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Wir hatten indessen über die Art des Schreyes und wo er herkommen möchte, unzählige Urtheile gefällt, und unsre Vermuthungen erschöpft. Was soll ich weitläuftig seyn? So oft sie zu Hause aß, ließ er sich um dieselbige Zeit vernehmen und zwar, wie man bemerken wollte, manchmal stärker, manchmal schwächer. Ganz Neapel sprach von diesem Vorfall. Alle Leute des Hauses, alle Freunde und Bekannte nahmen den lebhaftesten Theil daran, ja die Polizey ward aufgerufen. Man stellte Spione und Beobachter aus. Denen auf der Gasse schien der Klang aus der freyen Luft zu entspringen, und in dem Zimmer hörte man ihn auf das deutlichste. So oft sie auswärts aß, vernahm man nichts; so oft sie zu Hause war, ließ sich der Ton hören.

Aber auch außer dem Hause blieb sie nicht ganz von diesem bösen Begleiter verschont. Ihre Anmuth hatte ihr den Zutritt in die ersten Häuser geöffnet. Sie war als eine gute Gesellschafterin überall willkommen und sie hatte sich, um dem bösen Gaste zu entgehen, angewöhnt, die Abende außer dem Hause zu seyn.

Ein Mann, durch sein Alter und seine Stelle ehrwürdig, führte sie eines Abends in seinem Wagen nach Hause. Als sie vor ihrer Thüre von ihm Abschied nimmt, entsteht der Klang zwischen ihnen beyden, und man hebt diesen Mann, der so gut wie tausend andere die Geschichte wußte, mehr todt als lebendig in seinen Wagen.

Ein andermal fährt ein junger Tenor, den sie wohl leiden konnte, mit ihr Abends durch die Stadt eine Freundin zu besuchen. Er hatte von diesem seltsamen Phänomenon

Empfohlene Zitierweise:
Johann Wolfgang von Goethe: Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten. In: Die Horen 1795, Band 1–4. Cotta, Tübingen 1795, Seite 2-10. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schiller_Die_Horen_1-1795.pdf/126&oldid=- (Version vom 1.8.2018)