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gern auf das acht gegeben, was diesem oder jenem Menschen begegnet. Zur Uebersicht der grossen Geschichte fühl ich weder Kraft noch Muth, und die einzelnen Weltbegebenheiten verwirren mich; aber unter den vielen Privatgeschichten, wahren und falschen, mit denen man sich im Publiko trägt, die man sich insgeheim einander erzählt, giebt es manche die noch einen reineren, schönern Reiz haben, als den Reiz der Neuheit. Manche die durch eine geistreiche Wendung uns immer zu erheitern Anspruch machen, manche die uns die menschliche Natur und ihre innere Verborgenheiten auf einen Augenblick eröffnen, andere wieder, deren sonderbare Albernheiten uns ergötzen. Aus der grossen Menge, die im gemeinen Leben unsere Aufmerksamkeit und unsre Bosheit beschäftigen und die eben so gemein sind als die Menschen, denen sie begegnen oder die sie erzählen, habe ich diejenigen gesammelt, die mir nur irgend einen Charakter zu haben schienen, die meinen Verstand, die mein Gemüth berührten und beschäftigten und die mir, wenn ich wieder daran dachte, einen Augenblick reiner und ruhiger Heiterkeit gewährten.

Ich bin sehr neugierig, sagte die Baronesse, zu hören, von welcher Art Ihre Geschichten sind und was sie eigentlich behandeln.

Sie können leicht denken, versetzte der Alte: daß von Prozessen und Familienangelegenheiten nicht öfters die Rede seyn wird. Diese haben meistentheils nur ein Interesse für die welche damit geplagt sind.

Luise. Und was enthalten sie denn?

Empfohlene Zitierweise:
Johann Wolfgang von Goethe: Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten. In: Die Horen 1795, Band 1–4. Cotta, Tübingen 1795, Seite 1-74. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schiller_Die_Horen_1-1795.pdf/90&oldid=- (Version vom 1.8.2018)