Christliche Ethik auf lutherischer Grundlage/Die von Gott geordneten Gemeinschaftsformen, in denen und für die der Christ lebt, und in denen er seine Aufgabe zu erfüllen hat, sie fördernd und von ihnen gefördert, im Wechselverhältnis

« Die von Gott gesetzten Grundbeziehungen des Christen zu Gott, zu sich selbst, zu dem Nächsten (der Gemeinschaft) Friedrich Bauer
Christliche Ethik auf lutherischer Grundlage
Die individuelle Ausprägung des göttlichen Ebenbildes in der Lehre von der individuellen Freiheit des einzelnen Christen und der Kirche »
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2.
Die von Gott geordneten Gemeinschaftsformen, in denen und für die der Christ lebt, und in denen er seine Aufgabe zu erfüllen hat, sie fördernd und von ihnen gefördert, im Wechselverhältnis.


§ 52.
Allgemeines.

 Der Mensch ist zur Gemeinschaft geschaffen; jeder einzelne ist ein Glied derselben und durch von Gott geordnete Bande mit dem ganzen Menschengeschlecht der Gegenwart, der Vergangenheit und der Zukunft verbunden. Jedes Individuum nimmt in dem großen Ganzen der Gemeinschaft seinen besonderen Platz ein und wirkt auf dieselbe fördernd oder hindernd ein, sowie es von derselben fördernde oder hindernde Einwirkungen erfährt. Der Mensch ist in einen beständigen Wechselverkehr mit seinem ganzen Geschlecht gesetzt, das als ein Organismus, als ein lebendig gegliedertes Ganzes erscheint. Der Organismus besteht aber in der Mannigfaltigkeit und ist doch eine Einheit. Diese Mannigfaltigkeit hat in den Grundformen der Gemeinschaft Gott selbst gesetzt. Es sind Unterschiede und Einheiten, welche mit der Natur gesetzt sind, von Gott gesetzte Naturbestimmtheiten. Dahin gehören:

 1. Der Unterschied der Geschlechter und die darauf beruhende Einheit in der Ehe und die aus ihr hervorgehende Familie,

 2. die Stammes-, Volks- und Völkergemeinschaften in ihrer Mannigfaltigkeit und Einheit und die damit gesetzte Gemeinschaft,

 3. die aus der Stammes- und Volksgemeinschaft auf geschichtlichem Wege gewordene, zeitliche Zwecke verfolgende Rechtsgemeinschaft des Staates, ein Produkt freien menschlichen Thuns unter göttlicher Leitung, und endlich

 4. die auf übernatürlicher Offenbarung beruhende, ewige Zwecke im Auge habende, religiöse Gemeinschaft der heiligen Kirche.

 Für die gesonderte Betrachtung eignet es sich, sechs solcher Formen aufzustellen: 1. Ehe, 2. Familie, 3. Volk, 4. Staat, 5. Menschheitsgemeinschaft, 6. Kirche, lauter Formen der Gemeinschaft, die alle entweder| auf natürliche oder übernatürliche, mittelbare oder unmittelbare Weise ihren Ursprung von Gott haben und ausdrücklich von Gott sanktioniert sind. Jede dieser Gemeinschaftsformen hat ihre eigne Ordnung und ihre sich von allen andern unterscheidende Form. Diese Ordnung ist eine göttliche, mittelbar oder unmittelbar, und bildet eine wohlthätige Schranke für den einzelnen, die er ohne Sünde nicht überschreiten kann, – eine stetige Übung in der Verleugnung seiner selbst. Aber nicht bloß das, sondern sie legt ihm auch besondere Pflichten auf, in deren Erfüllung er zur Ausbildung der betreffenden Tugenden kommt. Die genannten Gemeinschaftsformen beschränken und fordern aber nicht bloß, sondern geben und gewähren auch etwas, sie geben Rechte und Vorteile und haben als Gemeinschaftsganzes ihre Aufgaben und Verpflichtungen gegen ihre einzelnen Glieder. Wir haben hier eine gegenseitige Relation, ein Wechselverhältnis, des einzelnen Gliedes zum Ganzen und des Ganzen zum einzelnen Gliede. Da der Mensch zur Gemeinschaft geschaffen ist, so kann der einzelne ohne die Gemeinschaft seine Lebensaufgabe nicht erfüllen und nicht zu seiner Vollendung kommen; ja die ganze Menschheit kann ihr Ziel nicht erreichen, weder zeitlich noch ewig, ohne die Gemeinschaftsformen. Darum verlangen sie die volle Hingabe des einzelnen an sie und erzeugen so im günstigen Falle die Tugend des Gemeinsinns, welcher eine Frucht der Entselbstung ist. Jedoch ist die den einzelnen der Gemeinschaft gegenüber gestellte sittliche Aufgabe nur dann recht gefaßt, wenn als unabänderlicher Grundsatz feststeht: die wahre, ewige Wohlfahrt des einzelnen steht höher als die äußere, zeitliche, irdische, vorübergehende Wohlfahrt des Ganzen, tritt mit dem wahren Wohl der Gemeinschaft weder in Konkurrenz noch in Widerspruch und darf dem Ganzen der Gemeinschaft nie zum Opfer gebracht werden, wenn auch sonst Gut und Blut der Gemeinschaft zum Opfer fallen müssen. Sollte es geschehen, daß der einzelne zum Wohl des Ganzen moralisch zu Grunde ginge, so wäre dies der göttlichen Absicht widersprechend, welche die genannten Gemeinschaftsformen zum Förderungsmittel für das Wohl des einzelnen hat geben wollen. So herrliche Beispiele voll aufopferndem Gemeinsinn das heidnische Altertum auch aufzuweisen hat, so geht doch seine Anschauung dahin, daß der einzelne im Gemeinwesen auf- und untergehen müsse. Der Apostel Paulus streift mit dem Heroismus seiner Liebe an die Grenze dieses verwehrten Gebietes, nämlich des Aufgebens des eignen Heils zu Gunsten seiner Brüder nach dem Fleisch, aber nur| um an dieser Grenze umzukehren und zu zeigen, daß das im Christentum eine Unmöglichkeit geworden sei, Röm. 9,3; Exod. 32, 32. Nach dem Christentum steht das Wohl der Gesamtheit auf dem wahren Wohl des einzelnen und sind beide Interessen eins. Die Gemeinschaft gewährt dem einzelnen den Mitbesitz, Mitgebrauch und Mitgenuß aller Kräfte, Güter und Gaben, welche die Gesamtheit hat, zur Förderung seines Wohls und zur Erreichung seiner speziellen Aufgabe. Sie legt aber dem einzelnen auch Pflichten und Opfer auf und muß sich durch Zucht gegen Mißbrauch von seiten ihrer Glieder schützen. Die speziellen Tugenden, welche dem Gemeinsinn entsprießen, sind: gegenseitige Achtung und Liebe der Glieder einer Gemeinschaft. Diese Gesinnung wächst nur auf dem Boden des Christentums. – Eine Frucht des Christentums ist die sechste Gemeinschaftsform, die Kirche, welche eine Sonderung und Sammlung, eine Auswahl aus der Menschheit ist, berechnet auf einen ewigen Bestand, während alle andern Gemeinschaftsformen untergehen oder vielmehr verklärt im Reich Gottes wieder erscheinen: die heilige Ehe, die heilige Familie, das heilige Volk Gottes, und in welchem die erlöste und auserwählte Menschheit mit ihrer Mannigfaltigkeit als eine Einheit des Leibes Christi erscheint; in ihm ist das wiederhergestellte und vollendete Bild Gottes im ganzen sowohl, wie auch in seinen einzelnen Gliedern zu schauen.


§ 53.
Die Ehe.
 Die Voraussetzung der Ehe, der Geschlechtsunterschied (cf. § 14). Zur Gottes-Ebenbildlichkeit gehört der mit der Schöpfung gesetzte Unterschied von Mann und Weib. Das Weib trägt ebenso wie der Mann das Ebenbild Gottes an sich. Beide sind bestimmt, dasselbe auf alle ihre Nachkommen fortzupflanzen. Das Ebenbild Gottes erscheint in beiden Geschlechtern in seiner wesentlichen Einheit; denn das Weib ist nicht von geringerer Qualität geschaffen als der Mann; aber das göttliche Ebenbild erscheint in zwei Typen oder Grundformen, in die sich das ganze Geschlecht gleichmäßig teilt. Jedes von beiden Geschlechtern hat seine besondern Gaben, Kräfte und Vorzüge, die sich gegenseitig ergänzen. Beide haben eine gemeinsame, ewige Lebensaufgabe, und sind daher beide vor Gott gleich, Gal. 3, 28; 1. Petr. 3, 7. Alle ohne Unterschied des Geschlechts sind von Christo erlöst und| sollen zum Ebenbild Gottes erneuert werden. Das ist ihre ewige Bestimmung.

 Aber die zeitliche Bestimmung und Lebensaufgabe ist eine verschiedene. Der Mann hat einen andern zeitlichen Lebenszweck als das Weib. Darnach hat die göttliche Weisheit den Leib und in gewissem Sinne auch die Seele verschiedentlich eingerichtet. Daraus ergeben sich die Eigentümlichkeiten beider Geschlechter, die sich gegenseitig ergänzen. In der Vater- und Mutterschaft ist die ganze Eigentümlichkeit ausgesprochen. Wenn den Mann energischer Wille und Thatkraft ziert, so ist hingebende Milde, zarter Sinn und Anmut die Zierde des Weibes; wenn dort der Verstand voransteht, so herrscht hier das Gefühl vor; wenn der Mann mutiger ist, so ist das Weib klüger; wenn der Mann fürs öffentliche Leben geschaffen ist, so ist das Weib für die Stille des Hauses geschaffen. Wenn der Mann die Sorge des Erwerbes hat, so hat das Weib die Aufgabe, das Erworbene in edler Häuslichkeit zusammenzuhalten. Gilt es dem Manne, ein Leben in hartem Kampf zu bestehen, so ist es des Weibes Sache, in stiller Geduld und Sanftmut die Widerwärtigkeiten und die Last des Lebens mit dem Manne zu tragen und in den ermüdenden täglichen Geschäften frisch zu bleiben.

