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als jemals, und anstatt seine Forderungen wie sonst zu befriedigen, fing sie an seine Vernunft, sein gutes Herz, seine Liebe zu ihr in Anspruch zu nehmen, und setzte ihn, indem sie ihn zwar überzeugte aber nicht veränderte, wirklich in Verzweiflung.

Er konnte ohne alles zu verlieren, was ihm so lieb als sein Leben war, die Verhältnisse nicht verändern, in denen er sich befand. Von der ersten Jugend an war er diesem Zustande entgegen gewachsen; er war mit allem, was ihn umgab, zusammen gewachsen; er konnte keine Faser seiner Verbindungen, Gesellschaften, Spatziergänge und Lustparthien zerreissen, ohne zugleich einen alten Schulfreund, einen Gespielen, eine neue ehrenvolle Bekanntschaft und, was das schlimmste war, seine Liebe zu verletzen.

Wie hoch und werth er seine Neigung hielt, begreift man leicht, wenn man erfahrt, daß sie zugleich seiner Sinnlichkeit, seinem Geiste, seiner Eitelkeit und seinen lebhaften Hoffnungen schmeichelte. Eins der schönsten, angenehmsten und reichsten Mädchen der Stadt gab ihm, wenigstens für den Augenblick, den Vorzug vor seinen vielen Mitwerbern. Sie erlaubte ihm mit dem Dienst, den er ihr widmete, gleichsam zu prahlen, und sie schienen wechselsweise auf die Ketten stolz zu seyn, die sie einander angelegt hatten. Nun war es ihm Pflicht, ihr überall zu folgen, Zeit und Geld in ihrem Dienste zu verwenden und auf jede Weise zu zeigen, wie werth ihm ihre Neigung und wie unentbehrlich ihm ihr Besitz sey.

Dieser Umgang und dieses Bestreben machte Ferdinanden

Empfohlene Zitierweise:
Johann Wolfgang von Goethe: Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten. In: Die Horen 1795, Band 1–4. Cotta, Tübingen 1795, Seite 7-57. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schiller_Die_Horen_3-1795.pdf/65&oldid=- (Version vom 1.8.2018)