing darauf zu reden an: Wir sind zur glücklichen Stunde beysammen, jeder verrichte sein Amt, jeder thue seine Pflicht und ein allgemeines Glück wird die einzelnen Schmerzen in sich auflösen, wie ein allgemeines Unglück einzelne Freuden verzehrt.

Nach diesen Worten entstand ein wunderbares Geräusch, denn alle gegenwärtige Personen sprachen für sich und druckten laut aus was sie zu thun hätten, nur die drey Mädchen waren stille, eingeschlafen war die eine neben der Harfe, die andere neben dem Sonnenschirm, die dritte neben dem Sessel, und man konnte es ihnen nicht verdenken denn es war spät, die flammenden Jünglinge hatten nach einigen vorübergehenden Höflichkeiten, die sie auch den Dienerinnen gewidmet, sich doch zuletzt nur an Lilien, als die allerschönste gehalten.

Fasse, sagte der Alte zum Habicht, den Spiegel und mit dem ersten Sonnenstrahl beleuchte die Schlaferinnen und wecke sie mit zurückgeworfenem Lichte aus der Höhe.

Die Schlange fing nunmehr an sich zu bewegen, lößte den Creiß auf und zog langsam in großen Ringen nach dem Flusse. Feyerlich folgten ihr die beyden Irrlichter, [10-139] und man hätte sie für die ernsthaftesten Flammen halten sollen. Die Alte und ihr Mann ergriffen den Korb, dessen sanftes Licht man bisher kaum bemerkt hatte, sie zogen von beyden Seiten daran, und er ward immer größer und leuchtender, sie hoben darauf den Leichnam des Jünglings hinein und legten ihm den Canarienvogel auf die Brust, der Korb hob sich in die Höhe und schwebte über dem Haupte der Alten und sie folgte den Irrlichtern auf dem Fuße. Die schöne Lilie nahm den Mops auf ihren Arm und folgte der Alten, der Mann mit der Lampe beschloß den Zug und die Gegend war von diesen vielerley Lichtern auf das sonderbarste erhellt.

Aber mit nicht geringer Bewunderung sah die Gesellschaft, als sie zu dem Flusse gelangte, einen herrlichen Bogen über denselben hinüber steigen, wodurch die wohlthätige Schlange ihnen einen glänzenden Weg bereitete. Hatte man bey Tage die durchsichtigen Edelsteine bewundert, woraus die Brücke zusammengesetzt schien, so erstaunte man bey Nacht über ihre leuchtende Herrlichkeit. Oberwärts schnitt sich der helle Creiß scharf an dem dunklen Himmel ab, aber unterwärts zuckten lebhafte Strahlen nach dem Mittelpunkte zu und zeigten die bewegliche Festigkeit des Gebäudes. Der Zug ging langsam hinüber und der Fährmann, der von ferne aus seiner Hütte hervorsahe, betrachtete mit Staunen den leuchtenden Creiß und die sonderbaren Lichter, die darüber hinzogen.

Kaum waren sie an dem andern Ufer angelangt, als der Bogen nach seiner Weiße zu schwanken und sich [10-140] wellenartig dem Wasser zu nähern anfing. Die Schlange bewegte sich bald darauf ans Land, der Korb setzte sich zur Erde nieder und die Schlange zog aufs neue ihren Creiß umher, der Alte neigte sich vor ihr und sprach: was hast du beschlossen?

Mich aufzuopfern, ehe ich aufgeopfert werde, versetzte die Schlange, versprich mir daß du keinen Stein am Lande lassen willst.

Der Alte versprachs und sagte darauf zur schönen Lilie: rühre die Schlange mit der linken Hand an und deinen Geliebten mit der rechten. Lilie kniete nieder und berührte die Schlange und den Leichnam. Im Augenblick schien dieser in das Leben überzugehn, er befügte sich im Korbe ja er richtete sich in die Höhe und saß, Lilie wollt ihn umarmen, allein der Alte hielt sie zurück, er half dagegen dem Jüngling aufstehn und leitete ihn, indem er aus dem Korbe und dem Creiße trat.

