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Artikel „Storch, Nicolaus“ von Paul Tschackert in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 36 (1893), S. 442–445, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Storch,_Nicolaus&oldid=- (Version vom 21. Dezember 2024, 16:26 Uhr UTC)
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Storch: Nicolaus St., spiritualistischer Communist, † 1525. Nicolaus St. war um das Jahr 1520 Tuchweber in Zwickau, wo er sich religiöser Offenbarungen rühmte. Er ist zu seinen Meinungen unabhängig von Münzer, wahrscheinlich durch Einfluß der Lehre der Pikarden (sektirerischer Böhmen) gekommen; aber bald hatte er die Aufmerksamkeit Münzer’s so stark auf sich gelenkt, daß dieser erklärte, St. verstehe die Bibel besser als alle Priester und habe in Wahrheit den heiligen Geist. Bald richtete der in gewissem Ansehen stehende Schwärmer Conventikel und Winkelpredigten ein, und 12 Apostel und 72 Jünger wurden erwählt, um als erneuerte Apostel und Jünger Jesu zu wirken; als der „Herr und Meister“ dieser Copien der Umgebung Jesu aber wurde Münzer angesehen (Seidemann S. 11). Der Führer der Laien war indeß St., und man sprach von den „Storchischen“ als einer besonderen Gemeinschaft. Energische Opposition wurde ihnen gemacht, als der Rath von Zwickau am 16. Mai 1521 den Prediger Nicolaus Hausmann von Schneeberg, einen treuen Freund Luther’s, zum Pfarrer berufen hatte. Ende 1521 veranstaltete dieser ein Verhör mit den Storchischen, worüber der Zwickauer Chronist Wilhelm Schmiedt in „Descriptio urbis Cycneae“ (Zwickau 1633, hrsg. v. Tobias Schmidt in 4°, S. 217 ff.) meldet: „Den 26. December (1521) sind etliche Bürger allhie als die Storchischen und ihre Anhänger auf die Pfarre geladen und citirt worden, wegen etlicher irrigen Stücke, die Taufe und den Ehestand belangend. Die sind allda vom Pfarrer … in Gegenwart aller Priesterschaft, der beiden Bürgermeister und anderen des Rathes, examiniret und verhöret worden. Welche dann nicht wohl bestunden mit ihrer irrigen Opinion, so sie von ihrem Meister Nicolaus St. gelernt hatten. Derselbe sollte hernach auch vorstehen [d.i. erscheinen,], auf etliche irrige böhmische Stücke Antwort [zu] geben; er ist aber nicht erschienen, sondern sang ein Liedlein, das heißt: Drehe Dich aus, es möcht’ Dir sonst übel bekommen u. s. w. Er hatte auch einen Schüler von Neustadt unter Wien in den Irrthum verführt, welcher nicht ablassen wollen, es würde denn sein Meister convincirt.“ Bald darauf im Anfang des Jahres 1522 sind „etliche aus der Stadt,“ wie Tobias Schmidt in seiner „Chronica Cycneae“ (Zwickau 1656, S. 285) meldet, „wegen vieler bösen Beginnen und Meinungen, so sie von Münzer und Storchen gelernt hatten, denen sie auch festiglich angehangen, verwiesen worden.“ St. war inzwischen mit seinen Geistesverwandten Marcus Stübner und Marcus Thomä nach Wittenberg gegangen, sie drei als die in der Reformationsgeschichte berüchtigten „Zwickauer Propheten“. Warum sie gerade [443] nach Wittenberg gingen? Offenbar weil sie bei Karlstadt, welcher damals während Luther’s Abwesenheit den entscheidenden Einfluß ausübte, auf Unterstützung rechneten. Am 27. December 1521 sind sie nach einem Briefe Melanchthon’s an den Kurfürsten (Corp. Ref. I, vgl. Seckendorf I, 592 und Strobel, Miscellanea 5, p. 126) in Wittenberg eingetroffen. Storch’s Gedanke war, ein Reich Gottes in irdischer Herrlichkeit darzustellen; der Realisirung dieser Idee sollten seine Offenbarungen dienen, deren er sich rühmte, und als der Weg dazu mußte die Umänderung der bestehenden Gesellschaftsordnung gelten. Dies ist die principielle Stellung Storch’s. Man hat ihn zum Urheber des Wiedertäuferthums gemacht. Das ist unrichtig; ihm lag an dem Artikel der Taufe überhaupt wenig oder nichts; denn als Marcus Thomä bei Melanchthon auf Verwerfung der Kindertaufe drang und diesen dadurch in große Verlegenheit brachte, rief St. aus: „ey, was liegt denn an diesem Artikel!