ADB:Melanchthon, Philipp
Luther’s Reformation 1518–1546; 3. die spätere Wittenberger Zeit oder die Zeit seines letzten Streitens und Leidens 1546–1560.
Melanchthon: Philipp M., der Humanist und Theolog, Reformator und praeceptor Germaniae, ist geboren den 16. Februar 1497 zu Bretten in der Pfalz (jetzigem Großherzogthum Baden), † den 19. April 1560 zu Wittenberg. – Sein Leben theilt sich in drei Perioden: 1. seine Kindheits- und Bildungsgeschichte 1497–1518; 2. die erste Wittenberger Zeit oder die Zeit seiner Mitarbeit an1. M. verlebte eine glückliche Kindheit im elterlichen und großelterlichen Hause. Sein Vater war Georg Schwarzerd (nicht Schwarzert oder Schwarzer, wie neuerdings ohne Grund ist vermuthet worden, s. D. Fr. Strauß, Kleine Schriften 1862, S. 408) aus Heidelberg, Schlosser, Waffenschmied und Rüstmeister des Kurfürsten Philipp von der Pfalz, der später in Bretten sich niedergelassen und mit Barbara, einer Tochter des dortigen Kaufmanns und Bürgermeisters Johann Reuter, sich verheirathet hatte (s. Förstemann, Die Schwarzerde, Zusammenstellung der Nachrichten über Melanchthon’s Geschlecht, in theologischen Studien und Kritiken 1830. S. 119 ff. und Schmidt, Melanchthon S. 1 ff.) Der Vater wird geschildert als ein rechtschaffener und geschickter, dabei menschenfreundlicher und friedlicher Mann, die Mutter als fromme und kluge, sparsame und wohlthätige Hausfrau, beide mit ihren fünf Kindern in glücklichen Verhältnissen lebend. Seine erste Bildung erhielt der zarte und stille, sinnige und talentvolle Knabe in der Stadtschule zu Bretten, dann im Hause seines Großvaters durch einen Privatlehrer Johann Unger aus Pforzheim, einen tüchtigen Grammatikus, der durch väterliche Liebe seinen Schüler an sich zu fesseln und ihm eine solide philologische Vorbildung zu geben wußte. Nachdem er im Herbst 1507 seinen Vater und Großvater schnell nacheinander verloren, kam er mit seinem Bruder Georg nach Pforzheim in das Haus seiner Großmutter Elisabeth, einer Schwester des Humanisten Johann Reuchlin, und die dortige lateinische Schule, die damals unter der Leitung des Humanisten Georg Simler aus Wimpfen, nachmaligen Professors in Tübingen, stand. Von ihm wurde er in die lateinischen Dichter nicht nur, sondern auch bereits in die Elemente der griechischen Sprache und der purior philosophia (d. h. des Aristoteles) eingeführt. Auch mit seinem Großoheim Reuchlin kam er damals in nähere Beziehungen, [269] da dieser von seinem damaligen Wohnsitz Stuttgart aus manchmal in seine Heimath Pforzheim herüberkam, an dem aufgeweckten Knaben Gefallen fand und ihn zu eifrigem Studium anfeuerte. Er war es auch, der seinen deutschen Familiennamen in den griechischen Gelehrtennamen Melanchthon umwandelte (so schrieb er sich stehend bis 1531, von da an der leichteren Aussprache wegen Melanthon). Auf Reuchlin’s und Simler’s Rath bezog M. im October 1509, noch nicht 13 Jahre alt, die Universität Heidelberg, wo er den 13. October als Philippus Schwarzerd de Bretten immatriculiert wurde, im Haus des Professors Pallas Spangel freundliche Aufnahme fand, im Uebrigen aber mehr auf das Privatstudium angewiesen war, weil ihm der öffentliche Unterricht wenig Befriedigung bot. Im 15. Lebensjahre den 11. Juni 1511 wurde er Baccalaureus artium, ertheilte zwei Söhnen des Grafen von Löwenstein Privatunterricht und wagte es bereits 1512 um die Magisterwürde sich zu bewerben. Wegen zu großer Jugend abgewiesen, siedelte er zugleich aus Gesundheitsrücksichten, weil ihm das Heidelberger Klima nicht zusagte, nach Tübingen über, wo er den 17. September 1512 immatriculiert wurde. Hier, wo neben den Vertretern der alten scholastischen Methode doch auch bereits in Männern wie Heinrich Bebel († 1516) und seinen Schülern Brassican, Heinrichmann etc., in Georg Simler und Franz Stadian ein freierer humanistischer Geist sich regte und in dem Bund der Sodales Neccarani Pflege fand, betrieb M. mit großem Eifer philologische und philosophische Studien und suchte zugleich auf formal humanistischer Grundlage ein möglichst universales Wissen sich zu erwerben. Am 25. Januar 1514 wurde er magister artium und Conventor in der bursa, wandte sich theologischen Studien zu und gewann durch die Lectüre des neuen Testaments in der 1516 erschienenen Erasmischen Ausgabe des griechischen Originals sowie durch patristische Studien eine Einsicht in den Unterschied des biblischen Christenthums von der herrschenden scholastischen Lehrweise; daneben las er über Terenz, Cicero, griechische Grammatik (die er 1518 erstmals zu Hagenau herausgab unter dem Titel „Institutiones Grammaticae Graecae“; bis 1622 erschienen davon 44 Neudrucke, s. C. R. XX, 15 ff.), gab den Terenz heraus, beschäftigte sich mit dem Plane einer Ausgabe des Aristoteles, trieb daneben mathematische und astronomische (bei Stöffler), historische, juristische und sogar medicinische Studien, gab die Chronik Naukler’s heraus und galt in der Zeit des Kampfes zwischen den Reuchlinisten und den viri obscuri bereits als einer der tüchtigsten und rührigsten Vertreter der neuen Richtung (wenn auch der ihm vielfach zugeschriebene Beitrag zu dem zweiten Buch der Epistolae obscur. virorum nicht von ihm herrühren sollte, vgl. Böcking, Hutteni Opp. Suppl. II, 2, 667). Vgl. über diese ganze Zeit seines Tübinger Aufenthalts Heyd, Melanchthon und Tübingen, 1839; Schmidt S. 10 ff.
