Seite:Schiller Die Horen 3-1795.pdf/256

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

Der Alte. Sie unterscheiden richtig, und da Sie sich für das Schicksal meines Freundes interessiren, so will ich Ihnen wie es ihm ergangen noch kürzlich erzählen.

Befreyt von der drückenden Last eines so häßlichen Vergehens, nicht ohne bescheidne Zufriedenheit mit sich selbst, dachte er nun an sein künftiges Glück und erwartete sehnsuchtsvoll die Rückkunft Ottiliens, um sich gegen sie zu erklären und um sein gegebenes Wort im ganzen Umfange zu erfüllen. Sie kam in Gesellschaft ihrer Eltern; er eilte zu ihr, er fand sie schöner und heiterer als jemals. Mit Ungedult erwartete er den Augenblick in welchem er sie allein sprechen und ihr seine Aussichten vorlegen konnte. Die Stunde kam und mit aller Freude und Zärtlichkeit der Liebe erzählte er ihr seine Hofnungen, die Nähe seines Glücks und den Wunsch, es mit ihr zu theilen. Allein wie verwundert war er, ja wie bestürzt, als sie die ganze Sache, sehr leichtsinnig, ja man dürfte beinahe sagen höhnisch aufnahm. Sie scherzte nicht ganz fein über die Einsiedeley, die er sich ausgesucht habe, über die Figur die sie beyde spielen würden, wenn sie sich als Schäfer und Schäferin unter ein Strohdach flüchteten und was dergleichen mehr war.

Betroffen und erbittert kehrte er in sich zurück; ihr Betragen hatte ihn verdrossen und er ward einen Augenblick kalt. Sie war ungerecht gegen ihn gewesen, und nun bemerkte er Fehler an ihr, die ihm sonst verborgen geblieben waren. Auch brauchte es kein sehr helles Auge, um zu sehen, daß ein so genannter Vetter, der mit angekommen war, ihre Aufmerksamkeit auf sich

Empfohlene Zitierweise:
Johann Wolfgang von Goethe: Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten. In: Die Horen 1795, Band 1–4. Cotta, Tübingen 1795, Seite 9-46. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schiller_Die_Horen_3-1795.pdf/256&oldid=- (Version vom 1.8.2018)