 Es hat jedes von beiden Geschlechtern auch seine besondern Schwächen und Gebrechen. Sündigt der Mann durch harte Behandlung, so sündigt das Weib nicht weniger mit der stechenden Zunge. Ist der Mann zu schweigsam, so ist das Weib zu zungenfertig. Das Weib ist leidenschaftlicher als der Mann, auch leichter verführt als er, es artet schlimmer aus, es kann leichter zum Teufel werden. Oft tauschen zu beider Schande die Geschlechter ihre Rollen, der Mann ist weibisch, und das Weib ist männisch (Karikatur). Die Sünde hat beide Geschlechter entstellt, und zwar besonders ihr gegenseitiges Verhältnis.

 Christus hat beide Geschlechter und damit die ganze Menschheit zu Ehren gebracht; indem er selbst Mensch geworden ist, hat er die Ehre des Mannes wiederhergestellt. Dadurch, daß er aus dem Leib eines Weibes seine Menschheit nahm, hat er die Ehre des Weibes wiederhergestellt. Er hat die Frauen geehrt wie die Männer, indem er diese wie jene erwählte zu seinen Jüngern und Nachfolgern. Die Frauen zeichnete er um ihrer größeren Treue am Kreuz willen dadurch aus, daß er ihnen nach seiner Auferstehung eher erschien als den Männern. In Christo haben beide Geschlechter ihr Ideal und Vorbild,| das weibliche Geschlecht hat daneben, und mit Beachtung des Abstandes von ihrem großen Sohn, auch in der Jungfrau Maria ein Vorbild.


§ 54.
Die Ehe. Allgemeine Gesichtspunkte.

 a. Die göttliche Einsetzung der Ehe. Die Ehe ist nach Erschaffung des Weibes im Paradies eingesetzt worden vor dem Sündenfall, Gen. 2, 21–25: „Darum wird ein Mensch Vater und Mutter verlassen und an seinem Weibe hangen, und sie werden sein ein Fleisch“; Gen. 2, 18: „Und Gott sprach: Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei, ich will ihm eine Gehilfin machen, die um ihn sei.“ v. 22: „Und Gott, der Herr, baute ein Weib aus der Rippe, die er vom Manne nahm und brachte sie zu ihm. Da sprach der Mann: Das ist doch Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch.“ Matth. 19,4–6: „Was Gott zusammengefügt hat, das soll der Mensch nicht scheiden.“ Dazu gehört auch der Ehesegen, Gen. 2, 22; 1, 27. 28: „Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und machet sie euch unterthan.“

 b. Bedeutung der Ehe. Sie ist die Grundlage aller menschlichen, natürlichen und sittlichen Lebensgemeinschaften, die Basis der Familie, des Volkes, der Staaten und, in gewissem Sinne, der Kirche (2. Tim. 1). Das Wohl der Familien, Staaten, Völker und der Kirche hängt großenteils von der Beschaffenheit der Ehen ab. Darum muß sie stets ein besonderes Augenmerk des Staates wie der Kirche sein. Es kümmert sich um sie Gott und der Teufel, beide bauen ihr Reich durch die Ehen.

 c. Begriff, Wesen und Zweck der Ehe. Die Ehe ist eine öffentliche, für die ganze Lebenszeit geschlossene Verbindung Eines Mannes und Eines Weibes zur engsten Gemeinschaft des Leibes und Lebens. Die Ehe ist kein Gebot, sie bedarf desselben nicht und läßt sich nicht gebieten. (Sittliche Forderung ist sie aber dann, wenn die Versuchung der Hurerei eintritt, 1. Kor. 7, 2.) Der Zweck der Ehe ist gegenseitige Hilfeleistung, Geschlechtsgemeinschaft, Kindererzeugung. Der erstgenannte ist der allgemeinste. Es gibt wirkliche richtige Ehen, bei denen nur der erste Zweck, und solche, bei denen nur die ersten beiden Zwecke erreicht werden. Es gibt Ehen, die auf dem Sterbebett (Anerkennungen eines Thatbestandes u. dergl.) geschlossen werden, auf dem Krankenbett, im Alter, ohne daß auf sie ein Tadel| fällt. Ist die Ehe Kaiser Heinrichs II. zu verwerfen? Seine Gemahlin Kunigunde machte ihm bei der Heirat zur Bedingung, daß sie als Geschwister beisammen lebten, was er auch einging. Sie ist als unnatürlich zu verwerfen, denn die Ehe macht ein Fleisch und nicht Geschwister. Anders steht die Sache bei einer Heirat im Alter. Bei einer solchen wird doch der erste Zweck erfüllt, der der Hilfeleistung. Die Doppelseitigkeit der Ehe liegt in den beiden Ausdrücken „Ein Fleisch“ und „Eine Hilfe“. Es ist die Ehe ein natürliches, ein sittliches und ein rechtliches Verhältnis. Das natürliche Verhältnis ist dem sittlichen untergeordnet, darum herrscht darin nicht der bloße Naturtrieb, sondern die Vernunft, der freie Wille und das Gewissen, 1. Petr. 3, 7. Dieses Verhältnis ist zugleich auch ein rechtliches, die Ehe ist ein bürgerlicher Vertrag, nach den bestehenden bürgerlichen Gesetzen geschlossen, mit rechtlichen Bestimmungen über Vermögen, Gütergemeinschaft oder aufgehobener Gütergemeinschaft u. dergl. Solche Eheschließung ist Sache der Obrigkeit. Auch eine bloß vor der Obrigkeit geschlossene Ehe ist eine wahre, vor Gott gültige Ehe. Die heidnischen Ehen sind wahre und natürliche sittliche Ehen. Die Eheschließung hat aber auch noch ein höheres Moment, das religiöse. Bei Juden und Christen werden die Ehen eingesegnet.

 In neuerer Zeit besteht teilweise die Tendenz, sich mit der bloß bürgerlichen Eheschließung zu begnügen. Eine sittlich rechtsgültige Ehe kann eine in dieser Weise geschlossene sein, aber eine christliche nicht, wenn sie nicht die christliche Weihe und den göttlichen Segen der Kirche bekommt, wenn nicht eine kirchliche Kopulation folgt. Rechte Ehen sind im Himmel geschlossen.

 d. Die Wesenseigenschaften der Ehe sind:

 1. Die Öffentlichkeit. Darum die öffentliche Verkündigung und kirchliche Proklamation, damit das öffentliche Urteil, wenn keine Einsprache erfolgt, das zu schließende Bündnis als ein sittliches erkennen und anerkennen könne. Es gibt heimliche Ehen, Winkelehen, die sind mit dem Makel des Unerlaubten behaftet, auch wenn sonst völlige gegenseitige Treue geübt wird (Pflichtehen). Man wird letztere milder beurteilen – namentlich wenn große äußere Hindernisse der Eheschließung bestehen (was in unsern Tagen nicht mehr der Fall ist) – aber nicht dulden.

 2. Die Unauflöslichkeit für die Lebenszeit. Matth. 19,6: „Was Gott zusammengefügt, das soll der Mensch nicht scheiden.“| Röm. 7, 2: „Das Weib, dieweil der Mann lebt, ist sie an ihn gebunden durch das Gesetz; so aber der Mann stirbt, so ist sie los vom Gesetz, das den Mann betrifft.“ So ist es von Anfang an von Gott gemeint gewesen. So finden wir es auch in der guten Zeit der Völker. Bei den Germanen war der Ehebund nach Tacitus heilig und unauflöslich; bei den Römern kam in den ersten Jahrhunderten ihres Staatslebens kein Ehebruch vor, und selbst bei den Griechen waren die ursprünglichen Grundsätze so rein und streng wie bei den Germanen. Wenn Moses einen Scheidebrief erlaubt hat, so geschah es um des Herzens Härtigkeit willen. Christus hat die Ehe in ihrer ursprünglichen Reinheit wiederhergestellt, Matth. 19, 8. 9. Nur eine Ausnahme statuiert der HErr, wenn Ehebruch stattfindet, Matth. 19, 9, weil da die Ehe faktisch aufgelöst ist, auf eine Weise, die nicht wieder gut zu machen ist.

 3. Die Monogamie. Ein Mann und Ein Weib, das liegt in dem Wesen und in der Idee der Ehe; das verlangt die Würde des Menschen. Jedes Zuwiderhandeln ist eine Verletzung der Schamhaftigkeit, Matth. 19, 5. Die Hingebung in der Ehe ist nur dann eine sittliche, mit der Würde der beiden Ehegatten verträgliche, wenn sie eine ausschließliche ist. Selbst bei den Heiden war dies anerkannt. Bei Griechen wie Römern (auch den Germanen) finden wir die Monogamie als Regel und ursprüngliche Einrichtung. Später ist freilich eine tiefe Versunkenheit im Heidentum eingetreten. Bei den Griechen finden wir das Institut der Nebenfrauen (teilweise auch bei den Deutschen). Im Morgenland ist die Vielweiberei daheim, selbst bei den Patriarchen kommt sie vor; bei David hält sie noch ein gewisses Maß, bei Salomo überschreitet sie alle Grenzen. Sie kann in keinem Fall gebilligt werden, wenngleich die göttliche Erziehung eine gewisse Nachsicht in diesen Stücken gewährte.

 e. Die Erfüllung der Ehe nach ihrer Idee in der christlichen Ehe. Wenn Christen, getaufte, im Wort Gottes unterwiesene Personen, eine Ehe schließen, wenn sie den göttlichen Segen auf sich herabflehen und empfangen, so gibt das von vornherein eine Weihe, welche heidnische und jüdische Ehen nicht haben können. Wenn aber Christen ihren wahren Beruf erkennen, sich in ihrer Ehe gegenseitig zum Himmelreich zu fördern, so wird sie eine segensreiche Verbindung ohnegleichen. Eine Abbildung und Darstellung göttlicher Gedanken wird aber die Ehe, wenn ihre höchste Idee erfaßt und verwirklicht wird, sei es auch nur annäherungsweise. Die Ehe hat ihr ewiges Urbild in dem Ehebund, in welchem| Christus mit seiner Gemeinde, der Kirche, steht, ein tiefes Geheimnis, Eph. 5, 30. 32. Schon im Alten Testament begegnet uns dieses Verhältnis Gottes zu Israel, Hosea 2, 19. Alle Untreue gegen Jehova, namentlich die Abgötterei, ist Ehebruch und Hurerei, Ezech. 16. Das Hohelied ist eine ganz wunderliebliche Weissagung auf dieses Geheimnis und zugleich die reinste, idealste Auffassung ehelicher und bräutlicher Liebe. Es ist eine Ausführung des 45. Psalms. In diesem Vorbilde liegen alle christlichen Anforderungen an die christlichen Eheleute. Sie sollen ebenso lieben, so völlig, so ausschließlich und unauflöslich, so heilig und heiligend, wie Christus seine Gemeinde liebt. (Löhe Hausbuch I, 6. Gebot; Eph. 5, 22–27.)