“ (Corp. Ref. I, p. 553; Seckendorf I, 193). Es ist bekannt, wie durch Luther’s unerwartete Rückkehr von der Wartburg nach Wittenberg im März 1522 die Schwarmgeister verscheucht wurden. Nicolaus St. begab sich nach Thüringen und wurde hier ein Haupturheber des Bauernkrieges. Unterrichtet werden wir über diese seine Thätigkeit durch die Schrift Marcus Wagner’s „Einfältiger Bericht, wie durch Nicolaum Storcken Die Aufruhr in Thüringen und umliegenden Revier sei angefangen worden“ (1597 in 8°), aus welcher in (Tentzel’s) „Monatlichen Unterredungen“ Jahrg. 1694 (Leipzig 8°), S. 283 ff. Auszüge vorliegen. Wagner erzählt (nach Tentzel’s Auszuge), „wie anno 1523 Nicolaus St., der falsche Prophet, aufgestanden zu Alich und weiter theils im Erfurtischen, theils im erzbischöflich mainzischen Gebiete und umliegenden Revier sich zu den Bauern in ihre Zusammenkünfte und öffentliche Gelage gesetzt und sie durch seine süße, innerliche, offenbarische Predigten zum Aufruhr bewegt.“ Dazu seien dann Thomas Münzer zu Alstett, Pfeiffer um Heldrungen, Getzer um Mühlhausen, Strauß zu Eisenach und andere Führer des Aufstandes hinzugekommen. Sie hätten communistische Artikel verbreitet, die, weil sie auch die Gedanken Storch’s enthalten, hier nach dem Auszuge Tentzel’s (S. 286) ihre Stelle finden mögen. Sie lehrten, 1) daß man kein Eheverlöbniß, es geschehe heimlich oder öffentlich, halten solle; 2) daß der Ehestand nicht sei ein Band des menschlichen Geschlechts, also daß Mann und Weib bis in den Tod bei einander zu wohnen und zu beharren verbunden wären; 3) sondern ein jeglicher möge Weiber nehmen, so oft es ihm im Fleisch ankäme, und die Brunst in sich regen würde, und mit ihnen seiner Willkür nach in Fleisches-Vermischung leben. – 4) Daß alles gemein sein soll; denn Gott habe die Menschen zugleich nackend auf die Welt geschaffen und ihnen alles zugleich, was auf Erden ist, unterworfen und das dominium über [die] Fische im Meer und Vögel unter dem Himmel gegeben. – 5) Dannenhero soll man alle Obrigkeit, beide geistliche und weltliche, entweder ihres Amtes entsetzen oder aber mit dem Schwerte tödten etc. – Bei diesem Artikel steht [bei Wagner a. a. O.] ein ganzer Sermon, damit St. die Leute aufzuwiegeln pflegte, drei Blätter lang. – 6) Kein Kind soll man mit dem äußerlichen Wasser begießen, noch in die Kirchen bringen, [es] taufen zu lassen. – 7) Das äußerliche göttliche hörbare Wort, das die Pfaffen predigen, und die tägliche Messe ausgöcken [sic] für die Lebendigen und die Todten, ist eitel Gaukelwerk. – 8) Ein jeglicher Mensch kann das Gesetz Gottes erfüllen; denn ein jeglicher hat einen freien Willen und kann das Gute annehmen und das Böse verwerfen. So nun das Gesetz von Gott gegeben, so ist’s auch in des Menschen Willen, dasselbige zu halten.“ – Danach war also St. durch und durch Spiritualist, welcher sich aber nicht mit der theoretischen Verwerfung der äußeren Kirche und ihrer Gnadenmittel begnügte, sondern auf Grund des freien „Geistes“ eine [444] vollständig neue Gesellschaftsordnung, nämlich die der absoluten Zügellosigkeit, einzuführen bemüht war, die Verwerfung der Kindertaufe hatte in seinem Programm nur die Bedeutung einer untergeordneten Folgerung aus seiner spiritualistischen Grundanschauung; St. wirkte als anarchistisch-communistischer Demagoge. – Weitere Nachrichten über ihn bringt „Enoch Widtmann’s Chronik von Hoff“, excerpirt in „Fortgesetzte Sammlung von Alten und Neuen Theolog. Sachen“, Jahrg. 