Der Jüngling stand, der Canarienvogel flatterte auf seiner Schulter, es war wieder Leben in beyden, aber der Geist war noch nicht zurücke gekehrt; der schöne Freund hatte die Augen offen und sah nicht, wenigstens schien er alles ohne Theilnehmung anzusehn und kaum hatte sich die Verwunderung über diese Begebenheit einigermassen gemäßigt als man erst bemerkte, wie sonderbar die Schlange sich verändert hatte. Ihr schöner schlanker Körper war in tausend und tausend leuchtende Edelsteine zerfallen, unvorsichtig hatte die Alte, die nach ihrem Korbe greifen wollte, an sie gestoßen und man sah nichts mehr von der Bildung der Schlange, nur ein schöner Creiß leuchtender Edelsteine lag im Grase.

[10-141] Der Alte machte sogleich Anstalt die Steine in den Korb zu fassen, wozu ihm seine Frau behülflich seyn muste. Beyde trugen darauf den Korb gegen das Ufer an einen erhabenen Ort und er schüttete die ganze Ladung nicht ohne Widerwillen der Schönen und seines Weibes, die gerne davon sich etwas ausgesucht hätten, in den Fluß. Wie leuchtende und blinkende Sterne schwammen die Steine mit den Wellen hin, und man konnte nicht unterscheiden ob sie sich in der Ferne verloren oder untersanken.

Meine Herrn sagte darauf der Alte ehrerbietig zu den Irrlichtern, nunmehr zeige ich ihnen den Weg und eröfne den Gang, aber sie leisten uns den grösten Dienst, wenn sie uns die Pforte des Heiligthums öfnen, durch die wir dießmal eingehen müssen und die außer ihnen niemand aufschließen kann.

Die Irrlichter neigten sich anständig und blieben zurück, der Alte mit der Lampe gieng voraus in den Felsen, der sich vor ihm aufthat, der Jüngling folgte ihm, gleichsam mechanisch, still und ungewiß hielt sich Lilie in einiger Entfernung hinter ihm, die Alte wollte nicht gerne zurückbleiben und streckte ihre Hand aus, damit ja das Licht von ihres Mannes Lampe sie erleuchten könne. Die Irrlichter schloßen den Zug, indem sie die Spitzen ihrer Flammen zusammen neigten und mit einander zusprechen schienen.

Sie waren nicht lange gegangen, als der Zug sich vor einem grossen ehernen Thore befand, dessen Flügel mit einem goldenen Schloß verschlossen waren. Der [10-142] Alte rief sogleich die Irrlichter herbey, die sich nicht lange aufmuntern ließen sondern geschäftig mit ihren spitzesten Flammen Schloß und Riegel aufzehrten.

Laut tönte das Erz als die Pforten schnell aufsprangen und im Heiligthum die würdigen Bilder der Könige, durch die hereintretenden Lichter beleuchtet, erschienen. Jeder neigte sich vor den ehrwürdigen Herrschern, besonders ließen es die Irrlichter an krausen Verbeugungen nicht fehlen.

Nach einiger Pause fragte der goldne König woher kommt ihr? – aus der Welt! antwortete der Alte. Wohin geht ihr? fragte der silberne König – in die Welt! sagte der Alte – Was wollt ihr bey uns? fragte der eherne König – euch begleiten, sagte der Alte.

Der gemischte König wollte eben zu reden anfangen als der goldne zu den Irrlichtern, die ihm zu nahe gekommen waren, sprach: hebet euch weg von mir, mein Gold ist nicht für euren Gaum. Sie wandten sich darauf zum silbernen und schmiegten sich an ihn, sein Gewand glänzte schön von ihrem gelblichen Wiederschein. Ihr seyd mir willkommen, sagte er, aber ich kann euch nicht ernähren, sättiget euch auswärts und bringt mir euer Licht. Sie entfernten sich und schlichen, bey dem ehernen vorbey, der sie nicht zu bemerken schien, auf den zusammengesetzten loß. Wer wird die Welt beherrschen? rief dieser mit stotternder Stimme. – Wer auf seinen Füßen steht, antwortete der Alte – Das bin ich! sagte der gemischte König – Es wird sich offenbahren, sagte der Alte, denn es ist an der Zeit. [10-143] Die schöne Lilie fiel dem Alten um den Hals und küßte ihn aufs herzlichste. Heiliger Vater! sagte sie, tausendmal dank ich dir, denn ich höre das ahnungsvolle Wort zum dritten mal. Sie hatte kaum ausgeredet, als sie sich noch fester an den Alten anhielt, denn der Boden fing unter ihnen an zu schwanken, die Alte und der Jüngling hielten sich auch an einander, nur die beweglichen Irrlichter merkten nichts.