 f. Glück und Wehe des Ehestandes. Unter den irdischen Glücksgütern gibt es kaum ein höheres als das häusliche Glück eines reinen und christlichen Ehestandes. Es ist beschrieben Psalm 127 und 128. Ein Sprichwort sagt: „Eigner Herd ist Goldes wert.“ Eine edle Häuslichkeit, die aber wie ein Garten mit Fleiß von beiden Eheleuten gepflegt werden muß, ist eine unerschöpfliche, nie versiegende, immer erfrischende Quelle der reinsten Freuden. Im Schoß der Familie ruht der Mann aus von des Tages Last und Hitze und findet Erquickung in den Stürmen und Leiden dieses Lebens, und eben darin eine Quelle neuen Mutes und neuer Kraft. Die häusliche Gemeinschaft belohnt das Weib für die ermüdenden häuslichen Geschäfte, für das Unbedeutende und Einerlei ihres Berufs. Sie findet darin Erhebung und Stärkung für ihre beschwerliche Lebensaufgabe. Hier findet sich die einfachste, edelste und wohlfeilste Form der Geselligkeit. Aus dem Schoße des Familienlebens entspringen die edelsten und schönsten Tugenden, wie auch darin der mächtigste Schutz gegen Gemeinheit und Entartung des Menschen liegt. Das Familienleben besserer Art ist der fruchtbarste Boden für die Erziehung des nachfolgenden Geschlechts. Es gibt für die Eltern keine größere Befriedigung und kein größeres Glück, als wenn es ihnen gelingt, ihr Haus zu bauen und wenn alle Familienglieder gedeihen. Nirgends kehrt auch der Herr Christus lieber ein, nirgends nimmt er lieber bleibende Wohnung als im Kreise einer christlichen Familie.

 Die Ehe hat aber auch ihr Wehe. „Ehestand – Wehestand.“ Es wird den angehenden Eheleuten das Kreuz angekündigt, und sie machen darin reichliche Erfahrung. Es sind nicht bloß die Wehen, die dem Weibe bei der Geburt, und die Sorgen und Nöte der Arbeit, die dem Manne im Paradies angekündigt sind. Es entspringen tausenderlei| Nöte und Verlegenheiten, die bald das eine, bald das andre Familienglied, bald die ganze Familie drücken; bald sind es innere, bald äußere Nöte und Leiden. Sie mehren sich mit dem Wachstum der Familie, mit der Zahl der Kinder: ihre Erziehung, ihr Unterhalt, ihre Versorgung, die Sorge für ihre Seligkeit macht den Eltern die größte Not. Das sind die allgemeinen Erfahrungen. Dabei ist gar keine Rücksicht genommen auf die besonderen und größeren Unglücksfälle, die oft den Ruin der ganzen Familie oder der einzelnen Glieder nach sich ziehen. Das größte Unglück sind die ungeratenen Kinder, mit denen oft die besten Eltern geschlagen sind. Zum Kreuz des Familienlebens gehören auch insonderheit die oft sehr schmerzlichen und bittern Todesfälle in der Familie und die Nahrungssorgen u. dergl. Doch haben christliche Eheleute den mächtigen Trost, daß denen, die Gott lieben, müssen alle Dinge zum Besten dienen. Sie machen die erfreulichsten Erfahrungen von der göttlichen Durchhilfe in allen Nöten und von dem Gnadenbeistand und der tröstlichen Nähe ihres Heilands in all ihrem Kreuz.


§ 55.
Die Ehe. Spezielle Gesichtspunkte.

 1. Eingehen der Ehe. – Dabei kommen in Betracht:

 a. Der Entschluß, eine Ehe einzugehen. Dies ist die persönlichste Sache, die es gibt. Es hat jeder zur Ehe und zur Führung der Ehe Befähigte das Recht und die Erlaubnis, dieselbe einzugehen, 1. Kor. 7, 28. 36. Eine Pflicht und Nötigung dazu besteht im allgemeinen nicht, wenn sich solche nicht aus den Umständen ergibt, 1. Kor. 7, 2. 36. Es gibt aber auch Beschränkungen der persönlichen Freiheit; das sind:

 b. Die Ehehindernisse:

 α. solche, welche an dem Eingehen einer Ehe überhaupt hindern. Das können äußere Umstände sein, z. B. Krankheit, Unfähigkeit zur Ehe oder zur Versorgung einer Familie. Armut ist an und für sich kein Hindernis (Armut ist etwas anderes als Besitzlosigkeit). Ferner gehört hierher die mangelnde obrigkeitliche Erlaubnis; solche, die sich verehelichen wollen, finden z. B. keine Gemeinde, die sie aufnimmt. Diese Ehehindernisse bringen ein unfreiwilliges Cölibat, das nicht eben gut ist. Dazu gehören auch die Erschwerungen der Ehe beim Militär durch hohe Kautionsforderung. Sie mögen sein, wie sie wollen, so sind sie absolute Hindernisse; man muß sie als Gottes Willen und| Zulassung ehren und respektieren. Ein absolutes Ehehindernis moralischer Art, zum Teil auch mit rechtlichen Folgen, ist die versagte elterliche Einwilligung (Machtvollkommenheit der Eltern nach dem 4. Gebot), vgl. 1. Kor. 7, 36. 37. Daher sind auch heimliche, das heißt ohne Vorwissen der Eltern oder deren wirklich berechtigte Stellvertreter (nicht aber Verwandte, Brüder etc., die das Ansehen in der Familie haben) geschlossene Verlöbnisse, ungültig, verwerflich und aufzulösen. Das ist einstimmige Ansicht und Praxis in der lutherischen Kirche aller Zeiten. Etwas anderes ist es, wenn sie später die Zustimmung der Eltern erhalten. Es ist übrigens auch eine von seiten der Eltern sehr verantwortungsvolle Sache, die Einwilligung zu verweigern. Es geschieht gar oft aus sehr ungöttlichen Gründen. Nichtsdestoweniger bleibt ihr Wille maßgebend und ist Gottes Wille, der eben ein Hindernis daraus macht, vielleicht nach seiner verborgenen Weisheit und Güte. Das im Vorstehenden Gesagte gilt speziell von den Töchtern, 1. Kor. 7, 36–37. Die Söhne sind nicht in der gleichen Weise an den Willen ihrer Eltern gebunden.

 β. Ehehindernisse, welche das Eingehen einer Ehe mit bestimmten Personen hindern (Ehebeschränkungen). Solche bringt die nahe Verwandtschaft. Es ist ein göttliches Grundgesetz, das in der Natur und bei freien Wesen herrscht, daß sich die verwandten Pole abstoßen, die entgegengesetzten anziehen. Die möglichst starke Mischung der Individuen bei einem Geschlecht gibt den besten und kräftigsten Nachwuchs. Aus Heiraten in nahe Verwandtschaft kommt ein schwaches Geschlecht, ja es bewirkt das Aussterben ganzer Familien. Jede solche Heirat ist ein Wagnis, das zwar nicht immer, jedoch nicht selten, durch verkommene Kinder mit mangelhafter Bildung an Leib und Seele gestraft wird.

 Nach sorgfältiger Erhebung stammen die meisten Taubstummen aus den Ehen solch naher Verwandten. Je näher die Verwandtschaft, desto größer ist die Verhältniszahl taubstummer oder sonst gebrechlicher Kinder (Vortrag des Gelehrten Baudin in der Akademie der Wissenschaften zu Paris). Ähnliche Erfahrungen macht man bei Feststellung der Abstammung blöder Kinder. Sehr häufig kommen aus Ehen mit Geschwisterkindern blöde Kinder. Das ist eine von Gott aufgestellte Warnungstafel aus der Erfahrung. Doch sind nicht alle nahen Verwandtschaften absolute Ehehindernisse. Die auf- und absteigende Linie Vater – Tochter – Enkelin; Mutter – Sohn – Enkel war schon bei den Heiden eine unübersteigbare Schranke, und Vergehen dieser| Art galten als Greuel, 1. Kor. 5, 1. Auch der erste Grad der Verwandtschaft in der Seitenlinie, die Ehe zwischen Bruder und Schwester, war den Heiden eine unübersteigliche Schranke. Die Ägypter und Griechen müssen freilich in dem Stück als eine Ausnahme gelten. Soweit reicht die Vernunft. Soweit sind die Heiraten bei uns auch von allen weltlichen Gesetzen verboten und sind also die genannten nahen Verwandtschaften absolute Hindernisse.

 Wir haben auch darüber ausdrückliche göttliche Bestimmungen, welche die Grenze des Erlaubten genau bezeichnen. Diese finden sich Lev. 18 und 20. Durch sie werden die oben bezeichneten Fälle ausdrücklich verboten. Aber die Schrift geht auch noch einen Schritt weiter; sie macht nicht nur Blutsverwandtschaft, consanguinitas, sondern auch die Schwägerschaft, affinitas, zum absoluten Ehehindernis, doch nur in zwei Fällen, nämlich der Ehe mit des Bruders Witwe (abgesehen von dem einzelnen Fall der Leviratsehe, Deut. 25,5–9) und mit des Vaters Bruders Witwe; die Ehe dagegen mit der Schwester der verstorbenen Frau und die des Neffen mit der Tante, d. h. mit der Mutter Bruders Frau, und alle andren Grade der Verwandtschaft sind erlaubt.

 Verboten ist die Heirat nach der Schrift:

1. a. In der Blutsverwandtschaft in der direkten Linie, nämlich die Heirat eines Mannes mit seiner Tochter – Enkelin; eines Weibes mit ihrem Sohn – Enkel, Lev. 18, 7. 8. 10;
b. im ersten Grad der Seitenlinie zwischen Geschwistern, voll- und halbbürtigen, Lev. 18, 9. 11; 20, 17.

