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Das Unglück war geschehen! Die süsse Lilie stand unbeweglich, und blickte starr nach dem entseelten Leichnam. Das Herz schien ihr im Busen zu stocken und ihre Augen waren ohne Thränen. Vergebens suchte der Mops ihr eine freundliche Bewegung abzugewinnen, die ganze Welt war mit ihrem Freunde ausgestorben. Ihre stumme Verzweiflung sah sich nach Hülfe nicht um, denn sie kannte keine Hülfe.

Dagegen regte sich die Schlange desto emsiger, sie schien auf Rettung zu sinnen und wirklich dienten ihre sonderbaren Bewegungen wenigstens die nächsten schrecklichen Folgen des Unglücks auf einige Zeit zu hindern. Sie zog mit ihrem geschmeidigen Körper einen weiten Creiß um den Leichnam, faßte das Ende ihres Schwanzes mit den Zähnen und blieb ruhig liegen.

Nicht lange, so trat eine der schönen Dienerinnen Liliens hervor, brachte den elfenbeinernem Feldstuhl, und nöthigte, mit freundlichem Gebärden, die Schöne sich zu setzen, bald darauf kam die Zweyte, die einen feuerfarbenen Schleyer trug und das Haupt ihrer Gebieterinn damit mehr zierte als bedeckte, die Dritte übergab ihr die Harfe und kaum hatte sie das prächtige Instrument an sich gedruckt, und einige Töne aus den Saiten hervorgelockt, als die erste mit einem hellen runden Spiegel zurück kam, sich der Schönen gegen über stellte, ihre Blicke auffing und ihr das angenehmste Bild das in der Natur zu finden war darstellte. Der Schmerz erhöhte ihre Schönheit, der Schleyer ihre Reitze, die Harfe ihre Anmuth, und so sehr man hoffte ihre traurige Lage verändert zu sehen; so sehr wünschte man ihr Bild ewig wie es gegenwärtig erschien fest zu halten.

Empfohlene Zitierweise:
Johann Wolfgang von Goethe: Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten. In: Die Horen 1795, Band 1–4. Cotta, Tübingen 1795, Seite 10-134. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schiller_Die_Horen_4-1795.pdf/142&oldid=- (Version vom 1.8.2018)