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wolle. Schon zehn Monate habt ich mein Gelübde auf das treulichste erfüllt und sie sind mir in Betrachtung der großen Wohlthat die ich erhalten, keinesweges lang geworden, da es mir nicht beschwerlich ward, manches gewohnte und bekannte Gute zu entbehren. Aber zu welcher Ewigkeit werden mir nun zwey Monate, die noch übrig sind, da mir erst nach Verlauf derselben ein Glück zu Theil werden kann, welches alle Begriffe übersteigt. Lassen Sie sich die Zeit nicht lang werden und entziehen Sie mir Ihre Gunst nicht, die Sie mir so freywillig zugedacht haben.

Die Schöne, mit dieser Erklärung nicht sonderlich zufrieden, faßte doch wieder bessern Muth, als der Freund nach einigem Nachdenken zu reden fortfuhr: Ich wage zwar kaum Ihnen einen Vorschlag zu thun und das Mittel anzuzeigen, wodurch ich früher von meinem Gelübde entbunden werden kann. Wenn ich jemand fände, der so streng und sicher wie ich das Gelübde zu halten übernähme, und die Hälfte der noch übrigen Zeit mit mir theilte; so würde ich um so geschwinder frey seyn, und nichts würde sich unsern Wünschen entgegenstellen. Sollten Sie nicht, meine süße Freundin, um unser Glück zu beschleunigen, willig seyn einen Theil des Hindernisses, das uns entgegensteht, hinweg zu räumen. Nur der zuverläßigsten Person kann ich einen Antheil an meinem Gelübde übertragen; es ist streng, denn ich darf des Tages nur zweymal Brod und Wasser geniessen, darf des Nachts nur wenige Stunden auf einem harten Lager zubringen und muß ohnerachtet meiner vielen Geschäfte eine große Anzahl Gebete verrichten. Kann ich, wie es mir heute geschehen ist, nicht vermeiden, bey einem Gastmal

Empfohlene Zitierweise:
Johann Wolfgang von Goethe: Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten. In: Die Horen 1795, Band 1–4. Cotta, Tübingen 1795, Seite 4-62. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schiller_Die_Horen_2-1795.pdf/70&oldid=- (Version vom 1.8.2018)