 Verboten ist auch die Heirat
zwischen dem Neffen und der Schwester seines Vaters, Lev. 18, 12; 20, 19;
zwischen dem Neffen und der Schwester seiner Mutter, Lev. 18, 13; 20, 19.
zwischen dem Neffen und seines Vaters Bruders Wittwe, Lev. 18, 14; 20, 20.

2. Im Stief- u. Schwiegerverhältnis und im ersten Grad der Schwägerschaft, nämlich
a. zwischen einem Mann und seiner Stieftochter, Stiefenkelin – Schwiegermutter, Schwiegertochter; dem entsprechend beim Weibe; Lev. 18, 17; 18, 15; 20, 14;
b. zwischen einer Frau und dem Bruder des Mannes, Lev. 20, 21 (rechtem, vollbürtigem oder doch von demselben Vater wenigstens) oder derselben Mutter; Leviratsehe ausgenommen);
|  Erlaubt ist die Heirat:
  1. zwischen dem Mann und der Schwester seiner verstorbenen Frau, Lev. 18, 18;
  2. zwischen dem Neffen und der Mutter Bruders Witwe;
  3. zwischen dem Onkel und der Nichte;
  4. zwischen Geschwisterkindern;
  5. zwischen zusammengebrachten Kindern ohne gemeinsamen Vater und Mutter;
  6. zwischen Geschwisterpaaren; Schwäger zweiten Grades;
  7. zwischen dem Onkel und der Witwe des Schwestersohnes;
  8. zwischen einem Mann und der Schwester seiner Stiefmutter;
  9. wenn Vater und Sohn Mutter und Tochter heiraten.

 Die Ehe mit des Bruders Witwe oder Weib ist – mit einer Ausnahme –, wie oben gesagt, verboten; die Ehe dagegen mit der Schwester der verstorbenen Frau und des Neffen mit der Mutter Bruders Frau und allen andern Graden der Verwandtschaft sind erlaubt. Wiewohl nun diese Verhältnisse den gleichen Grad bezeichnen, so zeigt doch die Schrift, daß die Verwandtschaft von männlicher Seite näher ist als von weiblicher Seite, daß die Nichtachtung der ersten die Sittlichkeit verletzt, was bei der zweiten nicht der Fall ist.

 Wenn die ältere kirchliche Gesetzgebung noch mehr und weitere Grade verbietet als die Schrift, und dann wieder dispensiert, so verrückt sie die zarten Grenzen des Schicklichen und Zulässigen, welche die Schrift zieht, durch einen menschlichen Schluß, von der Ähnlichkeit des Verhältnisses hergenommen. Die Auffassung der mosaischen Ehegesetze seitens der für die kirchliche Gradrechnung eintretenden lutherischen Theologen ist die, daß sie Lev. 18, 6 als allgemeine Regel bezeichnen und danach verschiedene Grade der Verwandtschaft aufstellen. Was sonst Lev. 18 u. 20 angeführt sei, das seien bloß Beispiele, deren Gesamtheit nicht den ganzen Inhalt der Regel erschöpfe (vgl. dazu Walther, Amerikanische Pastoraltheologie pag. 204 ff.; Oehler, Alttestamentliche Theologie pag. 367). Die Schrift ist gegen diese Anschauung, indem sie verbietet, etwas zu den Geboten hinzuzuthun oder davon hinwegzuthun. Die Gradrechnung kommt auch in Schwierigkeiten. Auf diesem Wege ist nämlich die Ehe mit der Schwester der verstorbenen Frau zunächst verboten, und nach mancher Kirchenordnung (Ottheinrich) für indispensabel erklärt worden wie mit der Frau des verstorbenen Bruders. Die meisten lutherischen Kirchenordnungen erklären auf Grund der| Gradrechnung, und weil die erstere Ehe in der Schrift erlaubt sei, beiderlei Ehen für dispensabel, wodurch eine verderbliche Laxheit in die lutherische Praxis kam, die um jeden Preis beseitigt werden muß, wo die Schrift so klar spricht, wo sie es für eine schändliche That erklärt und die betreffende Vergehung mit zeitlichen Strafen und Folgen belegt.

 Den Grund der einzelnen Verbote hat man wohl zu suchen in der Absicht, die Störung der moralischen Beziehungen, welche durch solche unnatürliche Ehen eintreten würde, zu verhindern, insonderheit handelt es sich um Wahrung des respectus parentelae. Die Unnatur der betreffenden Ehen ist eine gradweise verschiedene, was auch aus der Verschiedenheit der einzelnen darauf gesetzten Strafen hervorgeht: teils Todesstrafe (auch verschärfte), Ausrottung, teils Kinderlosigkeit oder andere Folgen schlimmer Art.

 Der Einwand, als ob die Ehegesetze 3. Mose 18. 20 für nichts mehr als Bestandteile des mosaischen, bürgerlichen Rechtsbuches der Juden und darum als für uns unverbindlich anzusehen wären, ist falsch; sie sind ohne Zweifel zugleich sittliche Anforderungen, die in der ewigen Weltordnung begründet, also für alle Menschen, für alle Zeiten und Verhältnisse gültig sind, immerwährende Geltung haben wie alles derartige Alttestamentliche (Lev. 18,24–30; vgl. § 32 pag. 72). Dabei ist es dem christlichen Urteil überlassen, diejenigen Bestimmungen auszuscheiden, welche rein theokratische Bedeutung haben, also nur für die Juden, nur für ein bestimmtes Volk und Land, nur für bestimmte Zeiten gelten. Dahin gehört die Leviratsehe, Deut. 25, 6 ff.; Ruth 4, 5, welche, obwohl sie göttliche Bestimmung ist, die obigen allgemeinen nicht aufhebt, sondern als eine besondere und einem besondern Zweck eine Zeitlang dienend dahinfällt, während die allgemeine Regel bleibt. Die Ausnahme dient auch zur Bestätigung der Regel und bedurfte des ausdrücklichen göttlichen Befehls. Wenn es richtig ist, daß Herodes das Weib seines Bruders Philippus hatte, der noch lebte (wie Josephus berichtet), so straft Johannes der Täufer nicht nur den Ehebruch, sondern zugleich den blutschänderischen Umgang, und läßt sich sein Haupt abschlagen um seines Zeugnisses willen, Matth. 14, 3 etc. Daß das Neue Testament die Ehegebote des Alten Testaments nicht aufhebt und abschwächt, sondern vielmehr verschärft, zeigt die Rede des HErrn Matth. 5, 28. 32; 19, 19. Wer eins von den kleinsten Geboten des Sittengesetzes aufhebt (und dies ist keins von den kleinsten) und lehrt die Leute also, der wird der Kleinste sein im Himmelreich, Matth. 5, 19.

|  c. Die Bedingungen bei Eingehung einer Ehe, wenn sie gesegnet und glücklich werden soll. – Alles kommt auf eine glückliche Wahl der Person an. Nichts ist auch schwerer, als hier wählen, wo man nur mangelhafte Einsicht hat, zumal man gar nicht wissen kann, wie sich eine Jungfrau als Frau macht. Daher muß man vor allen Dingen auf die göttliche Führung rechnen, und das Gebet um sichere Leitung in dieser wichtigen Angelegenheit fleißig gebrauchen. Auch den Rat der Eltern und Seelsorger und den verständiger Freunde soll man da nicht verachten, sondern einholen; wie es bei den Alten zur Sitte gehört hat, diesen einzuholen. Dieses alles aber macht die eigene sorgfältige Überlegung nicht überflüssig, welche Erfordernisse man an eine zukünftige Lebensgefährtin stellen zu müssen glaubt, wobei man sich vor aller thörichten Träumerei von Idealmenschen hüten muß, weil man immer zu bedenken hat – was manche nur zu oft vergessen –, daß von der anderen Seite auch Ansprüche gemacht werden, und daß man selber keine Ansprüche machen soll, wenn man nicht der Mann dazu ist, dem andern Teil eine Befriedigung mit seiner Person gewähren zu können.
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 Außer der leiblichen Gesundheit und Reife ist zu allererst zu sehen auf ein frommes und gläubiges Gemüt, sowie auf Tüchtigkeit im häuslichen Beruf, sowie auf eine Persönlichkeit, welche an sich und durch Erziehung, Stand und Glücksgüter nicht ungeeignet erscheint für den Beruf des Mannes. Dahin gehört ein gewisser Grad geistiger Begabung und Bildungsfähigkeit, wenn nicht Bildung schon vorhanden ist. Der Geistliche muß in diesen Stücken doppelt vorsichtig sein. Doch sind dieses nur Vorbedingungen, die nicht fehlen dürfen, die Hauptfrage ist dann immer die, ob die fragliche Person, was Temperament und Charakter betrifft, geeignet sei, um ein harmonisches, friedliches und glückliches Gemeinschaftsleben erhoffen zu lassen. Persönlichkeiten, die allzu verschieden und die allzu ähnlich sind an natürlichen und Charakter-Eigenschaften, sollen sich meiden. Eine sehr wichtige und ernste Berücksichtigung verdienende Sache ist die persönliche Neigung. Sie ist die natürliche Basis des ehelichen Lebens; doch ist sie keineswegs allein eine sichere Führerin, sie trügt oft; doch im Keim muß sie vorhanden sein, wenigstens darf keine persönliche Abneigung da sein. Vernunft und Neigung muß zusammen entscheiden. Die Neigung wächst oft erst, namentlich bei Heiraten in reiferen Jahren, wo mehr der Verstand als die Neigung maßgebend ist,| und die im Durchschnitt die glücklichsten werden. Die Neigung wächst und wird verklärt in einer glücklichen Ehe mit den Jahren.

