ADB:Agricola, Johann (lutherischer Theologe)

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Artikel „Agricola, Johann“ von Wilhelm Gaß in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 1 (1875), S. 146–148, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Agricola,_Johann_(lutherischer_Theologe)&oldid=- (Version vom 7. Oktober 2024, 01:10 Uhr UTC)
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Agricola: Johann A., eigentlich Schnitter, der Urheber des antinomistischen Streites; geb. 20. April 1492 zu Eisleben, †[1] an einer pestartigen Krankheit 22. Sept. 1566. Nach seinem Geburtsort führte er später den Namen Magister von Eisleben, Islebius; wegen Kleinheit seiner Gestalt hieß er auch spöttisch Magister Grickel, und Luther nannte ihn Graeculus. In Wittenberg studirend wurde er frühzeitig Luther’s und Melanchthon’s Schüler und Freund und des ersteren Tischgenosse. Er begleitete beide als Schreiber zur Leipziger Disputation (1519). Hierauf fand er als Lehrer in Wittenberg Beschäftigung, begab sich auch auf Luther’s Empfehlung 1525 für kurze Zeit nach Frankfurt, um daselbst bei der Einrichtung des neuen Gottesdienstes zu helfen. Noch in demselben Jahre übernahm er in seiner Vaterstadt als Vorsteher der Andreasschule und Prediger an der Nicolaikirche eine feste Stellung, in welcher er glückliche Erfolge gehabt haben muß, da er vom Kurfürsten für die Reichstage von Speier (1526) und von Augsburg (1530) zum Reiseprediger bestellt wurde. Doch scheint er eine Rückkehr nach Wittenberg und zwar an die Universität lebhaft gewünscht zu haben. Auch eröffnete ihm Melanchthon 1526 brieflich eine solche Aussicht, rieth aber doch, für diesmal noch von diesem Gedanken abzustehen; bald nachher fiel die Wahl für die vacante Stelle auf Melanchthon selber. Dies der muthmaßliche Grund einer Erbitterung, die den folgenden Streit erklärlicher macht, und welche sich auch noch in späteren geringschätzigen Aeußerungen Agricola’s über jenen kund gibt. Melanchthon’s Articuli de quibus egerunt visitatores in regione Saxonica waren Witemb. 1527, obgleich ohne dessen Willen, gedruckt worden. Sofort erhob A. gegen einen der hier aufgestellten Lehrartikel einen übereilten Widerspruch; es sei falsch, behauptete er, und schädige die christliche Freiheit, wenn die Buße aus der Predigt des Gesetzes hergeleitet werde; nicht die Furcht vor dem alten Gesetz, nur die Liebe zur göttlichen Gerechtigkeit und der Glaube an Christus seien deren wahre Quelle. Melanchthon nahm diese befremdliche Censur, die auch dem sächsischen Hofe bekannt wurde, geduldig hin, sein Antwortschreiben vom 7. Nov. 1527 rechtfertigt den angegriffenen Satz mit praktischen Gründen und in freundlichem Ton. Allein A. blieb unwillig, und in der vom Kurfürsten auf den 20. Nov. nach Torgau berufenen Zusammenkunft konnte er nur mit Schwierigkeit von Luther und Bugenhagen zu einer beruhigenden Erklärung bewogen werden. Auf dieses Vorspiel sollte ein ernsterer Conflict folgen. Zu großer Unzufriedenheit seines Landesherrn, des Grafen Albrecht von Mansfeld, gab A. 1536 sein Amt in Eisleben auf und ging nach Wittenberg, wo er die Erlaubniß erhielt, Vorlesungen zu halten. Hier veröffentlichte er im nächsten Jahre ohne seinen Namen eine Reihe von Thesen, in welchen seine frühere Meinung wiederholt, Luther und Melanchthon aber scharf gerügt werden. Die Lehre von der Buße, heißt es nochmals, darf nicht auf die zehn Gebote gegründet, sie muß allein aus dem Evangelium geschöpft werden, folglich hat das Gesetz innerhalb der evangelischen Verkündigung überhaupt keine Stelle mehr. Luther antwortete 1538 in fünf, mit großer Gediegenheit ausgeführten Disputationen und in einer sechsten von 1540; er wollte das gesetzliche Moment nicht fallen lassen, sondern in einem nicht abzubrechenden organischen Verhältniß zum Evangelium aufrecht [147] erhalten. Dabei ergab sich, daß A. das Gesetz im historischen, Luther mehr im ethischen Sinne verstanden hatte, aber auch daß der erstere das Bedürfniß der Buße und Demüthigung nicht mit gleicher Stärke zu betonen für nöthig hielt. Ueberwunden von Luther’s Geisteskraft gab A. auch diesmal nach, aber ein Brief, welchen Luther in dieser Angelegenheit an den Pfarrer Guttel zu Eisleben richtete und drucken ließ, erzürnte ihn dergestalt, daß er 30. März 1540 auf einem Convent zu Schmalkalden dem Kurfürsten und dem Grafen Albrecht eine Beschwerdeschrift mit bitteren Klagen über das gegen ihn von jenem begangene Unrecht einreichte. Dadurch wurde Luther, welchen der Kurfürst in Kenntniß setzte, zu einer höchst leidenschaftlichen Entgegnung hingerissen. Die Folge war, daß zuerst ein gütlicher Vergleich versucht, dann aber auf Befehl vom 15. Juni über A. eine gerichtliche Untersuchung verhängt wurde. Während dieser Proceß noch im Gange war, begehrte 15. Juli A. Entlassung aus seiner Haft; hierauf entfernte er sich heimlich und begab sich nach Berlin, wohin ihn der Kurfürst von Brandenburg Joachim II. als Oberhofprediger berufen hatte. Dieser fand Gefallen an seiner Persönlichkeit, wünschte aber doch den Handel förmlich beigelegt zu sehen, und wandte sich 17. Sept. 1540 an Melanchthon, welcher 1. Oct. antwortete, daß dazu ein an die Prediger und Bürger zu Eisleben zu richtender Widerruf erforderlich sein würde. Wirklich verstand sich A. zu einem solchen, seine Erklärung vom 9. Dec. räumt den begangenen Irrthum ein, bekennt sich unumwunden zur Lehre Wittenbergs und bittet, daß alle Kränkung verziehen werden möge. Dieselbe Revocation wurde 20. Jan. 1541 auch dem Kurfürsten von Sachsen zugesandt, der sich jedoch dadurch nicht befriedigt zeigte, wie auch die Freundschaft mit den Reformatoren nicht vollständig hergestellt worden ist. A. hatte inzwischen in Berlin eine seinen Fähigkeiten entsprechende praktische Wirksamkeit gefunden, die er als Generalsuperintendent noch mehr erweitern konnte. Allein die Eitelkeit verleitete ihn zu einem zweiten und noch viel auffälligeren Eingriff in die kirchliche Bewegung. Der Kaiser, welcher nach Beendigung des Schmalkaldischen Krieges den Weg der Unterhandlung einschlug, glaubte in ihm ein geschicktes Werkzeug gefunden zu haben. So geschah es, daß sich A., der doch 1534 nebst anderen Theologen der Augsburgischen Confession ausdrücklich beigetreten war, zur Theilnahme an der Ausarbeitung des ganz katholisirenden Augsburger Interims von 1548 bewegen ließ, – eine Schwachheit, für die er, ohne vorher bestochen zu sein, reichlich vom Kaiser belohnt wurde, die ihm aber von protestantischer Seite nichts als Hohn und Spott eingetragen hat. Daß seine Ansicht vom Gesetz und Evangelium dieselbe geblieben, bezeugte er 1558 von der Kanzel während des Majoristischen Streits. Auch den alten Hader mit Melanchthon konnte er nicht vergessen; noch 1562 edirte er eine Predigt über Luc. 7, 37–39, die den Gedanken ausführt, daß im Reiche Gottes nur das Evangelium verkündigt werden dürfe, weil in diesem zugleich die rechte Anleitung zur Buße enthalten sei.

