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ausgebreitet, sein Geist wie sein Körper vollkommen ausgebildet; sein Betragen konnte für ein Muster gelten, wie einer, der sich keinen Augenblick vergißt, sich doch immer in andern zu vergessen scheint. Der Handelsgeist seiner Geburtsstadt ruhete auf ihm; er sah das, was zu thun war, im Großen an. Doch war seine Lage nicht die glücklichste; sein Haus hatte sich in einige höchst gefährliche Spekulationen eingelassen, und war in gefährliche Prozesse verwickelt. Die Angelegenheiten verwirrten sich mit der Zeit noch mehr, und die Sorge, die er darüber empfand, gab ihm einen äußern Anstrich von Traurigkeit, der ihm sehr wohl anstand, und der unserm jungen Frauenzimmer noch mehr Muth machte, seine Freundschaft zu suchen, weil sie zu fühlen glaubte, daß er selbst einer Freundin bedürfe.

Er hatte sie nur bisher an öffentlichen Orten und bey Gelegenheit gesehen, sie vergönnte ihm nunmehr auf seine erste Anfrage den Zutritt in ihrem Hause, ja sie lud ihn recht dringend ein und er verfehlte nicht zu kommen.

Sie versäumte keine Zeit, ihm ihr Zutrauen und ihren Wunsch zu entdecken. Er war verwundert und erfreut über ihren Antrag. Sie bat ihn inständig ihr Freund zu bleiben, und keine Anforderungen eines Liebhabers zu machen. Sie eröffnete ihm eine Verlegenheit, in der sie sich eben befand, und worüber er bey seinen mancherley Verhältnissen den besten Rath geben, und die schleunigste Einleitung zu ihrem Vortheil machen konnte. Er vertraute ihr dagegen seine Lage, und indem sie ihn zu erheitern und zu trösten wußte, indem sich in ihrer Gegenwart

Empfohlene Zitierweise:
Johann Wolfgang von Goethe: Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten. In: Die Horen 1795, Band 1–4. Cotta, Tübingen 1795, Seite 2-4. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schiller_Die_Horen_1-1795.pdf/120&oldid=- (Version vom 1.8.2018)