 Endlich ist auch das rechte Motiv zu beachten. Bei einer Heirat steht die Person im Vordergrund, nicht Stand, angesehene Verwandtschaft, Vermögen. Namentlich fallen Geldheiraten und solche, bei denen der Stand oder der Bildungsgrad nicht paßt, gar oft schlecht aus. – Sehr zu widerraten sind Heiraten in zu frühen Jahren oder bei zu großer Altersverschiedenheit, oder wenn der Nahrungsstand nicht genug gesichert ist.

 d. Ist die Wahl getroffen und der Entschluß gereift, so soll das Verlöbnis folgen, welches eine feierliche, öffentliche Kundgebung vor Zeugen ist, daß die Verbindung geschlossen ist. Häufig ist damit ein förmlicher Ehekontrakt verbunden, namentlich was die beiderseitigen Vermögensverhältnisse betrifft. Bei den Alten war die löbliche Sitte, daß bei den Verlöbnissen der Pfarrer gegenwärtig war, der den Neuverlobten seinen Segen gab. Das Verlöbnis hat bindende Kraft und gilt vor Gott und Menschen wie die Ehe, nur mit dem Unterschied, daß das Verlöbnis noch lösbar ist. Es einseitig zu lösen, ohne besondere Verschuldung des andern Teils, ist Sünde und hat eine schwere Verantwortung. Es ist nicht bloß Wortbruch, sondern gewissermaßen Ehebruch, verächtliche Untreue. Doch kann manche unglückliche Ehe verhindert werden durch Auflösung des Verlöbnisses, welche statthaft ist, wenn beide Teile freiwillig und aus Überzeugung von der Unzweckmäßigkeit ihrer Verbindung sich ihr Wort zurückgeben. So war es je und je lutherische Praxis mit der Verlobung. Ist eine Jungfrau durch einen jungen Mann zu Schanden geworden, so ist er nach dem göttlichen Wort Exod. 22, 16 doppelt verbunden, sie durch die Ehe wieder zu Ehren zu bringen. In diesem Falle sich mit einer andern zu verheiraten und vorhandene Kinder mit Geld abzufinden, wie es häufig von der ländlichen Bevölkerung geschieht, ist Ehebruch und sonst eine schändliche Handlungsweise. (Doch soll nicht außer acht gelassen sein, daß im Alten Testamente dem Manne mehr als eine Frau gestattet war, die Verhältnisse also nicht die gleichen sind.) Frühzeitige Verlobung und ein lang andauernder Brautstand sind aus naheliegenden Gründen zu widerraten.

 Die kirchliche Trauung ist die Schwelle, durch welche der Christ in den Ehestand eintritt; denn hier legt er sein feierliches Versprechen vor Gott und der Gemeinde ab und empfängt darauf neben| der christlichen Weisung den göttlichen Segen. Wer die kirchliche Trauung verachtet, sich etwa mit der Ziviltrauung (besser: Zivil-Eheschließung) begnügend, ist für keinen Christen zu achten, auch nicht als ein Glied der Kirche zu behandeln.

 In neuerer Zeit ist in vielen Ländern die Zivil-Eheschließung obligatorisch geworden. Nun fragt es sich, können wir uns mit der Ziviltrauung befreunden oder nicht. Dabei kommt folgende Frage in Betracht: Was ist eigentlich das Eheschließende, Ehebegründende? Was macht die beiden Nupturienten zu wirklichen Eheleuten? Darauf antworten die einen: Der Geistliche macht die Ehe durch die Anwendung des Wortes Gottes auf die ihm vorgestellten Verlobten. – Die andern: Die Vollziehung der ehelichen Gemeinschaft macht die Ehe. – Noch andere: Der Consensus der Nupturienten („nuptias non concubitus, sed consensus facit“, römisches Kirchenrecht). Deut. 22, 23–27.

 Die Ehe ist ja doch kein Sakrament, wo Christi Diener an den Menschen nach Christi Auftrag handelt; die Ehe ist etwas Natürliches, eine Sache der menschlichen Freiheit. Sie gehört zu den Dingen, in welchen, wie die Augustana sagt, der Mensch einen freien Willen hat. Da nun die Ehe eine Sache des freien Willens der Person ist, so kann es sich nicht um eine göttliche That handeln. Daraus ergibt sich dann, daß die kirchliche Trauung nicht eheschließend, sondern ehebestätigend ist. Ebensowenig wie die kirchliche Trauung ist der standesamtliche Akt das Eheschließende; dadurch wird nur vom Staate die Ehe als eine von Staatswegen rechtliche anerkannt. Wie der Staat nach seinen bestehenden Gesetzen, so muß auch die Kirche untersuchen, ob die einzugehende Ehe nach Gottes Wort gültig und recht sei. In der kirchlichen Trauung liegt erstens die Anerkennung, daß die Ehe nach Gottes Wort gültig und recht sei. Zweitens die göttliche Sanktion, Gott ist der Zeuge und Garant des Bundes und macht ihn zu einem unauflöslichen und unverbrüchlichen, Prov. 2, 17: „Und verläßt den Herrn ihrer Jugend und vergißt ihres Gottes“; drittens liegt darin die Benediktion. Sie kann und soll wie alles Natürliche gesegnet werden.

 2. Die christliche Führung der Ehe und ihr Gegenteil.

 a. Die rechte Führung derselben beruht einesteils auf dem göttlichen Segen; denn die christliche Ehe hat so viel Feinde (namentlich den Teufel), daß ohne Gottes Segen und Hilfe keine Ehe gerät,| andernteils auf der Bewahrung der Liebe und Treue, die sich die Eheleute bei der Trauung gelobt haben. Die Liebe und Treue aber beruht auf der gegenseitigen Achtung der Ehegatten, und diese auf dem christlich-sittlichen Verhalten, namentlich gegen einander, und auf der gewissenhaften Erfüllung des beiderseitigen Berufs (cf. Löhe, Hausbuch I, 6. Gebot). Es gilt dabei das rechte Nahen und Fernen zu beobachten, namentlich in der Sitte und im Anstand. Eine sorgsame Pflege der Schamhaftigkeit auch in der Ehe ist unerläßliche Bedingung, wenn die gegenseitige Achtung nicht sinken und die Ehe nicht mißraten soll. Auf Grund der Achtung gedeiht die Liebe und wird immer reiner und schöner, und so gelingt es, auch in der Ehe Keuschheit und Zucht zu bewahren, was hier ebenso verletzt werden kann wie außer der Ehe. Es muß ein jungfräulicher Sinn auch in der Ehe bewahrt werden, und die Enthaltsamkeit (1. Kor. 7, 5; 1. Petr. 3, 7; Lev. 20, 18) hat ihren Platz, Zeit und Maß, hier ebenso wie – nur in anderer Weise – außer der Ehe. Es ist also oft nicht minder schwer, ja zuweilen schwerer, in der Ehe die Keuschheit zu bewahren als außer derselben. Doch ist das eben der göttliche Segen der Ehe, daß der Mensch darin für diese Tugend erzogen wird, wie er in dem ehelosen Stand dafür erzogen werden soll.
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 b. Das Verhältnis der Ehegatten zu einander, einmal in ihrer Verschiedenheit. Der Mann hat dem Weibe die gebührende Ehre zu geben und den ihr gebührenden Teil an der Leitung des Hauses. Der Mann leitet das Haus im großen und ganzen und vertritt dasselbe nach außen. Das Weib leitet das Hauswesen und schafft und waltet nach innen möglichst selbständig. Und soll sich das Weib nicht in den Beruf und die Geschäfte des Mannes mischen, und der Mann nicht in den Beruf und die Geschäfte des Weibes. Doch soll der Mann das Weib heranziehen, daß es möglichst teilnehme an den Sorgen, Freuden und Leiden seines Berufs, und soll dem Weibe gestatten, ihren Rat und ihre Meinung frei zu sagen, wenn auch dem Mann in letzter Instanz die Entscheidung zusteht und ein rechtes Weib sich willig darein findet. Der Mann hat auch die Aufgabe, sein Weib zu heben und zu erziehen für seinen besondern Beruf. Das kann nur geschehen, wenn der Mann Zeit und Mühe darauf verwendet und eine edle Häuslichkeit pflegt und den Garten seines Glücks im Schoße seiner Familie baut, nicht draußen außer dem Hause sucht, Kol. 3, 19; 1. Petr. 3, 7; Eph. 5, 28. Die Frau sei unterthan dem Manne| als dem Herrn, Kol. 3, 18, und diene ihm mit stillem Wandel und beweise ihren Glauben in der Tüchtigkeit ihrer Berufsthätigkeit und in allen weiblichen und häuslichen Tugenden, Tit. 2, 4. 5; 1. Petr. 3, 1–6. Sind die Männer Gott entfremdet, so sollen die Weiber sie zu gewinnen suchen durch ihre Sanftmut und ihren (guten) Wandel ohne Wort, 1. Petr. 3, 1–6.

 Was aber beiden gemeinsam ist, worin sie beide gleichstehen, das ist das Verhältnis zu Gott und seiner Gnade, Gal. 3, 28. Darum haben sie auch die gleiche Verpflichtung, daß eines das andere fördere auf dem Wege zum ewigen Leben, 1. Kor. 7, 16. Das, was noch gemeinsame Aufgabe ist, ist die Erziehung der Kinder, rücksichtlich welcher gleiches Ziel und gleiche Richtung stattfinden muß, nämlich sie aufzuziehen in der Zucht und Vermahnung zum HErrn, Eph. 6, 4. Beider höchste und gesegnetste Aufgabe ist, ihnen ein Vorbild zu werden in allem Guten und ihnen keinerlei Ärgernis zu geben, Matth. 18, 6. 10. 14.

 Eine starke Verirrung der Zeit liegt in der angestrebten Emanzipation der Frauen und des weiblichen Geschlechts überhaupt. Wenn man auch eine gewisse Notwendigkeit zugeben muß, den Frauen eine bedeutendere Stellung im sozialen Leben zu gewähren, und ihre Kräfte besser als bisher zum allgemeinen Wohl auszubeuten, so sind doch die eben bezeichneten Bestrebungen so ungöttlicher und widerchristlicher Art, auch so unnatürlich und fratzenhaft, daß sie mehr zum Ruin der Frauen und der menschlichen Gesellschaft ausschlagen müssen als zu deren wahrem Heil.