2. Auf seines Großoheims Johann Reuchlin’s warme Empfehlung 1518 von Kurfürst Friedrich dem Weisen als Lehrer der griechischen Sprache und Litteratur nach Wittenberg berufen, beginnt M. seine dortige Wirksamkeit am 29. August 1518 mit seiner in der Geschichte des deutschen Unterrichtswesens epochemachenden, insbesondere auch von Luther beifällig aufgenommenen Rede „De corrigendis adolescentium studiis“, die das Programm seines akademischen Wirkens enthält: Studienreform durch Rückgang auf die ächten Quellen und insbesondere Empfehlung des Sprachstudiums als des Schlüssels zum Verständniß des Christenthums: „Christum sapere incipiemus, cum animos ad fontes contulerimus“ (C. R. XI, 15 ff.; Schmidt S. 30; Paulsen 73). Neben seinen Vorlesungen über Homer und neutestamentliche Briefe etc. nimmt er seine litterarische Thätigkeit wieder auf: trotz seiner zarten Gesundheit entfaltet er eine solche Arbeitskraft und trotz seiner Jugend und unscheinbaren Gestalt übt er eine solche Anziehungskraft, daß Alles voll ist von seiner Bewunderung und daß die [270] Studentenzahl in Wittenberg rasch von einigen Hunderten auf mehrer Tausende stieg. Philippus auditorium habet refertum auditoribus, schreibt Luther schon am 2. September an Spalatin, und in einem Briefe an Reuchlin vom 14. December nennt er ihn einen homo admirabilis, imo paene nihil habens quod nou supra hominem sit, familiarissimus tamen et amicissimus mihi. Dieses freundschaftliche, bei aller Verschiedenheit der Individualitäten auf gegenseitiger Achtung gegründete Verhältniß zu Luther gestaltet sich noch inniger und fester seit der Leipziger Disputation (Juni-Juli 1519). M. hatte dieser, wie er selbst sagt, zwar nur als „müssiger Zuschauer“ angewohnt, wenn auch nicht ohne hilfreiche Theilnahme am Gang der Verhandlungen. Ein brieflicher Bericht aber, den er über den Verlauf des Gesprächs an den ihm befreundeten Oekolampadius in Basel erstattet hatte (C. R. I, 108), gab dem streitsüchtigen Dr. Eck in Ingolstadt Anlaß zu einem hochmüthigem Ausfall auf den jungen Wittenberger Humanisten, worin er behauptet, dieser als bloßer Grammaticus verstehe Nichts von theologischen Fragen (Excusatio Eckii ad ea, quae falso sibi M. grammaticus Witteb. super theol. disputatione Lips. adscripsit 25. Juli). M. antwortet in einer würdig gehaltenen „Defensio contra Eckium“, worin er die Grundsätze gesunder protestantischer Schriftauslegung entwickelt (August 1519 s. C. R. I, 113). Immer eifriger beschäftigen ihn jetzt theologische, besonders biblische Studien: er erklärt den Römerbrief, gibt Luther’s Commentar zum Galaterbrief heraus, schreibt Thesen über den Glauben in göttlichen Dingen, wird am 19. September zugleich mit Joh. Agricola baccalaureus in bibliis, liest über das Matthäusevangelium, hält am 25. Januar 1520 eine Rede „De adhortatione ad doctrinam Paulinam“ und im Februar eine „Declamatio in Pauli doctrinam“, weist hin auf den Unterschied zwischen der biblischen und scholastischen Theologie und betont im Gegensatz gegen alle kirchlichen Auctoritäten und Traditionen das ausschließliche Recht der heiligen Schrift, Glaubensartikel zu begründen (scripturam s. solam condere articulos fidei). Neben den theologischen Arbeiten gehen aber ununterbrochen die philologischen und philosophischen her: er gibt eine Rede des Lucian, die Wolken des Aristophanes, ein Lehrbuch der Dialektik heraus, liest auf den speciellen Wunsch des Kurfürsten über Plinius etc. Mitten unter diesen angestrengten Arbeiten tritt M. (25. November 1520) besonders auf den Wunsch und Rath seiner Freunde, die ihn dadurch in Wittenberg festzuhalten und durch bessere Verpflegung zur Verlängerung seines Lebens beizutragen hofften, in die Ehe mit Katharina Krapp, Tochter eines Wittenberger Bürgermeisters, mit der er eine 37jährige friedliche und glückliche, mit zwei Söhnen und zwei Töchtern gesegnete, freilich auch von schmerzlichen Erfahrungen nicht verschonte Ehe geführt hat. – Um dieselbe Zeit beschäftigte ihn die Abfassung einer Vertheidigungsschrift für Luther gegen den Angriff eines italienischen Dominicaners Thomas Rhadinus von Piacenza, der Luther als einen die Ehre der deutschen Nation schändenden Ketzer in einer zu Rom und Köln 1520 gedruckten Rede bei den Fürsten und Völkern Deutschlands denuncirt hatte; M. beantwortet die Schrift unter dem Pseudonym „Didymi Faventini adv. Thomam Placentinum pro Luthero oratio“ (gedruckt zu Wittenberg im Februar 1521), schreibt aber bald darauf mit Nennung seines Namens eine „Apologia pro Luthero adversus furiosum Parisiensium theologastrorum decretum“ (Juni 1521 s. C. R. I, 398). Während er so in den Jahren des Kampfes 1519–21 dem bahnbrechenden Heros der deutschen Kirchenreformation als treuester Freund und Gehülfe, fördernd und ergänzend, aber auch mäßigend und mildernd zur Seite steht, sucht er zugleich durch philologische, philosophische und theologische Vorlesungen und Schriften das Werk der Studien- und Kirchenreform in selbständiger Weise zu fördern: insbesondere entstand in diesen Jahren 1519–21 aus seinen exegetischen Vorlesungen [271] über den Römerbrief sein wichtigstes theologisches Werk: seine im December 1521 erstmals, dann in zahllosen neuen, theils erweiterten, theils umgearbeiteten Ausgaben wiederholt erschienenen „Loci communes rerum theologicarum“ (auch hypotyposes etc. genannt), eine Zusammenstellung der Grundwahrheiten des Christenthums aus der heiligen Schrift und besonders den paulinischen Briefen, die erste Dogmatik der neuen evangelischen Kirche, obwol in ihrer ersten Gestalt noch mehr den Charakter des unmittelbaren Bekenntnisses als eines abgeschlossenen Lehrsystems tragend, von Luther als „das beste Buch nach der heiligen Schrift“ gepriesen. (Ueber diese erste Ausgabe und ihr Verhältniß zu den späteren s. Strobel, Litteraturgeschichte von Melanchthon’s Loci, 1776; G. Plitt, Melanchthon’s Loci in ihrer Urgestalt, 1864 und C. Ref. Bd. XXI und XXII mit den dort gegebenen litterarhistorischen Nachweisungen.)