Man konnte deutlich fühlen daß der ganze Tempel sich bewegte, wie ein Schiff das sich sanft aus dem Hafen entfernt, wenn die Anker gelichtet sind, die Tiefen der Erde schienen sich vor ihm aufzuthun als er hindurchzog. Er stieß nirgends an, kein Felsen stand ihm in den Weg.

Wenig Augenblicke schien ein feiner Regen durch die Oefnung der Kuppel hereinzurießeln, der Alte hielt die schöne Lilie fester und sagte zu ihr: Wir sind unter dem Fluße und bald am Ziel. Nicht lange darauf glaubten sie still zu stehn doch sie betrogen sich, der Tempel stieg aufwärts.

Nun entstand ein seltsames Getöße über ihrem Haupte. Bretter und Balken in ungestalter Verbindung, begannen sich zu der Oefnung der Kuppel krachend herein zu drängen. Lilie und die Alte sprangen zur Seite, der Mann mit der Lampe faßte den Jüngling und blieb stehen. Die kleine Hütte des Fährmanns, denn sie war es die der Tempel, im Aufsteigen, vom Boden abgesondert und in sich aufgenommen hatte, sank allmählich herunter und bedeckte den Jüngling und den Alten. [10-144] Die Weiber schrien laut, und der Tempel schütterte wie ein Schiff das unvermuthet ans Land stößt. Aengstlich irrten die Frauen in der Dämmerung um die Hütte, die Thüre war verschlossen und auf ihr Pochen hörte niemand; Sie pochten heftiger und wunderten sich nicht wenig als zuletzt das Holz zu klingen anfing. Durch die Krafft der verschlossenen Lampe war die Hütte von innen heraus zu Silber geworden. Nicht lange, so veränderte sie sogar ihre Gestalt; denn das edle Metall verließ die zufälligen Formen der Bretter, Pfosten und Balken und dehnte sich zu einem herrlichen Gehäuße von getriebener Arbeit aus. Nun stand ein herrlicher kleiner Tempel in der Mitte des Großen, oder wenn man will ein Altar des Tempels würdig.

Durch eine Treppe, die von innen heraufging trat nunmehr der edle Jüngling in die Höhe, der Mann mit der Lampe leuchtete ihm und ein anderer schien ihn zu unterstützen, der in einem weissen kurzen Gewand hervorkam und ein silbernes Ruder in der Hand hielt, man erkannte in ihm sogleich den Fährmann, den ehemaligen Bewohner der verwandelten Hütte.

Die schöne Lilie stieg die äußeren Treppen hinauf, die von dem Tempel auf den Altar führten, aber noch immer mußte sie sich von ihrem Geliebten entfernt halten. Die Alte, deren Hand, so lange die Lampe verborgen gewesen, immer kleiner geworden war, rief: soll ich doch noch unglücklich werden, ist bey so vielen Wundern durch kein Wunder meine Hand zu retten. Ihr Mann deutete ihr nach der offenen Pforte und sagte: siehe der Tag bricht an, eile und bade dich im Fluße. – [10-145] Welch ein Rath! rief sie, ich soll wohl ganz schwarz werden und ganz verschwinden, habe ich doch meine Schuld noch nicht bezahlet – Gehe, sagte der Alte, und folge mir! alle Schulden sind abgetragen.

