ADB:Scheffer, Friedrich Heinrich Ernst Leopold
[677] Ludwig S. aus der Ehe mit einer Tochter des Geh. Hofraths Wigand zu Bergheim in Waldeck. Körperlich und geistig früh entwickelt, erhielt er den ersten Unterricht durch einen Hauslehrer, den späteren Professor der Geschichte in Marburg, Rehm. Einfach erzogen, besuchte er die Gymnasien in Korbach und Hersfeld. Seit 1819 widmete er sich in Marburg dem Studium der Rechte. Nachdem er hier 1822 die Prüfung bei der Facultät gut bestanden, erhielt er die Advocatur bei den Justizämtem Ziegenhain und Treysa mit dem Wohnsitz in der Stadt Treysa. Hier lebte er nur seinem Berufe. Zeigte er sich auch freimüthig durchglüht von deutscher, durch die Erinnerung an die Befreiungskriege genährter Freiheitsliebe, so lag doch die Politik außer seinem Gesichtskreise. Erst durch die auch Kurhessen so lebhaft ergreifende Bewegung von 1830 gewann er überhaupt Interesse an politischen Vorgängen und nach Erlaß der Verfassung von 1831 stand er, liberal im edelsten Sinne, unter dem Einflusse der allgemeinen Begeisterung des hessischen Volkes für die hierdurch erweckten Hoffnungen. In Treysa zum Befehlshaber der Bürgergarde gewählt, vertrat er als solcher diese Stadt 1832 auf der Zusammenkunft von Abgeordneten der Bürgergarde aus allen Städten Kurhessens, welche in Kassel stattfand, um die Nothwendigkeit eines baldigen Gesetzes über die Bürgerbewaffnung hervorzuheben. Eine von S. hier gehaltene Rede ist ihm bei späteren öffentlichen Vorgängen von Parteigegnern öfters vorgeworfen worden; es ist aber glaubhaft festgestellt, daß er hier nicht, wie behauptet ist, zum Aufruhr aufgefordert, vielmehr einen Vorschlag zur Steuerverweigerung mit Erfolg bekämpft hat. Auch in den übrigen Städten des Schwalm-Bezirks errang er sich solches Vertrauen, daß diese ihn als ihren Vertreter in den am 8. März 1833 eröffneten Landtag und, nach dessen baldiger Auflösung, in den von Juni bis October versammelten Landtag wählten. Von diesem zum Schriftführeramt berufen, trat er in den lebhaften Streitigkeiten der Stände mit Hassenpflug wiederholt auf dessen Seite. Er erhob Widerspruch, als der Landtag die von seinem bleibenden Ausschusse beim obersten Gerichte gegen Hassenpflug erhobene Anklage wegen Verfassungsverletzung bestätigte, welche darin gefunden wurde, daß die Eröffnung des vorigen Landtages über den gesetzlichen Zeitpunkt verschoben war. Und während ferner die Mehrheit der Ansicht war, daß Hassenpflug’s Anordnung wegen Sistirung der Aushebung für 1833 einer wiederum eine Ministeranklage begründenden Aufhebung des Rekrutirungsgesetzes gleichkomme, entwickelte S. die Ansicht, daß dem Minister höchstens die Unterlassung der Vollziehung eines Gesetzes zur Last falle. Auch in dem am 20. November 1833 eröffneten Landtage trat S. in wichtigeren Fragen der Gemeindeordnung und des Civilprocesses, zum Theil erfolgreich, sehr bestrittenen Ansichten Hassenpflug’s bei. Seine landständische Thätigkeit im allgemeinen fand Veurtheilung in einer von der „Didaskalia“ (Beilage zum Frankfurter Journal, Nr. 84 vom 25. März 1834) gebrachten Schilderung der Mitglieder des letzten Landtags. Er wurde hier als ein Mann von Freimuth, sehr rechtlichen Gesinnungen und gemäßigt liberaler Richtung dargestellt, der sich mit Offenheit für und gegen Regierung wie Kammermehrheit auszusprechen pflege. Nachdem dann aber S. in und außer der Kammer das politische Leben, insbesondere Anschauungen und Bestrebungen näher kennen gelernt hatte, die ihm neu waren und welchen er nach seiner ganzen Veranlagung