Unterdessen aber sahen sich M. und die übrigen Wittenberger Freunde und Collegen Luther’s in eine ganz neue Lage versetzt seit Luther’s Reise nach Worms (2. April 1521) und seiner Zurückziehung nach der Wartburg (Mai 1521 bis März 1522). Eine doppelte Last und Sorge lag jetzt auf dem in Wittenberg zurückgebliebenen M. Schmerzlich vermißt er bald des Freundes und Führers Gegenwart (11. Juni), zumal als seit dem Herbst 1521 einige Ordensgenossen und Collegen Luther’s (wie Gabriel Didymus, Andreas Bodenstein v. Carlstadt etc.) in Verbindung mit Wittenberger Bürgern und Studenten mit gewaltsamen Aenderungen des Gottesdienstes, Beseitigung der Messe, Bruch der Klostergelübde, des Cölibats etc. und anderen Störungen der bisherigen kirchlichen Ordnung vorgehen wollten, und als dann vollends zu Ende des Jahres (27. December 1521) die sogenannten Zwickauer Propheten (Nikolaus Storch, Marcus Thomä Stübner u. A.) in Wittenberg erschienen und für ihre schwärmerisch-revolutionären Ideen Propaganda machten. M. war unsicher und ängstlich, mahnte zur Mäßigung, vermochte aber den Sturm nicht aufzuhalten, war sich nicht einmal darüber klar, ob Gottes oder des Teufels Geist aus den Zwickauern rede, und verlangte daher immer dringender nach Luther’s Rückkehr, der allein im Stande sei die Geister zu prüfen. Luther kam am 7. März. Die Wogen legten sich. M. war wieder gefaßt und glücklich den Freund wieder zu haben (vgl. Köstlin, Luther I, 494 ff.). Am liebsten hätte M. jetzt der theologischen Lehrthätigkeit entsagt und sich ganz auf seine humanistischen Studien zurückgezogen: er las über Hesiod, Homer, klagte über den Verfall der philologischen Studien, schrieb über die Würde der Poesie, hielt eine Rede über den Nutzen der classischen Studien und wollte vor Allem seiner griechischen Lection warten, für die er vom Kurfürsten berufen und besoldet sei, während Luther umgekehrt wünschte, ihn seiner philologischen Vorlesungen entbunden zu sehen, ut theologicis vacaret, weil er von Gottes Gnaden besonders reich begabt sei die Schrift zu lesen. Luther drängt ihn fort und fort zu theologischen, besonders exegetischen Vorlesungen und Arbeiten über Johannisevangelium, Römerbrief etc. und bedient sich seiner Hülfe für die Revision und Vollendung der auf der Wartburg begonnenen Bibelübersetzung (das Neue Testament 1522 erstmals gedruckt, s. die Schriften von Panzer, Schott, Hopf u. A.).
Unterbrochen wurde diese angestrengte Arbeit im akademischen Beruf und auf litterarischem Gebiet 1524 im April bis Juni durch eine in Begleitung von J. Camerarius, W. Nesen u. A. unternommene Reise nach Süddeutschland, über Leipzig, Eisenach, Fulda, Frankfurt nach Bretten, wo er seine alte Mutter besucht und von der Universität Heidelberg mit einem Ehrengeschenk begrüßt wird. Auf den Wunsch von Nausea übersendet er dem damals in Stuttgart weilenden Cardinal Campegius eine Schrift „Summa doctrinae christianae“; auf dem Rückweg macht er die persönliche Bekanntschaft des Landgrafen Philipp von Hessen, [272] der mit ihm über die kirchlichen Fragen sich unterhielt und von ihm eine kurze Darstellung der neuen Lehre begehrte; M. übersandte sie ihm nach seiner Rückkehr von Wittenberg aus unter dem Titel „Summa der erneuten evangelischen Lehre“, wodurch Philipp für die Sache der Reformation gewonnen wurde (s. C. R. I, 703; neue Ausgabe mit Vorrede von Professor Scheffer, Marburg 1860, 4°). Bald nach seiner Rückkehr nach Wittenberg (15. Juni 1524) erhielt M. einen Ruf nach Nürnberg zur Errichtung und Leitung des dortigen Schulwesens, den er aber trotz der ihm dort sich bietenden lockenden Aussichten aus treuer Anhänglichkeit an den Kurfürsten von Sachsen und Wittenberg ablehnt. Schwere Sorgen macht ihm im folgenden Jahr neben seiner eigenen Kränklichkeit der Bauernkrieg: auf Wunsch des Kurfürsten Ludwig von der Pfalz schreibt er im Juni 1525 ein Gutachten über die Artikel der Bauerschaft, worin er die Forderungen derselben schroff zurückweist mit dem Gebot unbedingten Gehorsams und widerstandslosen Duldens (C. R. XX, 641; Schmidt 121 ff.). Im J. 1526 übernimmt er auf den Wunsch des neuen Kurfürsten Johann neben seiner bisherigen philologischen noch eine theologische Professur, sodaß er fortan bis zu seinem Tod zwei Lehrstellen, die eine in der philosophischen, die andere in der theologischen Facultät vertritt, während er zur Annahme des theologischen Doctorats (weil dieser titulus aliquid oneris habet C. R. IV, 811) sich niemals entschließen konnte. 1527 betheiligt er sich an der kursächsischen Kirchen- und Schulvisitation und schreibt für dieselbe sein sogenanntes „Visitationsbüchlein“ oder „Articuli de quibus egerunt visitatores in terra Saxonica“, die zuerst 1527 ohne sein Vorwissen im Druck erschienen, dann 1528 von Luther mit einer Vorrede herausgegeben wurden (unter dem Titel „Unterricht der Visitatoren an die Pfarrherrn“), die erste, später auch für andere Länder vorbildlich gewordene kursächsische Kirchen- und Schulordnung (C. R. XXVI, 3 ff.) Aus demselben Anlaß aber bekommt M. Streit über die Lehre vom Gesetz und der Buße mit Johann Agricola aus Eisleben, der, schon längst auf M. eifersüchtig, einige Sätze desselben als unevangelisch und katholisirend angriff: der Streit (der sogenannte erste antinomistische) wurde von Luther durch eine persönliche Verhandlung mit M. und Agricola zu Torgau vorläufig beigelegt (December 1527), um später in verstärktem Maße wieder auszubrechen. Luther’s Streit mit Erasmus macht ihm in diesen Jahren (1524 ff.) ebensoviel Schmerz als der drohende Religionskrieg (aus Anlaß der Pack’schen Händel 1528) und die Wiedertäuferunruhen, über welche er im April 1528 dem Kurfürsten ein Gutachten zu erstatten hat. Ein Versuch, den Johann Faber von Leutkirch damals machte, M. durch glänzende Versprechen von der Sache Luther’s abzuziehen, ebenso wie Georg Wizel’s Versuch, ihn für seine abenteuerlichen Reformideen zu gewinnen, scheiterten an Melanchthon’s geradem Sinn und Ueberzeugungstreue. Im Februar 1529 begleitet er seinen Kurfürsten auf den Reichstag zu Speyer, dessen Ausgang ihn freilich nicht wenig beunruhigt. Bei der durch die Protestation der Minorität offenbar gewordenen Entzweiung im Reich schien ihm ein Krieg unabwendbar und doch konnte er ebenso wenig als Luther das Bedenken gegen ein Bündniß mit den Schweizern überwinden. Nur ungern folgt er darum auch der Einladung zum Marburger Gespräch, wo er am 1.-3. October besonders mit Zwingli disputirt, während Luther mit Oekolampad verhandelte. Von einem brüderlichen Verhältniß zu den Schweizern will er aber schließlich ebenso wenig als Luther etwas wissen: er fühlte sich abgestoßen theils von Zwingli’s politischen Tendenzen, theils von seinem Philosophiren in Sachen der Religion (C. R. I, 1066 ff.; II, 25; Schmidt S. 177 ff.).
