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Die schöne Lilie fiel dem Alten um den Hals und küßte ihn aufs herzlichste. Heiliger Vater! sagte sie, tausendmal dank ich dir, denn ich höre das ahnungsvolle Wort zum dritten mal. Sie hatte kaum ausgeredet, als sie sich noch fester an den Alten anhielt, denn der Boden fing unter ihnen an zu schwanken, die Alte und der Jüngling hielten sich auch an einander, nur die beweglichen Irrlichter merkten nichts.

Man konnte deutlich fühlen daß der ganze Tempel sich bewegte, wie ein Schiff das sich sanft aus dem Hafen entfernt, wenn die Anker gelichtet sind, die Tiefen der Erde schienen sich vor ihm aufzuthun als er hindurchzog. Er stieß nirgends an, kein Felsen stand ihm in den Weg.

Wenig Augenblicke schien ein feiner Regen durch die Oefnung der Kuppel hereinzurießeln, der Alte hielt die schöne Lilie fester und sagte zu ihr: Wir sind unter dem Fluße und bald am Ziel. Nicht lange darauf glaubten sie still zu stehn doch sie betrogen sich, der Tempel stieg aufwärts.

Nun entstand ein seltsames Getöße über ihrem Haupte. Bretter und Balken in ungestalter Verbindung, begannen sich zu der Oefnung der Kuppel krachend herein zu drängen. Lilie und die Alte sprangen zur Seite, der Mann mit der Lampe faßte den Jüngling und blieb stehen. Die kleine Hütte des Fährmanns, denn sie war es die der Tempel, im Aufsteigen, vom Boden abgesondert und in sich aufgenommen hatte, sank allmählich herunter und bedeckte den Jüngling und den Alten.

Empfohlene Zitierweise:
Johann Wolfgang von Goethe: Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten. In: Die Horen 1795, Band 1–4. Cotta, Tübingen 1795, Seite 10-143. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schiller_Die_Horen_4-1795.pdf/151&oldid=- (Version vom 1.8.2018)