fremd bleiben mußte, nachdem er Enttäuschungen erfahren und durch Studium politischer wie religiöser Schriften seine Kenntnisse zu erweitern gesucht hatte, kam bei ihm erst die Klarheit zum Durchbruch und gewann er die feste Unterlage für eine bestimmte und bleibende politische und religiöse Richtung. Nachdem S. sich vergeblich um das erledigte Syndicat bei den Ständen beworben hatte, wurde er von Hassenpflug in den Staatsdienst gezogen. Am 1. October 1834 wurde er, ohne besondere [678] Bewerbung, zum Justizbeamten für den stark verwahrlosten Amtsbezirk Schwarzenfels ernannt. Für den im November 1836 zusammentretenden Landtag wurde er nicht wiedergewählt; dagegen ward er in demselben Jahre, nachdem er in jenem Bezirke die größte Ordnung hergestellt, durch Verleihung des goldenen Verdienstkreuzes ausgezeichnet und am 16. October 1836 zum Rath beim Criminalsenat des Obergerichts in Kassel, sowie zum Landtagscommissar ernannt. In dieser Eigenschaft bezeichnete er den Ständen als sein Programm das eifrigste Streben, auf friedliche Lösung von Meinungsverschiedenheiten hinzuwirken und selbst bei stark gegenüberstehenden Ansichten das Band gegenseitigen Vertrauens nicht zu stören. Daß dieser Zweck jedoch nicht erreicht wurde, lag an der Natur der fortgesetzten grundsätzlichen Kämpfe zwischen Regierung und Ständen. Während diese über eine genaue Ausführung der Verfassung zu wachen suchten, indem sie die dem Fürsten gezogenen Schranken für die nothwendige Garantie gegen Wiederkehr früherer Mißregierungen hielten, ließ S. sich von der Ueberzeugung leiten, daß gewisse Bestimmungen der Verfassung auf dem Grundsatze der Volkssouveränität beruhten, selbstverständliche Rechte des Fürsten beeinträchtigten, das Landeswohl gefährdeten, daher nicht so wie in der Kammer ausgelegt werden dürften, und daß die Entwicklung auf Grund der Verfassung zu einer völligen Demokratisirung der öffentlichen Verhältnisse führen werde. Bei solchem Gegensatze kam es in allen den verschiedenen Streitigkeiten im Landtage zu öfters sehr lebhaften Auftritten, welche zuweilen durch Scheffer’s Eifer und Derbheit noch gesteigert wurden. Ansinnen desselben wie das, ein nur die Ausgaben enthaltendes Budget für 1837–39 zu genehmigen; Erklärungen Scheffer’s wie die, daß eine vom Landtag abgelehnte Ausgabe dennoch werde gemacht werden, seine Theorie von einer fast völligen Gleichstellung der Verordnungen mit den Gesetzen oder die von der Unzulässigkeit von Petitionen allgemeinen Interesses an die Stände waren nicht geeignet, das durch die vielen Kämpfe erregte böse Blut zu mildern. Die Regierung aber erkannte seine Leistungen an. Am 11. April 1838 wurde ihm das Ritterkreuz des kurfürstl. Hausordens vom goldenen Löwen verliehen, am 4. Mai wurde er zum Regierungsrath für die Provinz Niederhessen, am 20. März 1839 zum Mitglied des leitenden Ausschusses des landwirthschaftlichen Vereins ernannt, am 4. Februar 1840 mit Vertretung des Polizeidirectors in Kassel beauftragt, am 25. März 1841 zum ordentlichen Referenten im Ministerium des Innern, am 6. April 1841 zum Mitglied des Gesammt-Staatsministeriums, am 29. April 1841 zum Ministerialrath und am 30. Juni 1843 zum Commissar bei den Stiftern Kaufungen und Wetter ernannt. Im Sommer 1845 wurde er mit der Vertretung Koch’s, des Ministers des Innern beauftragt. Am 21. März 1846 wurde er zum Referenten für die mehreren Ministerien gemeinsamen Angelegenheiten, auch für die Recurs- und Conflictsachen, sowie zur Mitwirkung bei Bearbeitung von staats- und bundesrechtlichen Fragen