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Händedruck, ohne Kuß, mit einem kaum bedeutenden Blicke von ihr schied. Ein Glück für sie war die Beschäftigung, die ihr der seltsame Vorsatz gab, denn sie hatte manches zu thun, um ihre Lebensart völlig zu verändern. Zuerst wurden die schönen Blätter und Blumen hinausgekehrt, die sie zu seinem Empfang hatte streuen lassen, dann kam an die Stelle des wohlgepolsterten Ruhebettes ein hartes Lager, auf das sie sich, zum erstenmal in ihrem Leben nur von Wasser und Brod kaum gesättigt, des Abends niederlegte. Des andern Tages war sie beschäftigt Hemden zuzuschneiden und zu nähen, deren sie eine bestimmte Zahl für ein Armen- und Krankenhaus fertig zu machen versprochen hatte. Bey dieser neuen und unbequemen Beschäftigung, unterhielt sie ihre Einbildungskraft immer mit dem Bilde ihres süßen Freundes und mit der Hoffnung künftiger Glückseligkeit, und bey eben diesen Vorstellungen schien ihre schmale Kost ihr eine herzstärkende Nahrung zu gewähren.

So vergieng eine Woche, und schon am Ende derselben fingen die Rosen ihrer Wangen an einigermaßen zu verbleichen. Kleider, die ihr sonst wohl paßten, waren zu weit und ihre sonst so raschen und muntern Glieder matt und schwach geworden: als der Freund wieder erschien und ihr durch seinen Besuch neue Stärke und Leben gab. Er ermahnte sie in ihrem Vorsatze zu beharren, munterte sie durch sein Beyspiel auf, und ließ von weitem die Hoffnung eines ungestöhrten Genusses durchblicken. Nur kurze Zeit hielt er sich auf, und versprach bald wieder zu kommen.

Die wohlthätige Arbeit ging aufs neue muntrer fort,

Empfohlene Zitierweise:
Johann Wolfgang von Goethe: Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten. In: Die Horen 1795, Band 1–4. Cotta, Tübingen 1795, Seite 4-64. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schiller_Die_Horen_2-1795.pdf/72&oldid=- (Version vom 1.8.2018)