Aber nun erst folgt das arbeits- und sorgenvollste, aber auch wichtigste und fruchtbarste Jahr seines Lebens und Wirkens – das Jahr des Augsburgischen [273] Reichstags 1530. Schon im März beschäftigten ihn einerseits ein Gutachten über die Frage: ob man dem Kaiser im Falle eines Angriffs aus Gründen der Religion bewaffneten Widerstand leisten dürfe, andererseits die Vorarbeiten für eine von dem Kurfürsten erforderte, zur Vorlage auf dem Reichstag geeignete Denk- und Schutzschrift (die sogenannten Torgauer Artikel, vgl. G. Plitt, Einleitung in die Augustana 1867 und die übrige dort angeführte Litteratur). Am 3. April tritt er sodann mit dem Kurfürsten die Reise nach Augsburg an, verweilt im April längere Zeit in Coburg, wo Luther zurückgelassen und die Ausarbeitung der Confession von M. begonnen wird, trifft am 2. Mai in Augsburg ein und verwendet die ganze bis zur Reichstagseröffnung noch übrige sechswöchige Frist zur Vollendung der zur Vorlage an den Kaiser und Reichstag bestimmten „Apologia“ oder (wie sie dann später genannt wurde) „Confessio Augustana“ (s. C. R. II, 30 ff., XXVI, 97 ff. und die Litteratur zur Geschichte des Augsburgischen Reichstag und der Confession von Chyträus, Cölestin, Cyprian, Rotermund, Weber, Ranke, Plitt, Köstlin, Schirrmacher etc.), worin er nicht blos die Schriftmäßigkeit der evangelischen Lehre, sondern auch ihre Uebereinstimmung mit dem christlichen Alterthume, und daher das Unrecht der Gegner, die Bekenner derselben als Häretiker zu behandeln, ebenso klar und bestimmt als mild und versöhnlich darzulegen bemüht ist. Erst am 23. Juni wird nach langen Berathungen mit den in Augsburg anwesenden wie mit auswärtigen Theologen (auch mit Luther in Coburg, dem der Entwurf am 15. Mai vorgelegen und der seine volle Billigung desselben ausgesprochen hatte), endlich die Schlußredaction der Formel sowol in lateinischer als in deutscher Sprache festgestellt, wie diese sodann am 25. Juni vor dem Reichstag vom Vicekanzler Baier verlesen und dem Kaiser überreicht wird. M. blieb in Augsburg bis zum 23. September, beschäftigt theils mit den auf Wunsch des Kaisers eingeleiteten Vergleichsverhandlungen mit den katholischen Gegnern, wobei die Nachgiebigkeit Melanchthon’s soweit ging, daß er bei seinen eigenen Glaubensgenossen in den Verdacht kleinmüthiger Halbherzigkeit, wo nicht gar des Verraths an der evangelischen Sache kam, theils mit dem Entwurf einer der katholischen Confutation (vom 3. August) entgegenzusetzenden „Apologia Confessionis Augustanae“, deren Annahme jedoch der Kaiser am 23. September verweigert. Nach Wittenberg zurückgekehrt (November 1530) beschäftigt er sich mit der Herausgabe der beiden in Augsburg verfaßten Bekenntnißschriften, der Confession und der jetzt erst vollendeten Apologie in lateinischem und deutschem Text (s. besonders Plitt, Die Apologie geschichtlich erklärt, 1873), sowie mit anderen schriftstellerischen und akademischen Arbeiten (Rhetorik, Aristotelische Ethik, Römerbrief etc.), wozu der Nürnberger Religionsfrieden vom 23. Juli 1532 wieder Raum und Ruhe gab. Dagegen beunruhigte ihn 1533 wieder die Kunde von einem beabsichtigten päpstlichen Concil, worüber er an den Kurfürsten Johann Friedrich Gutachten zu erstatten hat, und mehr noch 1534 die Münster’schen Ereignisse, die Occupation und Reformation des Herzogthums Württemberg und die von Butzer mit großem Eifer betriebenen Verhandlungen über die Abendmahlslehre zwischen den Sachsen und Oberdeutschen. Verschiedene auswärtige Berufungen (nach Frankreich, England, Württemberg) lehnt er theils aus eigenem Entschluß, theils wegen kategorischer Urlaubsverweigerung von Seiten des Kurfürsten ab, erstattet aber an König Franz von Frankreich ein Reformationsgutachten (August 1534), schreibt an Heinrich VIII. von England, dediciert ihm eine neue Ausgabe der loci (August 1535) und nimmt Theil am Kasseler Gespräch (December 1534) und an der sogenannten Wittenberger Concordie (Mai 1536), d. h. einem zwischen den Oberdeutschen und Sachsen besonders auf Butzer’s Betrieb abgeschlossenen Vergleich [274] über die Abendmahlslehre, wodurch freilich die Streitpunkte mehr verdeckt als wirklich gelöst wurden (C. R. III, 75; Nitzsch, Urkundenbuch der evangelischen Union, 1853). Nachdem er sodann seinem Kurfürsten ein nochmaliges Gutachten erstattet über das von Papst Paul III. ausgeschriebene Mantuaner Concil (August-September 1536), macht er eine Reise nach Süddeutschland, besucht Frankfurt und Tübingen, verhandelt über die Neuorganisation der dortigen Universität, ohne sich selbst dort halten zu lassen, sucht einen kirchlichen Streit in Nürnberg beizulegen und kommt im November nach Wittenberg zurück, wo er indessen in seiner Abwesenheit von einem Prediger Cordatus und Anderen wegen seiner angeblich katholisirenden Lehre von der Nothwendigkeit der guten Werke hart angegriffen worden war, sodaß sich schon das Gerücht verbreitet hatte, er werde wegen dogmatischer Differenzen mit Luther gar nicht nach Wittenberg zurückkehren. Er sucht die Differenzen beizulegen, beräth mit Luther und anderen Theologen die dem Convent zu Schmalkalden zu machenden Vorlagen, unterzeichnet die von Luther entworfenen Artikel (die später sogenannten Articuli Smalcaldici) mit einem Zusatz in Betreff des Papsthums, reist selbst, obwol leidend, mit Luther nach Schmalkalden und verfaßt dort im Auftrag der Versammlung eine officielle Denkschrift über den Primat des Papstes und die Jurisdiction der Bischöfe, die von den anwesenden Theologen unterschrieben wird und später einen Anhang zu den schmalkaldischen Artikeln Luther’s im lutherischen Concordienbuch bildet (C. R. III, 271 und die Monographien von Meurer, Ziemssen, Sander, Plitt).