1736 (Leipzig 8°), S. 16 ff. Da authentische Nachrichten über St. außerordentlich spärlich vorliegen, dieser Bericht aber allem Anschein nach zuverlässig ist und wegen seiner großen Anschaulichkeit noch besonders Beachtung verdient, so setzen wir ihn wörtlich hierher. „Obengedachter St., so von Wittenberg, wie zuvor gemeldet, sich gepackt, durchstreifte diese Zeit über [d. i. 1522 bis 1524] andere Städte und Orte, sein teuflisch Unkraut bald da bald dort emsiglich ausstreuend; kam auch anno 1524 hierher gen Hof in der Gestalt, als zöge er seinem Handwerke nach und arbeitete eine Zeit lang bei Simon Klinger, Bürgermeistern und Tuchmacher allhier, da denn Herr Vau. Goditza sel. Gedächtniß gleich sein Handwerk lernte und den redlichen St. bei gedachtem Klinger zum Werkgesellen hatte. Da nun St. ein wenig erwärmte, ließ er seinen Geist fliegen und wollte wie auch anderswo die Leute zu sich ziehen und bekehren, bildet dem einfältigen Mann und Handwerksleuten seine Grillen ein, disputirt auch mit den Gelehrten von seiner neuen Lehr, kriegte bald seinen Anhang, nicht allein seines Handwerks Knappen und Tuchmacher, sondern auch etliche Mönche, item Hans Hauptmann und Hans Lewen. Dieselben fielen ihm mehreren Theils darum bei, weil er die Schrift wußte anzuzeigen und, in welchem Capitel des Alten und Neuen Testaments diese oder jene Sprüche stünden, ausdrücklich vermeldete und doch vorgab, er wäre ein Laie und könnte weder lesen noch schreiben; es wäre ihm alles von Gott selbst eingegeben und befohlen, er sollte andere lehren und Jünger aussenden, wiewohl [sic statt „wieviel“, wie man im Texte liest] verständige Leute es dafür hielten, er würde etwa aus einem Kloster entsprungen sein.

„Zudem rühmte er sich, wie ihm der Engel Gabriel viel und oft leibhaftig erschienen und ihm zeigte, was er thun sollte; ja, er versorgt ihn mit der allerbesten Speise und Trank, also daß er viel und oft den besten Wein mancherlei Art neben guter wohl zubereiteter Speise seinen Glaubensgenossen fürtrug und sie ihm nicht ohne Ursache anhängig wurden. Ueber das alles (sintemal er der schwarzen Künste berichtet war oder sonst solche Gesellen bei sich hatte) blendete er die Leute in den Häusern mit seinem Engel Gabriel oder Beelzebub, ließ sich bisweilen in herrlichem Schmuck und Zierde sehen, als wäre es der Engel, redete mit den Leuten, befahl ihnen bald dieses bald ein anderes seiner Lehre gemäß zu thun, also daß fast die ganze Stadt mit seinen Teufeln bethört und irre gemacht wurde, und gute einfältige Leute diesen St. für einen Propheten hielten, dem sich Gott selbst offenbart und durch seinen Engel Gabriel wunderbarlicher Weise speisete und tränkete, wie vor Alters dem Propheten Eliam und Daniel. Da schrieb jedermann solches als eine denkwürdige Geschichte aus und wußtens nicht, daß es ein lauter Betrug war, sintemal er, St. und seine Rotte (neben seinen zwölf Aposteln, die er allhier gesammelt und in ganz Deutschland aussenden wollte), den Bürgern das Gebratene und andere Speise bei dem Feuer und über Tisch, weil sie sich unsichtbar gemacht, eine Zeit lang weggetragen und den besten Wein und Bier aus dem Keller gestohlen und im Namen, als wäre es ihnen vom Engel Gabriel zugetragen, weidlich geschlemmt hatten, so lange, bis sie sich, als man zwar etliche Mal auf sie gelauert und über dem Diebstahl sowohl abgeschmiert, wiederum heimlich aus dem Staube gemacht und an andere Orten gemacht haben.

