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sie mit Vergnügen täglich das Angedenken ihres Gemahls erneuerte.

So sehr sie aber auch sich stille hielt und eingezogen lebte, waren doch die jungen Leute der Stadt nicht unthätig geblieben. Sie versäumten nicht, häufig vor ihrem Fenster vorbey zu gehen, und suchten des Abends durch Musik und Gesänge ihre Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Die schöne Einsame fand Anfangs diese Bemühungen unbequem und lästig, doch gewöhnte sie sich bald daran, und ließ an den langen Abenden, ohne sich zu bekümmern woher sie kämen, die Serenaden als eine angenehme Unterhaltung sich gefallen, und konnte dabey manchen Seufzer, der ihrem Abwesenden galt, nicht zurückhalten.

Anstatt daß ihre unbekannten Verehrer, wie sie hoffte, nach und nach müde geworden wären, schienen sich ihre Bemühungen noch zu vermehren und zu einer beständigen Dauer anzulassen. Sie konnte nun die wiederkehrenden Instrumente und Stimmen, die wiederholten Melodien schon unterscheiden, und bald sich die Neugierde nicht mehr versagen, zu wissen, wer die Unbekannten, und besonders wer die Beharrlichen seyn möchten? Sie durfte sich zum Zeitvertreib eine solche Theilnahme wohl erlauben.

Sie fing daher an, von Zeit zu Zeit durch ihre Vorhänge und Halbläden nach der Straße zu sehen, auf die Vorbeygehenden zu merken, und besonders die Männer zu unterscheiden, die ihre Fenster am längsten im Auge behielten. Es waren meist schöne wohlgekleidete junge Leute, die aber freylich in Gebärden sowohl als in ihrem ganzen Aeußern eben soviel Leichtsinn als Eitelkeit sehen

Empfohlene Zitierweise:
Johann Wolfgang von Goethe: Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten. In: Die Horen 1795, Band 1–4. Cotta, Tübingen 1795, Seite 4-53. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schiller_Die_Horen_2-1795.pdf/61&oldid=- (Version vom 1.8.2018)