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blendenden Schönheit verführen lassen, die unter dem Namen Freyheit sich erst heimlich, dann öffentlich so viele Anbeter zu verschaffen wußte, und, so übel sie auch die einen behandelte, von den andern mit grosser Lebhaftigkeit verehrt wurde.

Wie Liebende gewöhnlich von ihrer Leidenschaft verblendet werden, so erging es auch Vetter Karln. Sie wünschen den Besitz eines einzigen Gutes, und wähnen alles übrige dagegen entbehren zu können. Stand, Glücksgüter, alle Verhältnisse scheinen in Nichts zu verschwinden, indem das gewünschte Gut zu Einem zu Allem wird. Eltern, Verwandte und Freunde werden uns fremd indem wir uns etwas zueignen, das uns ganz ausfüllt und uns alles übrige fremd macht.

Vetter Karl überließ sich der Heftigkeit seiner Neigung und verhehlte sie nicht in Gesprächen. Er glaubte um so freyer sich diesen Gesinnungen ergeben zu können, als er selbst ein Edelmann war, und, obgleich der zweyte Sohn, dennoch ein ansehnliches Vermögen zu erwarten hatte. Eben diese Güter, die ihm künftig zufallen mußten, waren jetzt in Feindes Händen, der nicht zum besten darauf haußte, demohngeachtet konnte Karl einer Nation nicht feind werden, die der Welt so viele Vortheile versprach, und deren Gesinnungen er nach öffentlichen Reden und Aeusserungen einiger Mitglieder beurtheilte. Gewöhnlich störte er die Zufriedenheit der Gesellschaft, wenn sie ja derselben noch fähig war, durch ein unmässiges Lob alles dessen, was bey den Neufranken Gutes oder Böses geschah, durch ein lautes Vergnügen über ihre Fortschritte, wodurch er die Andern um desto

Empfohlene Zitierweise:
Johann Wolfgang von Goethe: Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten. In: Die Horen 1795, Band 1–4. Cotta, Tübingen 1795, Seite 1-52. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schiller_Die_Horen_1-1795.pdf/68&oldid=- (Version vom 1.8.2018)