Die Alte eilte weg, und in dem Augenblick erschien das Licht der aufgehenden Sonne an dem Cranze der Kuppel, der Alte trat zwischen den Jüngling und die Jungfrau und rief mit lauter Stimme: drey sind die da herrschen auf Erden: die Weisheit, der Schein und die Gewalt. Bey dem ersten Worte stand der goldne König auf, bey dem zweyten der silberne und bey dem dritten hatte sich der eherne langsam empor gehoben, als der zusammengesetzte König sich plötzlich ungeschickt niedersetzte.

Wer ihn sah’ konnte sich, ohngeachtet des feierlichen Augenblicks, kaum des Lachens enthalten, denn er saß nicht, er lag nicht, er lehnte sich nicht an, sondern er war unförmlich zusammengesunken.

Die Irrlichter, die sich bisher um ihn beschäfftigt hatten, traten zur Seite, sie schienen, obgleich blaß beym Morgenlichte, doch wieder gut genährt und wohl bey Flammen, sie hatten auf eine geschickte Weise die goldnen Adern des kolossalischen Bildes mit ihren spitzen Zungen bis aufs innerste herausgeleckt, die unregelmäßigen leeren Räume, die dadurch entstanden waren, erhielten sich eine Zeit lang offen und die Figur blieb in ihrer vorigen Gestalt. Als aber auch zuletzt die zartesten Aederchen aufgezehrt waren, brach auf einmal das Bild zusammen und leider grade an den Stellen die [10-146] ganz bleiben wenn der Mensch sich setzt, dagegen blieben die Gelenke, die sich hätten biegen sollen, steif. Wer nicht lachen konnte, muste seine Augen wegwenden, das Mittelding zwischen Form und Klumpen war widerwärtig anzusehn.

Der Mann mit der Lampe führte nunmehr den schönen aber immer noch starr vor sich hinblickenden Jüngling vom Altare herab, und grade auf den ehernen König los. Zu den Füßen des mächtigen Fürsten lag ein Schwerdt, in eherner Scheide. Der Jüngling gürtete sich – Das Schwerdt an der Linken, die Rechte frey! Rief der gewaltige König. Sie giengen darauf zum silbernen, der sein Scepter gegen den Jüngling neigte. Dieser ergriff es mit der linken Hand, und der König sagte mit gefälliger Stimme: Weide die Schafe. Als sie zum goldenen Könige kamen, drückte er mit väterlich segnender Gebährde dem Jüngling den Eichencranz aufs Haupt und sprach: erkenne das Höchste.

Der Alte hatte während dieses Umgangs den Jüngling genau bemerkt. Nach umgegürtetem Schwerdt hob sich seine Brust, seine Arme regten sich und seine Füße traten fester auf; indem er den Scepter in die Hand nahm, schien sich die Krafft zu mildern und durch einen unaussprechlichen Reitz noch mächtiger zu werden; als aber der Eichencranz seine Locken zierte, belebten sich seine Gesichtszüge, sein Auge glänzte von unaussprechlichem Geist und das erste Wort seines Mundes war Lilie.

Liebe Lilie! rief er, als er ihr die silbernen Treppen [10-147] hinauf entgegen eilte, denn sie hatte von der Zinne des Altars seiner Reise zugesehn, liebe Lilie! was kann der Mann, ausgestattet mit allem, sich köstlicheres wünschen als die Unschuld und die stille Neigung die mir dein Busen entgegen bringt? O! mein Freund, fuhr er fort, indem er sich zu dem Alten wendete und die drey heiligen Bildsäulen ansah. Herrlich und sicher ist das Reich unserer Väter, aber du hast die vierte Krafft vergessen, die noch früher, allgemeiner, gewisser die Welt beherrscht, die Krafft der Liebe. Mit diesen Worten fiel er dem schönen Mädchen um den Hals, sie hatte den Schleyer weggeworfen und ihre Wangen färbten sich mit der schönsten unvergänglichsten Röthe.

Hierauf sagte der Alte lächelnd: die Liebe herrscht nicht, aber sie bildet und das ist mehr.