Die wiederholten Angriffe des Predigers Cordatus und Jakob Schenk, sowie die Bemühungen Amsdorf’s und Anderer, ihn wegen seiner angeblich nicht ganz correcten Haltung in der Lehre vom Glauben und Werken, Freiheit und Gnade, besonders aber in der Abendmahlslehre (wegen der sogenannten Variata von 1540) auch bei Luther zu verdächtigen, sowie gehäufte Geschäftslast und körperliches Uebelbefinden trugen dazu bei, ihm in den folgenden Jahren den Aufenthalt in Wittenberg zeitweise so zu verbittern, daß er wiederholt an den Wegzug dachte und sich in trüben Stunden wie ein Prometheus Caucaso alligatus vorkam (C. R. III, 606). Aber wie er sich selbst nicht loszureißen vermag, so will auch Luther, obwol mit Melanchthon’s theologischen Ansichten und kirchlicher Haltung nicht immer einverstanden, doch den theuren Freund und hohen Mann, „der so große Arbeit that“, sich selbst und der Universität nicht verloren gehen lassen. Trotz aller Verdächtigungen und Verstimmungen läßt er es zu keinem Bruch kommen, will vielmehr „sein Herz mit ihm theilen“. Ja gerade jetzt wird Melanchthon’s rathende und organisirende Thätigkeit aufs vielfältigste in Anspruch genommen bei Einführung der Reformation in der Mark Brandenburg und im Herzogthum Sachsen, bei der Reformation der Leipziger Universität (Mai 1539), bei den Conventen in Frankfurt 1539 und Schmalkalden[WS 1] 1540, bei den Religionsgesprächen in Hagenau, Worms, Regensburg (1540–41), wo er ebenso mild wie fest und klar den Standpunkt des Augsburgischen Bekenntnisses gegenüber den katholischen Gegnern Eck, Pflugk, Gropper, Granvella etc. vertrat und wo er zugleich Gelegenheit fand, mit auswärtigen Theologen, wie besonders mit dem damals in Straßburg weilenden Johann Calvin folgenreiche Beziehungen anzuknüpfen.
Schweren Kummer verursachte ihm in diesen Jahren der Landgraf Philipp von Hessen durch den Scandal seiner Doppelehe, zu welcher M. zwar im December 1539 ebenso wie Luther seine bedingte Zustimmung in der Form eines geheim zu haltenden Beichtrathes gegeben hatte, deren wirkliche Eingehung und Veröffentlichung aber (März 1540) ihm solchen Schmerz und Aerger bereitete, daß er unterwegs auf der Reise nach Hagenau zu Weimar in eine tödtliche [275] Krankheit fiel, aus der ihn Luther’s Gebet und kräftiger Zuspruch wie durch ein Wunder wieder herausriß (C. R. III, 625; XXVIII, 27 ff.).
Neue Arbeit und neue Anfechtungen brachte ihm 1542–44 seine Theilnahme an der von dem Kurfürst-Erzbischof Hermann von Wied geplanten Kölner Reformation, wobei ein von Butzer verfaßter, von M. gebilligter Reformationsentwurf (C. R. V, 113 ff.), speciell die darin vorgetragene Butzer’sche Lehre vom heiligen Abendmahl, von eifrigen Lutheranern, wie Amsdorf, die heftigsten Angriffe, von Seiten Luther’s wenigstens den Vorwurf absichtlicher Verschweigung der richtigen Lehre erfuhr, sodaß M. sogar fürchtete, aus Wittenberg vertrieben zu werden (C. R. IV, 478). Zwar kam es auch jetzt zu keinem Bruch zwischen den beiden Reformatoren, aber doch zu einer zeitweiligen Verstimmung, die dem auch von häuslichem Kummer und kirchlichen Sorgen heimgesuchten M. schwere Stunden bereitete. Neue Arbeit brachten die vom Kaiser in Folge des Speierer Reichstagsbeschlusses von 1544 beabsichtigten Religionsverhandlungen im Deutschen Reich: für diesen Zweck verfaßte M. die sogenannte Wittenberger Reformation (23. November 1544, C. R. V, 578), d. h. einen für die Verhandlungen mit Kaiser und Reich bestimmten Vergleichsentwurf, sowie eine an den Kaiser gerichtete Recusationsschrift in Betreff des Tridentiner Concils (V, 648). Von der ihm angesonnenen Theilnahme an dem Religionsgespräch in Regensburg aber (Januar 1546) blieb M. auf Luther’s Fürsprache hin glücklich verschont, da dieser den „treuen Mann“ nicht einer solchen vergeblichen Mühe hinopfern wollte.
Während dieses Colloquiums aber und gerade in einer Zeit, wo Melanchthon’s Verhältniß zu Luther wieder aufs freundlichste sich gestaltet hatte (vgl. Schmidt, M., S. 448; Köstlin, Luther, Bd. II; Henke, Das Verhältniß Luther’s und Melchanchthon’s, 1860), traf jenen der herbste Schmerz und schwerste Verlust durch den unerwarteten Tod Luther’s am 18. Februar 1546 zu Eisleben. Am 23. Januar hatte sich M., da er ihn wegen Unwohlseins und akademischer Geschäfte nicht begleiten konnte, von Luther verabschiedet; noch am 18. Februar hatte er an ihn geschrieben und ihm, „dem ehrwürdigen Mann, dem Wiederbringer der reinen Lehre, seinem theuersten Vater“, eine glückliche Heimkehr gewünscht; da erhielt er am 19. von Jonas die Todesnachricht und theilte sie tiefgebeugt und unter Thränen seinen Studenten in der Vorlesung mit; am 22. hielt er ihm im Namen der Universität eine lateinische Leichenrede (C. R. XI, 726 und über dieselbe die Urtheile von Galle, Nitzsch, Schmidt, Landerer, Herrlinger etc.), nahm sich seiner Familie als Vormund der Kinder aufs liebevollste an und setzte dem geschiedenen Freund ein würdiges litterarisches Denkmal in einer, zuerst dem 2. Band der Opera Lutheri beigegebenen, nachher oft gedruckten Vita Lutheri (C. R. XX, 430 ff.)
