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nicht zum besten bestellt war, ließ sie eine ansehnliche Summe zurück, die hinreichend war ihn auf einige Zeit zu beruhigen.

Durch die Anmaßung ihre Freyheit einzuschränken hatte der Freund schon viel in ihren Augen verloren, und wie ihre Neigung zu ihm abnahm, hatte ihre Aufmerksamkeit auf ihn zugenommen, und die Entdeckung, daß er in seinen eigenen Angelegenheiten so unklug gehandelt habe, gab ihr nicht die günstigsten Begriffe von seinem Verstande und seinem Charakter. Indessen bemerkte er die große Veränderung nicht, die in ihr vorgegangen war, vielmehr schien ihre Sorgfalt für seine Genesung, die Treue, womit sie halbe Tage lang an seinem Lager aushielt, mehr ein Zeichen ihrer Freundschaft und Liebe als ihres Mitleids zu seyn und er hofte nach seiner Genesung in alle Rechte wieder eingesetzt zu werden.

Wie sehr irr’te er sich! In der Maße wie seine Gesundheit wieder kam und seine Kräfte sich erneuerten, verschwand bey ihr jede Art von Neigung und Zutrauen, ja er schien ihr so lästig, als er ihr sonst angenehm gewesen war. Auch war seine Laune, ohne daß er es selbst bemerkte, während dieser Begebenheiten höchst bitter und verdrießlich geworden; alle Schuld, die er an seinem Schicksal haben konnte, warf er auf andere und wußte sich in allem völlig zu rechtfertigen. Er sah in sich nur einen unschuldig verfolgten, gekränkten, betrübten Mann und hoffte völlige Entschädigung alles Uebels und aller Leiden von einer vollkommenen Ergebenheit seiner Geliebten.

Mit diesen Anforderungen trat er gleich in den ersten

Empfohlene Zitierweise:
Johann Wolfgang von Goethe: Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten. In: Die Horen 1795, Band 1–4. Cotta, Tübingen 1795, Seite 2-7. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schiller_Die_Horen_1-1795.pdf/123&oldid=- (Version vom 1.8.2018)