 Was die ungöttliche und unsittliche Führung der Ehe betrifft, so ist davon leider die Welt voll, und kaum wird ein menschliches Verhältnis so tief in Grund und Boden hinein verderbt sein als gerade das eheliche. Das Höchste und Beste ist am meisten dem Mißbrauch ausgesetzt. Man braucht nicht an den offenbaren Ehebruch zu denken, der oft beiderseits ohne Scheu begangen wird. Das sind Werke des Fleisches, welche unbezweifelt der Verdammnis entgegenführen, Gal. 5, 19–21; Hebr. 13, 4. Nach dem Gesetz des Alten Testaments sollen die Ehebrecher und Ehebrecherinnen des Todes sterben, 3. Mose 20, 10. Dies gilt der Idee und dem Rechte nach noch heute. Wenn die Ausführung auch hier nicht erfolgt, folgen dort desto sicherer und größer die Strafen, Hebr. 13, 4. Schon die mehr innere Sünde, die innere Untreue gegen den Gemahl, die keimende| und nicht bekämpfte Abneigung, die Mißachtung, die Ablenkung der Neigung auf andere Personen, Matth. 5, 28; 15, 19; 19, 5; 2. Petr. 2, 14, die begründete und unbegründete Eifersucht, Num. 5, 12–30, der daraus erwachsende Unfriede, Zank und Streit im häuslichen Leben, die Ärgernisse für die Familienglieder, die daraus entstehen: dieses alles bringt ein Heer von Sünde und Elend in die Welt, trägt nicht wenig bei zu dem immer wachsenden allgemeinen Elend; denn vom Hause geht das Elend aus und teilt sich dem Allgemeinen mit, Gen. 12, 17; 2. Sam. 12, 10.

 3. Ehescheidung.

 Im Alten Testament war es nach Deut. 24, 1 erlaubt, dem Weibe einen Scheidebrief zu geben um irgend einer Unlust willen von seiten des Mannes, vgl. Matth. 19, 7 etc. Allein der HErr hebt diese Begünstigung und diesen Nachlaß des Gesetzes wieder auf und stellt das Ehegebot in seiner ursprünglichen Idee wieder her, Matth. 19, 4, und sagt, es sei jenes bloß um ihres Herzens Härtigkeit willen geschehen. Über diese Gesetzesstelle waren die Ausleger verschiedener Meinung. Hillel und seine Schule vertraten die laxeste Auslegung: „aus irgend einer Ursache oder Unlust“. Schammai und seine Schule waren strenger und deuteten diese Stelle wohl richtiger als „zielend auf eine Unanständigkeit im Benehmen oder in der That“, welche Grund zur Scheidung werden konnte.

 Bei den Griechen war die Monogamie Regel ans politischen Gründen, aber der Konkubinat nicht verboten. (In Sparta, zum Anstoß für die anderen Griechen, sogar ein Ausleihen der Ehefrau an andere Bürger Sitte!) Die Ehescheidung geschah durch einfache Entlassung des Weibes, nur mit Herausgabe der Mitgift. Die Frau mußte in Athen ihre Klage gegen den Mann schriftlich dem Archonten vorlegen. Die Religion und die Mythologie der Griechen traten hindernd dem sittlichen Ernst dieses Verhältnisses entgegen. Dagegen war bei den Römern großer sittlicher Ernst in den ersten Zeiten vorhanden. Es soll in den ersten fünf Jahrhunderten post urbem conditam keine Ehescheidung vorgekommen sein. Und wenn diese Angabe auch nicht ganz zuverlässig ist, so ist doch gewiß, daß der Ehebund bei ihnen überaus treu und rein gehalten wurde; auch fand gewöhnlich keine Wiedervermählung statt bei Witwen. Die Ehescheidung stand dem Römer nur frei bei Nachweisung bestimmter Ursachen (cf. Tholuck, Bergpredigt p. 242), auch bei den alten Deutschen wurde die Ehe sehr treu und rein gehalten.

|  Der einzige Ehescheidungsgrund, den der HErr gelten läßt (es gibt demnach doch einen, während die römische Kirche dies leugnet), ist die geschehene Hurerei, Matth. 19, 9; 5, 31. 32. Jede andre Scheidung ist Ehebruch. Die Ehe ist vor Gott unauflöslich. Was Gott zusammengefügt hat, das soll der Mensch nicht scheiden, Matth. 19, 6. Die Hurerei ist thatsächliche Scheidung durch Schuld des einen oder andern Teils oder beider, 1. Kor. 7, 10. Als zweiter Scheidungsgrund ist in der Praxis der lutherischen Kirche aufgekommen derjenige der sogenannten desertio malitiosa. Man berief sich dabei auf 1. Kor. 7, 7–17. Was diese Stelle anlangt, auf welche man also das Recht der Scheidung bei desertio malitiosa gründen will, so ist vor allem nicht zu übersehen, daß es sich hier nur um eine kasuelle Frage handelt, mithin die Antwort des Apostels nicht ohne weiteres verallgemeinert werden darf.

 Der Fall ist dieser: eine ursprünglich heidnische Ehe wird durch den Übertritt des einen Teils eine gemischte. Da konnte die doppelte Frage entstehen: einmal, ob dem christlichen Ehegatten die Fortsetzung der Ehe mit dem heidnisch gebliebenen gezieme; sodann, wie der christliche Ehegatte sich zu verhalten habe, wenn der heidnische die Fortsetzung der Ehe verweigerte?

 Was die erste Frage anlangt, so erklärt der Apostel, daß die Verschiedenheit der Religion die Ehe nicht aufhebt und daß der christliche Ehegatte das Verhältnis wohl fortsetzen könne, da durch die Christlichkeit des einen Teils das eheliche Verhältnis überhaupt geheiligt ist. Von dem christlichen Teil soll also unter keinen Umständen die Scheidung ausgehen. Dagegen wenn der heidnische Ehegatte die Fortsetzung der Ehe verweigert, so kann und soll der christliche Teil diesen nicht hindern, sondern ihn ziehen lassen in Frieden.

 Bis dahin ist des Apostels Bescheid klar und die Schwierigkeit erhebt sich nun erst bei dem Wort οὐ δεδούλωται Die einen fassen das Wort gleich οὐ δέδεται und sehen in diesem Wort die Erlaubnis zur Wiederverheiratung für den vom heidnischen Gatten böslich verlassenen Eheteil. Andre dagegen bestreiten diese Fassung, weil durch sie weder der eigentliche Begriff von δεδούλωται noch der Sinn von ἐν τοῖς τοιούτοις zu seinem Rechte kommt, und übersetzen ihrerseits: „in solchen und ähnlichen Fällen“, nämlich: wenn es sich um ein dem natürlichen Leben, der irdischen Zeitlichkeit angehörendes Verhältnis handelt, ist der Christ nicht geknechtet, d. h. es ist für ihn keine sittliche Notwendigkeit,| dem einen oder dem andern Stand anzugehören (oder besser, da er irgend einem Stand angehören muß: in dem betreffenden, da er sich befindet, zu bleiben). Für die Erreichung des himmlischen Berufs ist es gleichgültig, in welchem Stande oder in welcher äußern Lage er lebt. So gefaßt enthält dann die Stelle zunächst nicht die Erlaubnis zur Wiederverehelichung, sondern nur die Beruhigung für den christlichen Teil, daß er mit gutem Gewissen in die von ihm nicht veranlaßte und verschuldete Trennung von dem heidnischen Ehegatten willigen kann. Ist aber die Scheidung vollzogen, so liegt das Recht der Wiederverehelichung in der Konsequenz der Ausführung c. 7, 17. Wir stehen ja auch mit v. 12 τοῖς δὲ λοιποῖς auf einem ganz anderen Gebiet als in dem Abschnitt v. 10–11; hier handelt es sich um rein christliche Ehen, dort um gemischte. Mit dem auffälligen οὐ δεδούλωται scheint der Apostel andeuten zu wollen, daß die Ehe immerhin auch ein rechtliches Vertragsverhältnis, so daß der betreffende veranlaßte Teil eine Willenserklärung abgeben kann.

 Im Vorstehenden ist der Fall einer gerichtlichen Scheidung angenommen. Ähnlich wird es sich verhalten bei gewaltsamer Lösung des Verhältnisses ohne Beachtung rechtlicher Formalitäten – dies die eigentliche „bösliche Verlassung“ –, wenn auch die faktische Trennung irgendwie wird konstatiert werden müssen. Wenn in solcher Weise der ungläubige Teil sich scheidet, ist der betreffende christliche Teil nicht gehalten, das Verhältnis der Ehe als für ihn noch weiter bestehend anzusehn, eben weil der Ehebund auch ein Vertragsverhältnis ist. Hätte aber der Christ sich noch für gebunden zu achten, wo der andere Teil thäte, wie er wollte, so fände er sich dadurch in den Stand eines Sklaven versetzt durch den Eheschluß, was doch nicht der Fall war.

 Die Frage ist nun die, inwieweit der hier vorhandene Fall auf unsere Verhältnisse Anwendung findet. Man wird die Anwendbarkeit des apostolischen Bescheids auf diejenigen Fülle beschränken müssen, wo die Ehe durch ausdrücklich erklärten oder thatsächlichen Abfall des einen Teils vom Christentum jenen korinthischen Ehen gleichkommt. Das ist der Fall:

a. beim Übertritt des einen Ehegatten zum Judentum, Islam oder Heidentum. – Nur in gewissem Sinn
b. bei der Exkommunikation des einen Eheteils. Wer aus der Kirche ausgeschlossen und nicht wieder mit ihr in Gemeinschaft zu treten sucht, ist ein Heide und Zöllner, Matth. 18, 17, und|
c. bei ausgesprochenem Unglauben und gröblicher Vernachlässigung der Christenpflicht des einen Ehegatten, 1. Tim. 5, 8, speziell durch bösliche Verlassung.

 Im ersten Fall wird für den christlichen Teil die Fortsetzung der Ehe moralisch unmöglich sein, in den andern beiden kann dies unmöglich werden.

 Die Streitfrage ist die, ob in diesen Fällen der unschuldige Teil die Erlaubnis habe, sich wieder zu verheiraten oder nur getrennt zu leben. Daß der Apostel eine solche separatio quoad torum et mensam unter Umständen für zulässig hält, geht aus v. 10 und 11 hervor, wo er zwar im allgemeinen die Scheidung der Verheirateten im Namen Gottes verbietet, falls aber infolge unheilbarer schwerer Zerwürfnisse der Ehegatten dennoch eine solche Scheidung eingetreten ist, entweder ehelos bleiben oder Wiederversöhnung als Alternative aufstellt. Bei Sävitien und Insidien wird man auf Grund dieser Stelle dem verfolgten und mißhandelten Gatten mit gutem Gewissen die Erlaubnis zur Trennung, nicht aber zur Scheidung und Wiederverheiratung geben können.