3. Mit Luther’s Tod beginnt für M. die Zeit seines letzten Streitens und Leidens bis zu seinem eigenen Tod, 1546–1560. Bisher Luther’s thätigster Gehülfe und treuester Mitarbeiter sieht er sich jetzt plötzlich in die erste Stelle vorgeschoben als Leiter der Wittenberger Universität und der lutherischen Kirche, – und das in demselben Augenblick, wo der äußere Kriegssturm über Kursachsen hereinbricht, wo die Universität zerstreut, die lutherische Kirche durch die kaiserliche Gegenreformation des sogenannten Interims und gleichzeitig durch innere Parteiungen aufs gefährlichste bedroht wird. Trübe Ahnungen einer für die Evangelischen herannahenden Gefahr hatte M. schon im April d. J. ausgesprochen aus Anlaß der Diaz’schen Brudermords (C. R. VI, 113); er hatte sodann auf Wunsch seines Kurfürsten ein Gutachten erstattet über das Recht der Gegenwehr gegen einen kaiserlichen Angriff (VI, 122). Noch kurz vor dem Ausbruch des Krieges gab er eine Schrift heraus gegen das Tridentiner Concil, das im December 1545 seinen Anfang genommen („Causae quare etc.“ Opp. ed. Witeb. [276] IV, 772), sowie eine neue Ausgabe von Luther’s Warnung an seine lieben Deutschen mit einem kräftigen Vorwort (C. R. VI, 190). Der Ausbruch des Krieges im Juli 1546, der Einfall des Herzogs Moriz in Kursachsen und die dadurch veranlaßte Zersprengung der Universität im November d. J. zwangen auch M., Wittenberg zu verlassen und in Zerbst für sich und seine Familie eine Zuflucht zu suchen, wo ihm von verschiedenen Seiten her Einladungen und Unterstützungen zukamen. Schon war er wieder im Begriff nach Wittenberg zurückzukehren, als die Kunde von der Schlacht bei Mühlberg, von der Gefangenschaft des Kurfürsten und der Wittenberger Capitulation (im Mai 1547) ihn veranlaßte, erst in Braunschweig, dann in Nordhausen, Hildesheim, Eimbeck und im Harz ein Asyl zu suchen. Verschiedene Berufungen gelangten an ihn: am liebsten wäre er nach Süddeutschland gegangen, konnte aber doch zu keinem Entschluß kommen, weil er immer noch hoffte „in sein geliebtes Nest an der Elbe“ zurückkehren zu können. Dazu bot sich denn auch bald wieder eine Aussicht, als der neue Kurfürst Moriz die Wiederherstellung der Universität ankündigte (8. Juni) und die Professoren, insbesondere auch M., zurückrief. Am 24. October eröffnete er seine Vorlesungen daselbst wieder, ohne auf die Anerbietungen und Zumuthungen zu hören, die ihn nach Jena riefen, wo er an der Gründung einer neuen Ernestinischen Universität, einer Rivalin des jetzt Albertinischen Wittenbergs, sich betheiligen sollte. Als er dieses, von Seiten der Ernestinischen Herzoge an ihn gestellte Ansinnen aus Anhänglichkeit an Wittenberg ablehnte, machte man ihm von jener Seite den Vorwurf des Undanks, der Wortbrüchigkeit und Pietätslosigkeit. Neue noch schwerere Anfechtungen und Kämpfe bereitete ihm dann aber 1548 die Publication des sogenannten Augsburgischen Interims und die Verhandlungen über dessen Annahme oder Verwerfung in Kursachsen (vgl. H. Rossel, M. und das Interim, 1847). Seine anfängliche Weigerung, das Interim anzunehmen, erregte den Zorn des Kaisers; als er sich dann bewegen ließ, an den Verhandlungen über ein modificirtes Interim, des sogenannten Leipziger, sich zu betheiligen und besonders als aus diesem Anlaß ein vertraulicher Brief, den M. am 28. April 1548 an den sächsischen Rath Christoph v. Carlowitz geschrieben hatte (C. R. VI, 873), von den Gegnern in indiscreter Weise verbreitet und in gehässigster Weise gegen seinen Verfasser ausgebeutet wurde: so wurde dies für ihn eine Quelle von Angriffen, Verdächtigungen und Streitigkeiten, die dem alterndem Manne den ganzen Rest seines Lebens verbitterten. Maßlose Angriffe erhoben sich gegen ihn insbesondere von Seiten einer angeblich strenglutherischen Partei (der sogenannten Gnesiolutheraner Nikolaus v. Amsdorf, Matthias Flacius u. A.), die es ihm zum Vorwurf machten, daß er in den Interimsverhandlungen nicht blos in gleichgültigen Punkten (in sogenannten rebus mediis oder adiaphoris), sondern auch in wichtigen Glaubensartikeln allzuviel nachgegeben habe. Kaum war durch den Kriegszug des Kurfürsten Moriz nach Tirol das Tridentiner Concil, für welches M. seine „Confessio Saxonica“ oder „Repetitio Conf. Aug.“ 1552 geschrieben und zu dessen Besuch er bereits persönlich sich aufgemacht hatte, auseinander gesprengt und durch den Passauer Vertrag vom 2. August 1552 das Leipziger wie das Augsburger Interim beseitigt: so begann im Schooß der lutherischen Kirche eine endlose Reihe von theologischen Streitigkeiten, die unter dem Gesammtnamen der Philippistischen bekannt sind, weil es in denselben vorzugsweise um die Stellung Philipp Melanchthon’s zu dem sogenannten orthodoxen Lutherthum oder um die Frage sich handelte, ob M. und seine Schüler, wie die Gegner behaupteten, in dem einen oder anderen Lehrpunkt von der Linie des ächten Lutherthums, entweder nach der katholischen oder nach der calvinischen Seite hin, abgewichen seien – jenes besonders in der Lehre vom freien Willen, von den guten Werken und von [277] den Mitteldingen, dieses besonders in der Lehre vom Abendmahl. Von diesen aus der Geschichte des protestantischen Lehrbegriffs bekannten und wegen der Gehässigkeit und Kleinlichkeit der Streitführung übelberüchtigten Streitigkeiten (dem sogenannten adiaphoristischen, osiandrischen, stankaristischen, majoristischen, synergistischen, calvinistischen