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ihm so lebhaft abstritt, sagte sie zu sich selbst, und so war es also doch nöthig, in einem solchen Falle mir Vorsicht und Klugheit anzurathen. Doch was können Vorsicht und Klugheit, da wo der unbarmherzige Zufall nur mit einem unbestimmten Verlangen zu spielen scheint. Wie soll ich den wählen, den ich nicht kenne, und bleibt bey näherer Bekanntschaft noch eine Wahl übrig?

Mit solchen und hundert andern Gedanken vermehrte die schöne Frau das Uebel, das bey ihr schon weit genug um sich gegriffen hatte. Vergebens suchte sie sich zu zerstreuen, jeder angenehme Gegenstand machte ihre Empfindung rege, und ihre Empfindung brachte, auch in der tiefsten Einsamkeit, angenehme Bilder in ihrer Einbildungskraft hervor.

In solchem Zustande befand sie sich, als sie unter andern Stadtneuigkeiten von ihren Verwandten vernahm, es sey ein junger Rechtsgelehrter, der zu Bologna studiert habe, so eben in seine Vaterstadt zurückgekommen. Man wußte nicht genug zu seinem Lobe zu sagen. Bey außerordentlichen Kenntnissen zeigte er eine Klugheit und Gewandtheit die sonst Jünglingen nicht eigen ist, und bey einer sehr reitzenden Gestalt die größte Bescheidenheit. Als Procurator hatte er bald das Zutrauen der Bürger und die Achtung der Richter gewonnen. Täglich fand er sich auf dem Rathhause ein, um daselbst seine Geschäfte zu besorgen und zu betreiben.

Die Schöne hörte die Schilderung eines so vollkommenen Mannes nicht ohne Verlangen, ihn näher kennen zu lernen, und nicht ohne stillen Wunsch, in ihm denjenigen

Empfohlene Zitierweise:
Johann Wolfgang von Goethe: Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten. In: Die Horen 1795, Band 1–4. Cotta, Tübingen 1795, Seite 4-55. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schiller_Die_Horen_2-1795.pdf/63&oldid=- (Version vom 1.8.2018)