 Von den oben angeführten Fällen kommt heutzutage hauptsächlich vor der Fall der eigentlichen „böslichen Verlassung“; dann erhebt sich also die Frage: darf der Gatte, den der andre böswillig verlassen hat, wieder heiraten? In der lutherischen Kirche gibt es, wiewohl die Praxis die Wiederverehelichung erlaubt, doch zwei Richtungen: eine strengere und eine mildere. Nach der ersten Auffassung muß sich der böslich verlassene Teil in den unfreiwilligen Witwenstand fügen, braucht sich aber kein Gewissen zu machen, daß er nicht mehr im ehelichen Stand lebt, sondern kann sich bei der von ihm nicht verschuldeten Trennung beruhigen. (Zugrunde mag hier die Anschauung liegen, der Ehestand sei derjenige, in dem sich ein Christ von Rechtswegen soll finden lassen – eine Anschauung, die in unserer Zeit starke Modifikationen erfahren hat. Der unschuldige Teil muß sich in den unfreiwilligen Witwenstand fügen, braucht sich kein Gewissen über den Schaden, den seine Ehe erlitten hat, machen – er hat nicht Übels gethan, sondern Übels erlitten – und darf sich der Hilfe Gottes getrösten zur Bewährung in diesem Stand.) Die mildere, von den Dogmatikern der lutherischen Kirche vertretene Anschauung dagegen ist: wenn der desertor malitiosus dem Bereich der Kirche sich entzogen und auf die gerichtliche Vorladung nicht geantwortet| hat, so ist dem unschuldigen Teil die Erlaubnis zur Wiederverehelichung gegeben.

 Mit jeder der beiden Auffassungen steht es so, daß sich etwas dafür und etwas dawider sagen läßt. Es ist möglich, daß der desertor malitiosus sich bekehrt und Wiederversöhnung begehrt. Dieselbe ist aber dann unmöglich, wenn der andre Gatte unterdessen wieder geheiratet hat. Andernteils ist es aber doch auch eine unbillige Forderung, daß der verlassene Teil auf Geratewohl warten soll, bis der verlassende Teil zurückkommt, 1. Kor. 7, 16. Für die mildere Ansicht macht schon Luther geltend, daß die böswillige Verlassung eine Sünde sei, die dem Ehebruch am nächsten komme, und meistenteils auch zum Ehebruch führe, indem der eine Gatte des andern gern los sein und eine andere Person haben möchte, die ihm besser zusagt. In der Praxis ist freilich mit diesem Scheidungsgrund großer Mißbrauch getrieben worden, indem entweder beide Teile den Plan der Verlassung mit einander verabredeten oder der eine Gatte den andern durch schlechte Behandlung vertrieb und dann mit dem Schein des Rechts auf Scheidung klagte. Die mildere Ansicht hat sich auch noch mit der Stelle Matth. 19 auszugleichen, wo der HErr den Ehebruch als einzigen Scheidungsgrund gelten läßt. Die lutherischen Dogmatiker (Joh. Gerhard) haben es in der Weise gethan, daß sie sagten, Matth. 19 nenne der Herr den einzigen Scheidungsgrund, in dem der Christ die Scheidung aktiv vollziehen dürfe; aber 1. Kor. 7 nenne einen Fall, wo der Christ die Scheidung erleiden müsse (passive). Hurerei und, wenn man der mildern Ansicht huldigt, auch bösliche Verlassung sind die einzigen schriftgemäßen Scheidungsgründe. Diesen am nächsten sind die Sävitien und Insidien. Wo dergleichen stattfindet, ist eine zeitweilige Trennung von Tisch und Bett gestattet, natürlich erst nach vorangegangener Vorstellung des Seelsorgers. Der Apostel verwirft ja diese Trennung nicht unter allen Umständen, 1. Kor. 7, 10. 11. Aus der zeitweiligen Trennung kann auch dauernde werden. Doch darf sie überhaupt bloß unter der selbstverständlichen Voraussetzung, daß der von dem andern getrennte Gatte ehelos bleibt, und unter der Festhaltung der Möglichkeit der Wiederversöhnung zugegeben werden.

 Zur Trennung, und zwar zu einer dauernden, wird es im ersten der angeführten Fälle kommen und schließlich auch wohl im zweiten; genau deckt sich auch der erste Fall nicht mit den 1. Kor. 7, 12 etc. angeführten.

|  Die andern Ehescheidungsgründe: Wahnsinn, unheilbare ansteckende Krankheit, bürgerlicher Ehrenverlust sind unbiblisch. Solche Erschwernisse der Ehe sollen für den unschuldigen Teil eine Kreuzesschule sein. Noch weitere Scheidungsgründe führt das preußische Landrecht an; aber die betreffenden Bestimmungen sind anzusehen als ein Schandfleck protestantischer Ehegesetzgebung, als da sind: unüberwindliche gegenseitige Abneigung, gegenseitige Einwilligung beider Ehegatten im Fall der Kinderlosigkeit.

 Die oben genannten und überhaupt alle über die heilige Schrift hinausgehenden bürgerlichen Scheidungsgründe (das Ehegericht gehörte anfangs den kirchlichen Konsistorien: später wurde es ihnen genommen und auf weltliche Gerichte übertragen), namentlich die leichtsinnigen Ehescheidungsgründe des preußischen Landrechts sind von seiten der Kirche zu verwerfen. Scheiden kann die weltliche Behörde nach den gegenwärtigen Umständen, aber es kann der Staat der Kirche die Zustimmung dazu nicht abnötigen noch den betreffenden Gliedern der Kirche seine Unterstützung leihen, um von ihr die kirchliche Erlaubnis zur Wiederverehelichung resp. die kirchliche Trauung zu erzwingen.

 Eine kirchliche Trauung solcher aus unbiblischen Gründen Geschiedenen darf unter keiner Bedingung stattfinden, wenn sie auch vor dem Standesamt eine rechtsgültige bürgerliche Ehe schließen können.

 4. Die Wiederverehelichung ist im allgemeinen gestattet nach dem Tod des einen Ehegatten und kann sogar rätlich sein (1. Tim. 5, 14); doch muß bei zweiten und dritten Ehen große Vorsicht gebraucht werden, wenn sie nicht unglücklich ausfallen sollen, namentlich wenn Kinder aus der ersten Ehe da sind. Stiefmütter sind selten recht geeignet, haben selten selbstverleugnende Liebe genug, die Kinder aus erster Ehe wie ihre eigenen zu halten. Auch ist die zweite Ehe in der Regel geringerer Art, es fehlt häufig das ideale Element.

 Bedenken gegen das Eingehen einer zweiten Ehe sind nur bei Geistlichen erhoben worden auf grund der Stelle 1. Tim. 3, 2: Ein Bischof sei eines Weibes Mann.

 Die Frage ist: spricht der Apostel von successiver Polygamie oder von gleichzeitiger? Versteht man das Verbot der sogenannten successiven Polygamie als Inhalt der apostolischen Forderung, so ist der Sinn: „ein Geistlicher darf nur einmal verheiratet sein, die zweite Ehe ist ihm verboten.“ So schließt die griechische Kirche, die dem gewöhnlichen Geistlichen (nicht dem Bischof) die Ehe gestattet, aber nur eine einmalige.| Die andre Ansicht findet hier das Verbot der gleichzeitigen Polygamie. An eigentliche Vielweiberei ist nicht zu denken, wenn es nicht etwa bei den Neubekehrten doch möglich gewesen ist, daß sie aus ihrer heidnischen Vergangenheit zwei oder noch mehr Frauen hatten. Andere verstehen unter der hier verbotenen Polygamie diejenige, welche durch schriftwidrige Scheidung und Wiederverheiratung entsteht. Bei der leichtfertigen Praxis des Heidentums in Ehesachen konnte es solche Bigamien häufig geben. Man könnte auch, wie Luther gethan, die Stelle in dem Sinn als Verbot jeglicher Polygamie verstehen, daß man jedes unerlaubte und unsittliche Verhältnis zu einer andern Person als zu seiner Ehefrau verboten findet. Der Sinn wäre dann, daß das eheliche Leben der Geistlichen ein unanstößiges sein soll. Man könnte aber dagegen sagen, daß das zu selbstverständlich sei, daß ein Geistlicher kein Ehebrecher sein soll, als daß der Apostel es hier noch habe verbieten wollen. Doch kann man darauf erwidern, es sei auch selbstverständlich, daß der Geistliche kein Weinsäufer, kein Schläger sein solle und doch verbietet dies der Apostel auch. Nur so ist dann die Forderung μιᾶς γυναικὸς ἄνδρα gleichartig mit v. 4, wo von dem Bischof auch nichts mehr gefordert wird, als von jedem christlichen Hausvater gefordert wird, nämlich daß man rücksichtlich seines Familienstandes, seiner Kinderzucht, seines häuslichen Lebens ihm nichts vorwerfen könne. Was die Auffassung der Stelle als eines Verbotes der successiven Polygamie anlangt, so entsteht gleich die Frage, warum dem Geistlichen verboten ist, was jedem andern Christen gestattet ist, und zwar nicht nur dem Manne, sondern auch den Frauen und Witwen, 1. Kor. 7, 8. 9. 39. 40; 1. Tim. 5, 14. Gegenüber dieser apostolischen Weisung wird es doch nicht ins Gewicht fallen, daß bei den Griechen und Römern es für rühmlich galt, wenn eine Frau nach dem Tod ihres Mannes im Witwenstande blieb. Warum sollte den Geistlichen verboten sein, was jedem andern Christen, ja jeder Christin, wenn sie Witwe geworden war, frei stand? Man könnte darauf erwidern: von den Geistlichen werde eben eine höhere Stufe sittlicher Vollkommenheit gefordert. Aber die Forderung, daß er kein Weinsäufer sein soll, daß er seinem Hause wohl vorstehe, ist doch nicht derart, daß dadurch eine höhere sittliche Vollkommenheit bezweckt würde, als sie von jedem christlichen Hausvater erreicht werden soll. Und was die Auslegung der alten Kirche anlangt, die allerdings diese Stelle als ein Verbot der sogenannten successiven Polygamie auffaßte, so| wird sie für einen nicht so schwer ins Gewicht fallen, der sich erinnert, wie schon ein apostolischer Vater, Athenagoras, in unevangelischer und schriftwidriger Strenge so weit ging, daß er die zweite Ehe ein adulterium honestum nannte. Ein Mann, wie Hieronymus, der so sehr geneigt war, das jungfräuliche Leben zu überschätzen, bezeugt doch, daß zu seiner Zeit die Ehe verwitweter Priester, ja sogar die von Bischöfen, keine Seltenheit gewesen sei. Und von demselben Hieronymus stammt eine zweite treffliche Bemerkung, die sich gegen die angebliche Vollkommenheit des monogamus im Vergleich zu dem digamus richtet. Er führt ein Beispiel an: ein junger Mann habe seine Frau verloren, hierauf eine zweite geheiratet, die ihm auch sofort durch den Tod entrissen worden sei, worauf er dann die übrige Zeit seines Lebens enthaltsam und ehelos geblieben sei; ein anderer habe bis in sein Alter in der Ehe und in geschlechtlichem Umgang mit seinem Weibe gelebt. Welcher sei nun enthaltsamer gewesen?