und kryptocalvinistischen Streit) und von der activen oder passiven Betheiligung Melanchthon’s an denselben ausführlicher zu handeln ist nicht dieses Orts (vgl. darüber die Litteratur zur Geschichte des protestantischen Lehrbegriffs von Löscher, Walch, Planck, Heppe, Gaß, Frank, Dorner, Thomasius etc., sowie Schmidt, Melanchthon, S. 553 ff.). Es genügt zu sagen, daß das letzte Decennium von Melanchthon’s Leben 1550–60 fast ganz von diesen verschiedenen theologischen Streitigkeiten, von den vergeblichen Versuchen zu deren Beilegung (z. B. Naumburger Convent 1554, Koswiker und Wittenberger Verhandlungen 1557, Wormser Colloquium 1557, Frankfurter Receß 1558, Heidelberger Responsum 1559, Stuttgarter Synode von 1559 und Melanchthon’s Gegenerklärung 1560) und von einer damit zusammenhängenden, fast nicht zu bewältigenden Geschäftslast in einer Weise erfüllt war, daß er für seinen akademischen Beruf und zu selbständigen litterarischen Arbeiten (z. B. neuen Ausgaben seiner loci, seiner biblischen Commentare, einer Erklärung des Nicenischen Symbols, einer Schrift gegen die bairischen Jesuiten etc.) kaum noch Zeit und Kraft fand. Kein Wunder, daß der sein Lebenlang kränkliche und reizbare Mann, der auch seit dem Tod seiner unglücklich verheiratheten Tochter Anna, † 1547, und seiner Gattin, † 1557, und seit dem Scheiden seiner alten Freunde in seinem Hause und seinem Collegen- und Freundeskreise sich mehr und mehr vereinsamt fühlte, immer dringender sich sehnte erlöst zu werden „von der Wuth der Theologen und von den Sorgen des irdischen Lebens“. Diese Sehnsucht erfüllte sich, nachdem er bis in seine letzten Lebenstage unermüdlich fortgearbeitet und fortgestritten, am 19. April 1560, wo er in Folge einer Erkältung, die er auf einer Dienstreise nach Leipzig sich zugezogen, nach kurzer Krankheit kurz nach vollendetem 63. Lebensjahre sanft und kampflos unter den Gebeten und Segenswünschen seiner Collegen und nächsten Angehörigen zu Wittenberg starb. Seine Leiche wurde am 21. April in der Schloßkirche neben Luther’s Grab beigesetzt; sein treuer Schüler Georg Major lud als Vicerector zur Feier ein, Paul Eber hielt die Predigt, Veit Windsheim schilderte in lateinischer Rede sein Leben und seine Verdienste um Kirche und Schule, zahlreiche lateinische, griechische, deutsche Reden und Gedichte feierten auch auswärts das Andenken des praeceptor Germaniae, des treuesten Gehilfen Luther’s beim Werke der evangelischen Kirchen- und Schulenverbesserung (C. R. X, 173 ff. Scripta ad vitam et obitum Mel. spectantia).
Das Urtheil der Zeitgenossen wie der Nachwelt über Melanchthon’s kirchliche Stellung und theologische Bedeutung ist selbstverständlich je nach dem verschiedenen Standpunkt der Beurtheiler (bei Katholiken und Protestanten, Lutheranern oder Unionisten, Orthodoxen oder Rationalisten) ein sehr verschiedenes, ja entgegengesetztes gewesen. Aber auch sein persönlicher Charakter hat ebensoviel Tadel als Lob bei Freunden wie Gegnern der Reformation erfahren, je nachdem man mehr die Lichtseiten in demselben – seine ächte Humanität, christliche Pietät, seinen politischen Conservatismus, seinen unermüdlichen Fleiß und gewissenhafte Berufstreue, seine Freundestreue und aufopfernde Dienstfertigkeit gegen Freunde und Schüler, seine Freigebigkeit, Milde und Friedfertigkeit etc. –, oder aber die Kehrseite jener Tugenden – seine übermäßige Aengstlichkeit und Schüchternheit, seine oft unmännliche Verzagtheit und Nachgiebigkeit, seine oft allzugroße Empfindlichkeit und Reizbarkeit, eine gewisse pedantische Kleinlichkeit und schulmeisterliche Rechthaberei etc. – in einseitiger Weise hervorgehoben hat. Dagegen hat seine [278] wissenschaftliche Tüchtigkeit und Vielseitigkeit, seine schriftstellerische Gewandtheit und Fruchtbarkeit, seine ausgebreitete akademische wie litterarische und pädagogische Wirksamkeit, seine hervorragende und erfolgreiche Thätigkeit als Gelehrter, als Lehrer, als Reformator und Organisator des gelehrten Schulwesens ungeteilthe Anerkennung gefunden bei Freund und Feind, bei den Zeitgenossen aus den verschiedensten Lagern und Ländern, wie bei der Nachwelt, die ja zum Theil jahrhunderte lang seiner grammatischen, rhetorischen, philosophischen, theologischen Lehrbücher sich bedient hat. Bei all seiner Hingabe an die Sache der kirchlichen Reform war und blieb doch sein ausgesprochenes Ideal nicht das öffentliche praktisch-kirchliche Wirken, noch weniger das Kämpfen und Umstürzen, sondern ein wissenschaftliches Stillleben – vitam in otio literario degere inter sacra silentia φιλοσοφίας. Alles Drängen und Stürmen war ihm fremd und zuwider; wo er konnte, hat er den Streit abzuschneiden oder zu vermitteln gesucht durch Hinweisung auf das, was nothwendig und wichtig: non contendendum esse nisi de rebus magnis et necessariis, war sein Grundsatz, nur daß ihm von seinem irenischen Standpunkt aus manchmal als unwesentlich erschien, was andere streitbarere Geister für hochwichtig und hochnöthig hielten. „Der Schmerz der Kirchenspaltung ist tief durch seine schuldlose Seele gegangen“ (Hase, K. G. 385), aber an dem späteren Theologengezänk im Schooß der reformatorischen Kirche ist doch er selbst nicht so ganz unschuldig gewesen. Mehr theoretisch als praktisch begabt, mehr conservativ als bahnbrechend, mehr irenisch als aggressiv, mehr ein Mann des vielseitigen Talents und ausgebreiteten Wissens als der