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hätte sie abgehalten, ihn wieder aufzusuchen. Ich fürchte immer sie hat mit auf dem Tische gelegen.

Schweigt, sagte Luise: die Geschichte ist gar zu schrecklich! Was wird das für eine Nacht werden, wenn wir uns mit solchen Bildern zu Bette legen.

Es fällt mir noch eine Geschichte ein, sagte Karl, die artiger ist und die Bassompierre von einem seiner Vorfahren erzählt.

Eine schöne Frau, die den Anherrn ausserordentlich liebte, besuchte ihn alle Montage auf seinem Sommerhause, wo er die Nacht mit ihr zubrachte, indem er seine Frau glauben ließ, daß er diese Zeit zu einer Jagdparthie bestimmt habe.

Zwey Jahre hatten sie sich ununterbrochen auf diese Weise gesehen, als seine Frau einigen Verdacht schöpfte, sich eines Morgens nach dem Sommerhause schlich und ihren Gemahl mit der Schönen im tiefen Schlafe antraf. Sie hatte weder Muth noch Willen sie aufzuwecken, nahm aber ihren Schleyer vom Kopfe und deckte ihn über die Füße der Schlafenden.

Als das Frauenzimmer erwachte und den Schleyer erblickte, that sie einen hellen Schrey, brach in laute Klage aus und jammerte, daß sie ihren Geliebten nicht mehr wieder sehen, ja daß sie sich ihm auf hundert Meilen nicht nähern dürfe. Sie verließ ihn, nachdem sie ihm drey Geschenke, ein kleines Fruchtmaaß, einen Ring und einen Becher für seine drey rechtmäßigen Töchter verehrt und

Empfohlene Zitierweise:
Johann Wolfgang von Goethe: Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten. In: Die Horen 1795, Band 1–4. Cotta, Tübingen 1795, Seite 2-27. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schiller_Die_Horen_1-1795.pdf/143&oldid=- (Version vom 1.8.2018)