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seinen ganzen Charakter ins Licht setzt, und in seinem Leben eine entschiedene Epoke machte.

Er hatte von Jugend auf eine reichliche Lebensart genossen, denn seine Eltern waren wohlhabend, lebten und erzogen ihre Kinder wie es solchen Leuten geziemt, und wenn der Vater in Gesellschaften, beym Spiel und durch zierliche Kleidung mehr als billig war ausgab, so wußte die Mutter als eine gute Haushälterin dem gewöhnlichen Aufwande solche Grenzen zu setzen, daß im Ganzen ein Gleichgewicht blieb und niemal ein Mangel zum Vorschein kommen konnte. Dabey war der Vater als Handelsmann glücklich; es geriethen ihm manche Speculationen, die er sehr kühn unternommen hatte, und weil er gern mit Menschen lebte, hatte er sich in Geschäften auch vieler Verbindungen und mancher Beyhülfe zu erfreuen.

Die Kinder, als strebende Naturen, wählen sich gewöhnlich im Hause das Beyspiel dessen, der am meisten zu leben und zu geniessen scheint. Sie sehen in einem Vater, der sichs wohl seyn läßt, die entschiedene Regel, wornach sie ihre Lebensart einzurichten haben, und weil sie schon früh zu dieser Einsicht gelangen, so schreiten meistentheils ihre Begierden und Wünsche in großer Disproportion der Kräfte ihres Hauses fort. Sie finden sich bald überall gehindert, um so mehr als jede neue Generation neue und frühere Anforderungen macht, und die Eltern den Kindern dagegen meistens nur gewähren möchten, was sie selbst in früherer Zeit genossen, da noch jedermann mäßiger und einfacher zu leben sich bequemte.

Empfohlene Zitierweise:
Johann Wolfgang von Goethe: Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten. In: Die Horen 1795, Band 1–4. Cotta, Tübingen 1795, Seite 7-55. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schiller_Die_Horen_3-1795.pdf/63&oldid=- (Version vom 15.4.2021)