Ueber dieser Feyerlichkeit, dem Glück, dem Entzücken hatte man nicht bemerkt, daß der Tag völlig angebrochen war, und nun fielen auf einmal durch die ofne Pforte ganz unerwartete Gegenstände der Gesellschaft in die Augen. Ein grosser mit Säulen umgebener Platz machte den Vorhof, an dessen Ende man eine lange und prächtige Brücke sah, die mit vielen Bogen über den Fluß hinüber reichte; sie war an beyden Seiten mit Säulengängen für die Wanderer bequem und prächtig eingerichtet, deren sich schon viele tausende eingefunden hatten, und emsig hin und wieder gingen. Der große Weg in der Mitte war von Heerden und Maulthieren, Reutern und Wagen belebt, die an beyden Seiten, ohne sich zu hindern, stromweise hin und her flossen, sie schienen sich alle über die Bequemlichkeit und Pracht zu verwundern, [10-148] und der neue König mit seiner Gemahlin war über die Bewegung und das Leben dieses großen Volks so entzückt, als ihre wechselseitige Liebe sie glücklich machte.

Gedenke der Schlange in Ehren, sagte der Mann mit der Lampe, du bist ihr das Leben, deine Völker sind ihr die Brücke schuldig, wodurch diese nachbarlichen Ufer erst zu Ländern belebt und verbunden werden. Jene schwimmenden und leuchtenden Edelsteine, die Reste ihres aufgeopferten Körpers, sind die Grundpfeiler dieser herrlichen Brücke, auf ihnen hat sie sich selbst erbaut und wird sich selbst erhalten.

Man wollte eben die Aufklärung dieses wunderbaren Geheimnisses von ihm verlangen, als vier schöne Mädchen zu der Pforte des Tempels herein traten. An der Harfe, dem Sonnenschirm und dem Feldstuhl erkannte man sogleich die Begleiterinnen Liliens, aber die vierte, schöner als die drey, war eine unbekannte, die scherzend schwesterlich mit ihnen durch den Tempel eilte und die silbernen Stufen hinanstieg.

Wirst du mir künftig mehr glauben liebes Weib, sagte der Mann mit der Lampe zu der Schönen, wohl dir und jedem Geschöpfe, das sich diesen Morgen im Flusse badet.

Die verjüngte und verschönerte Alte, von deren Bildung keine Spur mehr übrig war, umfaßte mit belebten jugendlichen Armen den Mann mit der Lampe, der ihre Liebkosungen mit Freundlichkeit aufnahm. Wenn ich dir zu alt bin, sagte er lächelnd, so darfst du heute [10-149] einen andern Gatten wählen, von heute an ist keine Ehe gültig, die nicht aufs neue geschlossen wird.

Weißt du denn nicht, versetzte sie, daß auch du jünger geworden bist – Es freut mich, wenn ich deinen jungen Augen als ein wackrer Jüngling erscheine, ich nehme deine Hand von neuem an, und mag gern mit dir in das folgende Jahrtausend hinüberleben.

Die Königin bewillkommte ihre neue Freundin und stieg mit ihr und ihren übrigen Gespielinnen in den Altar hinab, indeß der König in der Mitte der beyden Männer nach der Brücke hinsah’ und aufmerksam das Gewimmel des Volks betrachtete.

Aber nicht lange dauerte seine Zufriedenheit, denn er sahe einen Gegenstand, der ihm einen Augenblick Verdruß erregte. Der große Riese, der sich von seinem Morgenschlaf noch nicht erholt zu haben schien, taumelte über die Brücke her und verursachte daselbst große Unordnung. Er war, wie gewöhnlich, schlaftrunken aufgestanden und gedachte sich in der bekannten Bucht des Flusses zu baden, anstatt derselben fand er festes Land und tapte auf dem breiten Pflaster der Brücke hin. Ob er nun gleich zwischen Menschen und Vieh auf das ungeschickteste hineintrat, so war doch seine Gegenwart zwar von allen erstaunt, doch von niemand empfunden; als ihm aber die Sonne in die Augen schien und er die Hände aufhub sie auszuwischen, fuhr der Schatten seiner ungeheuren Fäuste hinter ihm, so kräftig und ungeschickt, unter der Menge hin und wieder, daß Menschen und Thiere in großen Massen zusammen stürzten, beschädigt [10-150] wurden, und Gefahr liefen in den Fluß geschleudert zu werden.

