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fast alle Verhätnisse derselben schon gut bearbeitet auf unsern Theatern gesehen. Indessen will ichs wagen und eine Geschichte erzählen, von der Ihnen schon etwas ähnliches bekannt ist, und die nur durch eine genaue Darstellung dessen was in den Gemüthern vorging, neu und interessant werden dürfte.

Man kann in Familien oft die Bemerkung machen, daß Kinder, sowohl der Gestalt als dem Geiste nach, bald vom Vater bald von der Mutter Eigenschaften zu haben scheinen, und so kommt auch manchmal der Fall vor, daß ein Kind die Naturen beyder Eltern auf eine besondere und verwundenrswürdige Weise verbindet.

Hievon war ein junger Mensch, den ich Ferdinand nennen will, ein auffallender Beweis. Seine Bildung erinnerte an beyde Eltern, und ihre Gemüthsart konnte man in der seinigen genau unterscheiden. Er hatte den leichten und frohen Sinn des Vaters, so auch den Trieb den Augenblick zu genießen und eine gewisse leidenschaftliche Art bey manchen Gelegenheiten nur sich selbst in Anschlag zu bringen. Von der Mutter aber hatte er, so schien es, ruhige Ueberlegung, ein Gefühl von Recht und Billigkeit und eine Anlage zur Kraft sich für andere aufzuopfern, und man sieht hieraus leicht, daß diejenigen, die mit ihm umgingen, oft, um seine Handlungen zu erklären, zu der Hypothese ihre Zuflucht nehmen mußten, daß der junge Mann wohl zwey Seelen haben möchte.

Ich übergehe mancherley Scenen, die in seiner Jugend vorfielen, und erzähle nur eine Begebenheit, die

Empfohlene Zitierweise:
Johann Wolfgang von Goethe: Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten. In: Die Horen 1795, Band 1–4. Cotta, Tübingen 1795, Seite 7-54. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schiller_Die_Horen_3-1795.pdf/62&oldid=- (Version vom 1.8.2018)