im Ministerium des Aeußern berufen. Zum provisorischen Vorstand des Ministeriums des Innern wurde S. zwar erst am 4. September 1847 ernannt; aber das Regierungssystem, welches seit Hassenpflug’s Rücktritt im Juli 1837 befolgt war, knüpfte sich vorzugsweise mit an Scheffer’s Namen. Am stärksten trat dasselbe hervor im Verbot des öffentlichen Gottesdienstes der Deutschkatholiken, den Ständen gegenüber von S. am 7. April 1846 gegründet auf die Unstatthaftigkeit einer Ausartung der Gewissensfreiheit. Auf Wunsch König Friedrich Wilhelm’s IV. von Preußen begab er sich zu diesem, um ihm über diese Angelegenheit Vortrag zu halten, zu diesem kam es jedoch aus zufälligen Gründen nicht. Jenes System zeigte sich ferner in auffallenderer Weise in der von S. am 17. November 1846 dem Landtage entwickelten Theorie, daß die Verfassung nicht das Repräsentativ-, sondern das Standesprincip enthalte. [679] Nachdem am 20. Januar 1848 S. auch mit Versehung des Justizministeriums beauftragt war, wandte sich in den Märztagen der Unmuth aller mit dem bisherigen Regierungssystem Unzufriedenen gegen S. Dieser war, obwohl krank, entschlossen, sich und die Seinigen mit der Waffe gegen etwaige persönliche Unbilden zu schützen; als ihm aber die sichere Kunde ward, der Kurfürst solle zu seiner Entlassung gedrängt werden, werde sie aber nur ertheilen, wenn er selbst darum bitte, so kam er diesem Wunsche im Glauben nach, dem Fürsten dadurch die Freiheit des Handelns zu geben. Nach Ertheilung der Entlassung am 8. März hielt er sich in der Nähe von Kassel, dann außerhalb Hessens auf und kaufte 1849 das Gut Engelbach bei Niederaula im Kreise Hersfeld, wohin er sich in ländliche Stille zurückzog. Aus dieser wurde er jedoch Ende des Jahres 1850 wieder hervorgeholt. Als die Truppen des wiederherzustellenden Bundestags in Kurhessen einrückten, wurde S. dem Civilcommissar Grafen Rechberg als Tertitorialcommissar beigegeben, eine Aufgabe, welcher er sich wegen ihrer Schwierigkeit, nach seinem Ausspruche, nur aus Treue gegen den Kurfürsten, aus Pflichtbewußtsein und Ueberzeugung unterzog. Er hatte in dieser Stellung u. a. die sog. Bequartierung solcher Personen zu leiten, welche die September-Verordnungen nicht befolgten. Dies ist ihm liberalerseits sehr verargt; doch hat er auch sich selbst mit Mannschaften mehrmals reichlich belegt. Auch seine Berathung des preußischen Commissars v. Uhden, auf dessen Veranlassung der Rechtszustand durch „provisorische Gesetze“ umgestaltet wurde, ist ihm liberalerseits sehr verdacht worden. Seine Leistungen in dieser Stellung fanden aber Anerkennung durch Verleihung sowohl des Commandeurkreuzes 2. Classe des kurfürstl. Wilhelmsordens am 19. Februar, als auch des österreichischen Ordens der eisernen Krone 2. Classe am 25. August 1851. An Hassenpflug’s Versuchen, der provisorischen Verfassung vom 13. April 1852 die vom Bundestag geforderte nachträgliche Zustimmung der auf Grund derselben berufenen Kammern zu verschaffen, betheiligte sich S. nur als Präsident der 2. Kammer und als Landtagscommissar. Mitglieder dieser Kammer haben später, bei Verhandlungen der 2. Kammer vom 1. Juli 1861, den Druck beleuchtet, unter welchem sie 1852 gestanden hätten, da S. durch Bedrohung mit Wiederholung der Bundesexecution auf ihre Abstimmung in der Verfassungsfrage einzuwirken versucht habe. Im übrigen bekleidete S. während der letzten Hassenpflug’schen Periode nur die am 14. Juli 1851 erhaltene Stelle eines Mitglieds des Disciplinargerichtshofs 2. Instanz. Nur auf wiederholten dringenden Wunsch