Der König, als er diese Unthat erblickte, fuhr mit einer unwillkührlichen Bewegung nach dem Schwerdte, doch besann er sich und blickte ruhig erst seinen Scepter, dann die Lampe und das Ruder seiner Gefährten an. Ich errathe deine Gedanken, sagte der Mann mit der Lampe, aber wir und unsere Kräfte sind gegen diesen Ohnmächtigen ohnmächtig. Sey ruhig, er schadet zum leztenmal, und glücklicherweise ist sein Schatten von uns abgekehrt.

Indessen war der Riese immer näher gekommen, hatte für Verwunderung über das, was er mit ofnen Augen sah, die Hände sinken lassen, that keinen Schaden mehr, und trat gaffend in den Vorhof herein.

Grade ging er auf die Thüre des Tempels zu, als er auf einmal in der Mitte des Hofes an dem Boden festgehalten wurde. Er stand als eine kolossalische mächtige Bildsäule, von röthlich glänzendem Steine, da, und sein Schatten zeigte die Stunden, die in einem Creiß auf den Boden um ihn her, nicht in Zahlen, sondern in edlen und bedeutenden Bildern, eingelegt waren.

Nicht wenig erfreut war der König, den Schatten des Ungeheuers in nützlicher Richtung zu sehen, nicht wenig verwundert war die Königin, die, als sie mit gröster Herrlichkeit geschmückt aus dem Altare, mit ihren Jungfrauen, herauf stieg, das seltsame Bild erblickte, das die Aussicht aus dem Tempel nach der Brücke fast zudeckte. [10-151] Indessen hatte sich das Volk dem Riesen nachgedrängt, da er stillstand, ihn umgeben und seine Verwandlung angestaunt, von da wandte sich die Menge nach dem Tempel, den sie erst jetzt gewahr zu werden schien und drängte sich nach der Thüre.

In diesem Augenblick schwebte der Habicht mit dem Spiegel hoch über dem Dom, fing das Licht der Sonne auf und warf es über die auf dem Altar stehende Gruppe. Der König, die Königin und ihre Begleiter erschienen in dem dämmernden Gewölbt des Tempels, von einem himmlischen Glanze erleuchtet und alles Volk fiel auf sein Angesicht. Als die Menge sich wieder erholt hatte und aufstand, war der König mit den Seinigen in den Altar hinabgestiegen, um durch verborgene Hallen nach seinem Pallaste zu gehen, und das Volk zerstreute sich in dem Tempel, seine Neugierde zu befriedigen. Es betrachtete die drey aufrecht stehenden Könige mit Staunen und Ehrfurcht, aber es war desto begieriger zu wissen, was unter dem Teppiche in der vierten Nische für ein Klumpen verborgen seyn möchte, denn, wer es auch mochte gewesen seyn, wohlmeinende Bescheidenheit hatte eine prächtige Decke über den zusammen gesunkenen König hingebreitet, die kein Auge zu durchdringen vermag und keine Hand wegzuheben wagen darf.

Das Volk hätte kein Ende seines Schauens und seiner Bewunderung gefunden, und die zudringende Menge hätte sich in dem Tempel selbst erdrückt, wäre ihre Aufmerksamkeit nicht wieder auf den großen Platz gelenkt werden.

Unvermuthet fielen Goldstücke, wie aus der Luft, [10-152] klingend auf die marmornen Platten, die nächsten Wanderer stürzten darüber her, um sich ihrer zu bemächtigen, einzeln wiederholte sich dieß Wunder, und zwar bald hier und bald da. Man begreift wohl, daß die abziehenden Irrlichter sich hier nochmals eine Lust machten und das Gold aus den Gliedern des zusammengesunkenen Königs auf eine lustige Weise vergeudeten. Begierig lief das Volk noch eine Zeitlang hin und wieder, drängte und zerriß sich, auch noch da keine Goldstücke mehr herabfielen. Endlich verlief es sich allmählig, zog seine Straße und bis auf den heutigen Tag wimmelt die Brücke von Wanderern, und der Tempel ist der besuchteste auf der ganzen Erde.