[445] „Obwohl aber viel eremelter St., weil er noch zu Hof war, sich Gottes und seines Engels Gabriel’s sehr rühmte, als der ihn ernährte und alles das, was er thun und lassen sollte, auch wie die Schrift zu verstehen wäre, durch deutliche Gesichte erinnerte: jedoch ließ Gott diesen Lügenpropheten in ein langwierig Fieber fallen, in welchem (weil es ihm zu lang währen wollte, und er nicht gern an einem Ort in die Länge bliebe) er gräuliche Gotteslästerungen wider Gott redete. Denn wiewohl er anfänglich vorgab, Gott hielt ihn für seinen lieben Sohn und züchtige ihn mit Krankheit, damit die Leute desto mehr auf ihn sähen und seinem göttlichen, oder vielmehr teuflischen, Wandel beifallen sollten – da aber das Fieber nicht nachlassen wollte, wurde er ganz ungeduldig, lästerte und fluchte Gott im Himmel droben mit vielen Sacramenten und anderen gräulichen Worten, es sollte und müßte ihm Gott helfen, er wäre sonst kein rechter Gott, und er wollte seiner verleugnen. Als er aber von seinem Meister und anderen derselben gestraft und zur Geduld, Demuth und Gebet ermahnt wurde, antwortete er, man muß Gott im Himmel mit Gewalt überschmieren und überpichen, wenn er sich mit Zeichen und Wundern, auch mit geringer Hülfe gegen den Menschen erweisen solle; sonst wann man so gelind mit Bitten und Beten oder Betteln mit ihm handelte, so thut er kein gut. Aus welchem allen wohl zu sehen war, aus welches Geist[es] Antreiben der höllische St. solche Worte geredet. Er behielt aber nichts desto weniger bei seinem Anhang ein großes Ansehen, als wäre etwas Sonderliches hinter ihm und [als] lehrete er das Wort Gottes rein wie etwa Doctor Luther, bis er endlich anstieß und den Abschied hinter der Thüre nahm.“

Derselbe Autor berichtet zum Schluß, daß St. während des Bauernkrieges 1525 heimlich nach München entrann und dort noch in demselben Jahre im Spital als ein unbekannter Fremdling starb. (Vgl. dazu die bei Tentzel a. a. O. S. 289 angeführte Relation des D. Ambrosius Rudenius, professoris theologiae in Jena, über St.)

Nach der Angabe des obengenannten Wagner (bei Tentzel, a. a. O. S. 287) existirte auch ein Bildniß Storch’s „mit scheubelichtem Haupte, klotzenden Augen, sprecklichter und langer Zunge“ und der Besitzer desselben, ein lutherischer Pfarrer, Chyomusus (Schneesing) zu Friemar, welcher St. persönlich kannte, urtheilte darüber: „Ich kann nicht wissen, ob er einen sonderlichen fliegenden Geist gehabt, weil er so behaglich, freundlich und demüthig mit den Leuten umging; konnte die Wort also versetzen und sich andächtig und heilig stellen, als wäre er ein Engel Gottes. Es war eine ziemlich magere Person, die sich gar nicht auf der Welt Pracht gab, sondern einfältig in einem langen grauen Rocke ohne Falten einher gezogen sich schauen ließ, einen breiten Hut auf dem Haupte tragend, aber ein unkeusch Mensch.“

Zu vgl. die oben erwähnte Zwickauer Chronik von Wilhelm Schmiedt (1633), dazu Chronica Cycneae von Tobias Schmidt (Zwickau 1656, 4°) und die beiden ebenfalls citirten Werke Wagner’s und Widtmann’s; auch Seidemann, Thomas Münzer (Leipzig 1842), S. 10 ff. und S. 110 und Erbkam, Gesch. d. prot. Sekten (1848), S. 501 ff.