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schien eben so ungedultig als Lilie die Rückkunft der beyden zu erwarten. Leider vergoldete schon der Strahl der sinkenden Sonne nur den höchsten Gipfel her Bäume des Dickichts und lange Schatten zogen sich über See und Wiese, die Schlange bewegte sich ungedultig und Lilie zerfloß in Thränen.

In dieser Noth sah die Schlange sich überall um, denn sie fürchtete jeden Augenblick die Sonne werde untergehen, die Fäulniß den magischen Creiß durchdringen und den schönen Jüngling unaufhaltsam anfallen. Endlich erblickte sie hoch in den Lüften, mit purpurrothen Federn, den Habicht, dessen Brust die letztern Strahlen der Sonne auffing. Sie schüttelte sich für Freuden über das gute Zeichen und sie betrog sich nicht, denn kurz darauf sah man den Mann mit der Lampe über den See hergleiten, gleich als wenn er auf Schrittschuhen ginge.

Die Schlange veränderte nicht ihre Stelle, aber die Lilie stand auf und rief ihm zu: welcher gute Geist sendet dich in dem Augenblick, da wir so sehr nach dir verlangen und deiner so sehr bedürfen.

Der Geist meiner Lampe, versetzte der Alte, treibt mich und der Habicht führt mich hierher. Sie spratzelt wenn man meiner bedarf, und ich sehe mich nur in den Lüften nach einem Zeichen um, irgend ein Vogel oder Meteor zeigt mir die Himmelsgegend an, wohin ich mich wenden soll. Sey ruhig, schönstes Mädchen, ob ich helfen kann weiß ich nicht, ein einzelner hilft nicht, sondern wer sich mit vielen zur rechten Stunde vereinigt. Aufschieben wollen wir und hoffen. Halte deinen Creiß

Empfohlene Zitierweise:
Johann Wolfgang von Goethe: Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten. In: Die Horen 1795, Band 1–4. Cotta, Tübingen 1795, Seite 10-136. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schiller_Die_Horen_4-1795.pdf/144&oldid=- (Version vom 1.8.2018)