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Mit dieser Heftigkeit verschied er und nur zu sehr mußten wir erfahren, daß man auch jenseit des Grabes Wort halten könne.

Die Gesellschaft fing aufs neue an über die Geschichte zu meynen und zu urtheilen. Zuletzt sagte der Bruder Fritz: ich habe einen Verdacht, den ich aber nicht eher äussern will, als bis ich nochmals alle Umstände in mein Gedächtniß zurück gerufen und meine Combinationen besser geprüft habe.

Als man lebhafter in ihn drang, suchte er einer Antwort dadurch auszuweichen, daß er sich erbot, gleichfalls eine Geschichte zu erzählen, die zwar der vorigen an Interesse nicht gleiche, aber doch auch von der Art sey, daß man sie niemals mit völliger Gewißheit habe erklären können.

Bey einem wackern Edelmann, meinem Freunde, der ein altes Schloß mit einer starken Familie bewohnte, war eine Waise erzogen worden, die, als sie herangewachsen und vierzehn Jahr alt war, meist um die Dame vom Hause sich beschäftigte und die nächsten Dienste ihrer Person verrichtete. Man war mit ihr wohl zufrieden und sie schien nichts weiter zu wünschen, als durch Aufmerksamkeit und Treue ihren Wohlthätern dankbar zu seyn. Sie war wohlgebildet und es fanden sich einige Freyer um sie ein. Man glaubte nicht, daß eine dieser Verbindungen zu ihrem Glück gereichen würde, und sie zeigte auch nicht das mindeste Verlangen ihren Zustand zu ändern.

Auf einmal begab sich’s, daß man, wenn das Mädchen in dem Hause Geschäfts halber herumging, unter ihr,

Empfohlene Zitierweise:
Johann Wolfgang von Goethe: Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten. In: Die Horen 1795, Band 1–4. Cotta, Tübingen 1795, Seite 2-16. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schiller_Die_Horen_1-1795.pdf/132&oldid=- (Version vom 1.8.2018)