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gäben uns noch einige Beyspiele, und verglichen sich gelegentlich mit Luisen über die Theorie. Gewiß, ein Gemüth, das Neigung zum Guten hat, muß uns, wenn wir es gewahr werden, schon höchlich erfreuen; aber schöneres ist nichts in der Welt als Neigung durch Vernunft und Gewissen geleitet. Haben Sie noch eine Geschichte dieser Art, so wünschen wir sie zu hören. Ich liebe mir sehr Parallelgeschichten. Eine deutet auf die andere hin und erklärt ihren Sinn besser als viele trockne Worte.

Der Alte. Ich kann wohl noch einige, die hieher gehören, vorbringen, denn ich habe auf diese Eigenschaften des menschlichen Geistes besonders acht gegeben.

Luise. Nur eins möchte ich mir ausbitten. Ich läugne nicht, daß ich die Geschichten nicht liebe, die unsre Einbildungskraft immer in fremde Länder nöthigen. Muß denn alles in Italien und Sicilien geschehen? Sind denn Neapel, Palermo und Smyrna die einzigen Orte, wo etwas Interessantes vorgehen kann? Mag man doch den Schauplatz der Feenmährchen nach Samarcand und Ormus versetzen, um unsre Einbildungskraft zu verwirren. Wenn Sie aber unsern Geist, unser Herz bilden wollen, so geben Sie uns einheimische, geben Sie uns Familiengemälde, und wir werden uns desto eher darin erkennen, und wenn wir uns getroffen fühlen, desto gerührter an unser Herz schlagen.

Der Alte. Auch darin soll Ihnen willfahrt werden. Doch ist es mit den Familiengemälden eine eigene Sache. Sie sehen einander alle so gleich, und wir haben

Empfohlene Zitierweise:
Johann Wolfgang von Goethe: Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten. In: Die Horen 1795, Band 1–4. Cotta, Tübingen 1795, Seite 7-53. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schiller_Die_Horen_3-1795.pdf/61&oldid=- (Version vom 1.8.2018)