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und Günstling nicht leben kannst, sollst du dich nun verzehren und abhärmen, zu der Zeit, da dir das Glück einen Jüngling zeigt, völlig nach deinem Sinne, nach dem Sinne deines Gatten, einen Jüngling, mit dem du die Freuden der Liebe in einem undurchdringlichen Geheimniß genießen kannst. Thörigt, wer die Gelegenheit versäumt, thörigt, wer der gewaltsamen Liebe widerstehen will!

Mit solchen und vielen andern Gedanken suchte sich die schöne Frau in ihrem Vorsatze zu stärken, und nur kurze Zeit ward sie noch von Ungewißheit hin und her getrieben. Endlich aber wie es begegnet, daß eine Leidenschaft, welcher wir lange widerstehen, uns endlich auf einmal dahin reißt, und unser Gemüth dergestalt erhöht, daß wir auf Besorgniß und Furcht, Zurückhaltung und Schaam, Verhältnisse und Pflichten mit Verachtung als auf kleinliche Hindernisse zurücksehen; so faßte sie auf einmal den raschen Entschluß, ein junges Mädchen, das ihr diente, zu dem geliebten Manne zu schicken, und es koste nun was es wolle, zu seinem Besitze zu gelangen.

Das Mädchen eilte und fand ihn, als er eben mit vielen Freunden zu Tische saß, und richtete ihren Gruß, den ihre Frau sie gelehrt hatte, pünktlich aus. Der junge Procurator wunderte sich nicht über diese Botschaft; er hatte den Handelsmann in seiner Jugend gekannt, er wußte, daß er gegenwärtig abwesend war, und ob er gleich von seiner Heirath nur von weitem gehört hatte, vermuthete er doch, daß die zurückgelassene Frau, in der Abwesenheit ihres Mannes, wahrscheinlich in einer wichtigen Sache seines rechtlichen Beystandes bedürfe. Er antwortete deswegen dem Mädchen auf das Verbindlichste

Empfohlene Zitierweise:
Johann Wolfgang von Goethe: Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten. In: Die Horen 1795, Band 1–4. Cotta, Tübingen 1795, Seite 4-57. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schiller_Die_Horen_2-1795.pdf/65&oldid=- (Version vom 1.8.2018)