schöpferischen Genialität, mehr eine milde und edle Persönlichkeit als ein großartiger Charakter, mehr durch die Schule und für die Schule als durchs Leben und für das Leben gebildet, mehr Schulmeister und Litterat als Theolog und Kirchenmann, war M. nicht dazu berufen und hat sich auch nicht dazu gedrängt, in vorderster Reihe zu kämpfen oder gar die leitende Persönlichkeit beim reformatorischen Kampf oder Neubau zu werden. Aber unter allen Mitarbeitern am Werk der Kirchen- und Schulenreform des 16. Jahrhunderts ist er der bedeutendste und verdienteste durch seine volle und treue Hingabe an Luther und das von ihm begonnene Werk, durch seine wissenschaftliche Tüchtigkeit und unermüdliche Thätigkeit auf allen Gebieten der Theologie und allgemeinen Bildung, durch seine Sprachkenntniß und dialektische wie stilistische Fruchtbarkeit, durch seine staunenswerthe akademische Lehrthätigkeit und schriftstellerische Fruchtbarkeit, durch seine philologischen, philosophischen, historischen, exegetischen, dogmatischen, ethischen, kirchenpolitischen, pädagogischen und methodologischen Schriften, durch die Abfassung zahloser Compendien, Dissertationen, Reden, Gutachten, Streitschriften, Entwürfe, Kirchenordnungen, Schulpläne, Vorreden, Sendschreiben, und Briefe, wie durch seine vielfache Theilnahme an Disputationen, Colloquien, Visitationen, Reichstagen und Religionsgesprächen, Friedens- und Streitverhandlungen, – mit einem Wort als der Humanist unter den Reformatoren, als der Mann der evangelischen Humanität, der wie Keiner vor ihm oder nach ihm die humanistische Bildung und Wissenschaft voll und ganz in den Dienst der evangelischen Reformation gestellt und die Gedanken der Reformation mit der Schule, der Wissenschaft der allgemeinen Bildung zu vermitteln gesucht hat. Wenn Luther der Heros des deutschen Volks, der Bahnbrecher und Herold der evangelischen Reformation des 16. Jahrhunderts, so ist M. der praeceptor Germaniae, der Begründer der protestantischen Geistesbildung geworden durch die in ihm sich darstellende „Synthese des religiösen mit dem ethischen und intellectuellen Factor“, durch die von ihm selbst in seinem ganzen Leben und Wirken angestrebte und angebahnte Vereinigung christlicher Frömmigkeit, Sittlichkeit und humaner Bildung, auf welcher das gesammte Kulturleben der protestantischen Völker beruht.
[279] Von den Schriften Melanchthon’s gibt es zahllose Einzelausgaben, die mehr oder minder vollständig verzeichnet sind bei Strobel, Bibliotheca Melanchthoniana; bei Rotermund, Suppl. zu Jöcher, bei Bindseil, (Bibliotheca Melanchthoniana); Halle 1868. Eine Sammlung derselben erschien zuerst 1541 zu Basel; dann, von seinem Schwiegersohn Kaspar Peucer besorgt, zu Wittenberg 1562 ff. in 4 Bänden; Sammlungen seiner Briefe gaben Manlius 1565, Peucer und Pezel 1568–90, Saubert 1640 heraus. Die vollständigste und beste Gesammtausgabe seiner Schriften und Briefe mit ausführlichen Einleitungen, Anmerkungen, Annalen und Registern haben K. G. Bretschneider und H. E. Bindseil geliefert in den ersten 28 Bänden des Corpus Reformatorum, Halle und Braunschweig 1834–60, 4°. Dazu kommen noch mancherlei Nachträge, besonders an Briefen, in den von Bindseil herausgebrachten Epistolae, judicia, consilia etc. 1874, in der Zeitschrift für historische Theologie, in der Zeitschrift für Kirchengeschichte und a. a. O.; vgl. auch A. v. Druffel, Ueber die Briefe Melanthon’s in der bibl. Chigiana in Rom, Sitzungsberichte der Münchener Akademie, historische Klasse 1876, 490. –
- Darstellungen seines Lebens haben gegeben J. Heerbrand, Oratio in obitum M., Tübingen 1560; Joach. Camerarius, De Ph. M. narratio, 1566; M. Adam, Vitae theol., 1620; neuere Biographien besitzen wir von Matthes 1841; 2. Aufl. 1846; von Meurer 1860; 2. Aufl. 1869; die beste von Carl Schmidt in den Vätern und Begründern der luth. Kirche, Elberfeld 1861; eine Masse kleinerer Monographien, theils wissenschaftlich, theils populär, erschien 1860 aus Anlaß der Säcularfeier seines Todes. Ueber die Theologie M.’s vgl. Delbrück, M. der Glaubenslehrer, 1826; F. Galle, Charakteristik M.’s als Theologen, Halle 1840; Herrlinger, Die Theologie M.’s in ihrer geschichtlichen Entwickelung, Gotha 1879 und die beiden Artikel von Landerer und Herrlinger in der theol. Real-Encyklopädie, Aufl. 1 und 2; über seine Stellung in der Geschichte der Philosphie s. Ueberweg-Heinze, Grundriß III, 16 ff.; Zeller, Gesch. der Philos. in Deutschland; S. 31 ff.; über seine Bedeutung für die Geschichte der Philologie, der Pädagogik und allgemeinen Bildung s. A. Plank, M. der praeceptor Germaniae, 1860; Schlottmann, De Ph. M. reipublicae lit. reformatore, 1860; Raumer, Gesch. der Pädagogik, 4. Aufl., I, 145 ff.; Klir in Schmid’s Encyklopädie, Bd. IV, S. 653 ff.; Bursian, Gesch. der class. Philologie, S. 173 ff.; Paulsen, Gesch. des gelehrten Unterrichts, Leipzig 1885, S. 34 ff.[1]
[Zusätze und Berichtigungen]
- ↑ S. 279. Z. 18 v. u.: Ueber seinen Tod und seine Beisetzung berichtet Distel im N. Arch. f. Sächs. Gesch. etc. VI, 308 und in der Zeitschr. f. Kirchengesch. XIII, 393 ff., sein Eintrag in die Bibel, früher zu Oels von demselben im N. Arch. f. S. Gesch. VII, 150, ein Concept von ihm für den Kurfürsten August zu Sachsen theilt Müller mit in der Zeitschrift f. Kirchengesch. VIII, 621 ff. [Bd. 36, S. 790]
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ im Original Schmalkaden