Als Persönlichkeit und Charakter ist A. wol schon von seinen Zeitgenossen richtig beurtheilt worden. Melanchthon nennt ihn einen gewandten und mehr als mittelmäßig begabten Mann, der aber an seinen eigenen Erfindungen allzu großes Gefallen hege. Stärker drückt sich Luther in einem Briefe vom 6. Dec. 1540 aus: Nam si velis scire, quidnam ipsa vanitas sit, nulla certiore imagine cognosces quam Islebii, weshalb er denn auch dem Dienst am Wort und dem Lehramt für immer hätte fern bleiben sollen. Indessen läßt sich nicht leugnen, daß A., obgleich weder ein origineller Kopf noch starker Charakter, doch für eine kirchliche Thätigkeit und Geschäftsführung mehrere gute Eigenschaften besaß. Selbst sein Antinomismus war kein leerer Einfall, denn er betraf einen Punkt, welcher bei der damaligen Sachlage nochmals und gründlicher [148] als bisher besprochen zu werden verdiente, weshalb denn auch der Streit noch auf andere Verhandlungen über gute Werke, Adiaphora, verschiedenen Gebrauch des Gesetzes fruchtbar eingewirkt hat. Agricola’s meist sehr selten gewordene Schriften sind von B. Kordes, Altona 1817, genau verzeichnet worden. Von dem Theologischen abgesehen, hat sich A. durch die von ihm besorgte reichhaltige Sammlung deutscher Sprüchwörter, die zuerst zu Magdeburg 1528 in plattdeutscher Mundart, 1529 in hochdeutscher erschien, ein reines Verdienst erworben.

Planck, Gesch. der prot. Theol. II. 1. S. 3. Bretschneider in Stud. u. Krit. II. S. 741. Schelhorn’s Ergötzlichkeiten I. 84. II. 74.

[Zusätze und Berichtigungen]

  1. S. 146. Z. 9 v. o. l.: † zu Berlin. [Bd. 2, S. 797]