des Kurfürsten entschloß er sich, die Aufgabe, an welcher Hassenpflug 1855 gescheitert war, fortzuführen. Am 25. August wurde er mit Versehung des Ministeriums des Innern beauftragt, am 13. September zum Mitglied des Gesammt-Staatsministeriums und 1856 zum Minister des Innern ernannt. Da es auch ihm nicht gelang, die Kammer zu den nöthigen Erklärungen zu bewegen, versuchte er am 15. Juli 1858 den Bundestag zu bestimmen, von letzteren abzusehen und die Verfassung von 1852 mit einigen Aenderungen zu genehmigen. Als aber die seit 1859 begonnene Wendung in der deutschen Frage alle bisherigen Bestrebungen der kurfürstlichen Regierung aussichtslos machte, wurde S. im Frühjahr 1859, auf seine dringende Bitte, wegen leidender Gesundheit pensionirt zu werden, als Minister entlassen, jedoch zur Verfügung gestellt. Er gab sich wieder der praktischen Landwirthschaft hin, nahm aber noch fortwährend regsten Antheil an den politischen Ereignissen. In dem nach Verkündigung der Verfassung vom 30. Mai 1860 lebhafter begonnenen Kampfe um die Wiederherstellung der Verfassung von 1831 trat S. einigemale hervor. Er traute Preußen nicht und glaubte in jenem Bestreben eine große Gefahr für die Selbständigkeit Hessens erblicken zu müssen, und um so mehr, als die Verhältnisse am kurfürstlichen Hofe ihm einem solchen Verlaufe [680] Vorschub zu leisten schienen. So suchte er im Januar 1862 durch mehrere offene Schreiben an die neue Wählerclasse der Großgrundbesitzer im Sinne der Regierung zu wirken und, als zum 3. Male die Wahlen nach der Verfassung von 1860 bevorstanden, stiftete er den zur thunlichsten Neutralisirung preußischer Einflüsse in Hessen bestimmten „Hessenverein“, dessen festere Organisation aber infolge von Schwierigkeiten, welche sich bei der Regierung ergaben, nicht zu Stande kam. Auch rief er die für die Verfassung von 1860 eintretende „Hessenzeitung“ des Professors Vilmar in Marburg ins Leben. Nach der Einverleibung Hessens trat er einigemale als Anhänger der althessischen Partei auf. Der preußischen kirchlichen Union abhold, unterzeichnete er 1873 und 74 Aufrufe zu Sammlungen für die gegen das neue Konsistorium renitenten hessischen Geistlichen. Auch ließ er sich 1876 von jener Partei im Wahlkreis Hersfeld als Candidat zum Reichstag aufstellen, trat jedoch zu Gunsten des ultramontanen Candidaten zurück. S. starb in Engelbach am 8. August 1879 infolge eines Blasenleidens. Er lebte seit 1828 mit einer Tochter des Hofgerichtsraths Wigand in Korbach in 51-jähriger glücklicher Ehe und hinterließ 2 Söhne und 6 Töchter. Nach allseitigem Urtheil war S. gradaus, bieder, furchtlos nach oben und unten, charakterfest und von ungemeinem Schaffensdrang. Sein Name ist aufs engste mit den Verfassungs- und Parteikämpfen der letzten Jahrzehnte Kurhessens verknüpft gewesen. – Durch vorstehende auf den glaubhaftesten Quellen beruhende Darstellung werden verschiedene Thatsachen und Urtheile von Zeitgenossen namentlich auch in den beiderseitigen Nekrologen berichtigt. Diese sind enthalten in: „Hessische Blätter“ (Melsungen) Nr. 549 und 550 vom 13. und 16. August 1879 und Nr. 589 vom 3. Januar 1880; Kreisblatt für den Kreis Ziegenhain Nr. 65, „Hessisches Wochenblatt“ Nr. 93, „Kasseler Tageblatt“ Nr. 220, „Köln. Ztg.“ Nr. 223, Bl. 2, „A. A. Z.“ Nr. 328, „Im neuen Reich“ vom 23. August 1879.
Scheffer: Friedrich Heinrich Ernst Leopold S., kurhessischer Staatsmann, war geboren am 21. December 1800 in Schrecksbach an der Schwalm im kurhessischen Kreise Ziegenhain als ältester Sohn des dortigen Pfarrers Karl