 Aus diesem Grunde wird man also nicht nur kein fremdes Gewissen durch eine zweifelhafte Auslegung binden dürfen, sondern auch selbst, wenn man in diesem Falle wäre, nicht unnötig sich ein Gewissen machen, da, wenn ein Gebot nicht deutlich ist, man doch unmöglich verpflichtet sein kann, die strengere Auffassung wählen zu müssen. In der früheren Zeit der lutherischen Kirche war Wiederverheiratung die Regel, cf. Calov in Wittenberg; Löhe hielt Nichtwiederverheiratung für das Bessere, vollzog aber bei einem sich wieder verheiratenden Geistlichen auf Ersuchen selber die Trauung.

 Schwierigkeit macht 1. Tim. 5, 9, wo von der auf Kosten der Gemeinde zu erhaltenden Witwe gefordert wird, daß sie sei ἑνὸς ἀνδρὸς γυνή. Vielleicht ist diese Bestimmung zu verstehen nach dem, was oben von spartanischen Verhältnissen erwähnt ist, daß der Ausdruck nur besagen soll: die in Monogamie gelebt hat. (Wir dürfen, trotz des Gebrauchs der Wiederverehelichung, doch sagen, daß bei uns die Monogamie herrsche.) Sodann wird eine Frau, welche das Unglück hatte, früh ihren Mann zu verlieren und dann nach des Apostels Anweisung 1. Tim. 5, 14 handelte, kaum um deswillen untüchtig für jene Ehrenstellung geworden sein.

 5. Der jungfräuliche und der Witwen-Stand.

 Der jungfräuliche Stand ist gleich dem ehelichen von Gott geschaffen und darum gleicher Ehren wert und gleicher Heiligung fähig. Nur wenn beide Stände geehrt werden, steht jeder von beiden in Blüte.| Die Römischen haben die Ehe gegen das Cölibat der Geistlichen, Mönche und Nonnen hintangesetzt, zu nicht geringem Schaden derselben. Die Reformation hat den ehelichen Stand zu vollen Ehren gebracht. Aber der Gegensatz hat eine Einseitigkeit erzeugt, daß man den jungfräulichen Stand als Stand verächtlich behandelt. Es ist in protestantischen Schriften, selbst öffentlich in Agenden, in Kirchenordnungen die Ehe als Gebot angesehen und behandelt worden nach 1. Kor. 7, 2, während zwar der Mensch zur Ehe geschaffen und befähigt ist, es aber doch in seiner Macht und Entscheidung steht, ob er heiraten will oder nicht. Die Ehe gehört nicht zu dem Gebotenen, sondern zu dem Erlaubten, sonst müßte Nichtheiraten, wenn keine äußern Hindernisse bestehen, Sünde sein. Es ist nicht ein Grundsatz der Reformatoren, aber es hat sich, weil kein Gegengewicht gegeben war, wie von selbst in der protestantischen Kirche die allgemeine Meinung gebildet, es sei ein Unglück, wenn jemand nicht verheiratet sei, der Zweck des Lebens sei verfehlt, namentlich beim Weibe. Diejenigen, welche aus freier Wahl ehelos blieben, sind mit einer gewissen Geringschätzung angesehen und als Sonderlinge behandelt worden. Das kommt daher, weil die lutherische Kirche keine Gelegenheit hatte, den Segen und die Herrlichkeit eines reinen und christlichen Cölibats aus eigner Erfahrung kennen zu lernen. Seitdem die Mission und die Diakonie eine gegenteilige Erfahrung gibt und die Notwendigkeit eines solchen Standes für gewisse Fälle zeigt, wird auch das 7. Kapitel des 1. Korintherbriefes wieder recht verstanden und ist die Erwählung des jungfräulichen Standes wieder mehr zu Ehren gekommen, wenn das gleich noch nicht so geschieht, wie es zu wünschen ist. Es gibt bei uns auch außerdem ein Cölibat, aber ein unfreiwilliges. Ist das freiwillige recht gewürdigt neben der Ehe, so geht auch auf das unfreiwillige ein verklärender Schein und heiligende Kraft aus. Wenn darin Gottes Wille und Fügung erkannt wird und die göttlichen Gedanken dazu gegeben werden (Matth. 19, 12; 1. Kor. 7), die zur Verherrlichung des ehelosen Standes dienen, so wird auch dieser Stand gehoben, es wird dem Christen im betreffenden Fall leichter gemacht, die Anfechtungen auf diesem Gebiet zu überwinden. Das übt einen mächtigen Einfluß auf unsre gesamte Jugend aus für die Zeit, bis sie in die Ehe tritt. Der einzige Gedanke, daß alle Sehnsucht nach der Ehe ersetzt werden könnte dadurch, daß sich die Seele in ein bräutliches Verhältnis zu Christo begebe und sich Gott verloben könne, hat| Macht genug, den ehelosen Stand erträglich, ja lieb zu machen und ihn zu reinigen und zu heiligen, und die Gabe der Jungfrauschaft in vielen zu wecken. Dieser Grundsatz hat Einfluß auf die ganze Erziehung der Jugend, speziell der Töchter, die nicht für die Ehe, sondern für den jungfräulichen Stand, in dem sie nach Gottes Willen stehen und vielleicht auch bleiben sollen, erzogen werden sollen, und die dadurch geschickter für die Ehe werden, wenn sie nach Gottes Willen in denselben eintreten sollen und wollen (cf. Löhe, Vorschlag zur Vereinigung lutherischer Christen für apostolisches Leben, pag. 70).
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 Der jungfräuliche Stand ist gleich dem ehelichen von Gott geschaffen und darum sind beide gottgefällig, gleicher Ehren wert und gleicher Heiligung fähig. An und für sich ist kein Stand höher als der andere, sind sie beide sittlich gleich und der Unterschied, der besteht, ist nur ein natürlicher. Sittlichen Wert erhalten beide Stände erst durch die Art und Weise der Führung. Man kann sagen: im ehelosen Stand kann man ungeteilter das eigene ewige Wohl und das Interesse des Reiches Gottes fördern; man braucht im Reich Gottes auch milites expediti. So wahr dies ist, so darf man doch andernteils nicht vergessen, daß die Ehe eine große Schule göttlicher Erziehung ist. Der ehelose Stand ermöglicht, sich mehr der Betrachtung, einem beschaulichen und doch auch wieder thätigen Leben im Reiche Gottes zu widmen, aber die Ehe stellt auch eine Aufgabe dem Menschen: in dem Zusammenleben mit dem andern Ehegatten und in der Pflicht, sich gegenseitig zu tragen, abgesehen von all dem Kreuz, das Gott in den Ehestand gelegt. Man kann und soll in beiden Ständen seiner sittlichen Vollendung nachjagen, jeder Stand hat seine eigentümlichen Förderungsmittel, die dem Christen zu seiner sittlichen Vollendung dienen. Wenn aber auch der eheliche und ehelose Stand sittlich gleich stehen, nämlich an und für sich, so muß man doch sagen, daß das Geschenk der Virginität größer ist als die Gabe des ehelichen Lebens; so Melanchthon in der Apologie p. 242, 36 virginitas donum est praestantius conjugio, cf. Amsdorf. Im Altertum hat man den ehelosen Stand über den ehelichen gesetzt. In dieser Übertreibung lag doch auch eine Wahrheit. Denn einmal ist es wahr, daß seit dem Sündenfall der geschlechtliche Verkehr eine Seite hat, die jeden sittlich fühlenden Menschen mit Scham erfüllen muß (Luthers Wort von dem morbus comitialis); zum andern ist der ehelose Stand in der That eine Anticipation des Zukünftigen, des engelgleichen| Lebens in der Ewigkeit. Luk. 20, 35. 36. Thatsache ist es ja auch, daß Gott Adam als einen geschaffen, daß der HErr und seine Mutter (?) im jungfräulichen Stand gelebt haben. Sogar die Heiden haben die Virginität als etwas Höheres angesehen: die Vestalinnen bei den Römern, die weissagenden Jungfrauen bei den Germanen. Warum soll überhaupt der Verzicht auf das Erlaubte hier allein nicht höher stehen als der Gebrauch desselben? Freilich lebt sich die menschliche Persönlichkeit erst aus in der Ehe. Der Reichtum der Pflichten, Freuden und Leiden, der im ehelichen Leben liegt, bleibt dem Ehelosen verschlossen, manche Seite der männlichen und weiblichen Individualität bleibt unentwickelt ohne die Ehe. Trotz dieses Mangels aber muß man nach 1. Kor. 7 zugestehen, daß, wenn die Wahl des ehelosen Standes in Beziehung gesetzt wird zum Dienst des Reiches Gottes, in Zusammenhang steht mit einem sonderlichen Beruf im Reich Gottes, also nicht Sache des individuellen Beliebens, der Trägheit und Bequemlichkeit und darum nicht zwecklos ist, daß dann der ehelose Stand zweifellos das Höhere und Bessere ist. So auch Frank: „Immerhin ist es möglich, und hierin liegt ein weiterer Kern der Wahrheit und wird in gewissen Fällen auch der Fall sein, daß in solchem Verhalten, nämlich im Ehelos-bleiben, ein höheres Maß christlicher Vollkommenheit und eine auf sonderlicher Reife des Charakters beruhende Tugend sich kundgibt. So war es ein Zeichen höherer christlicher Vollkommenheit, daß Paulus die Ehelosigkeit in ihrer Bedeutung für seinen Beruf erkannte und durchführte.“

 Näheres über die freie Erwählung des jungfräulichen Lebens siehe unten im Lehrstück vom Erlaubten.

 Der Witwenstand vereinigt sozusagen beide Stücke; denn er bringt die Erfahrung des ehelichen Lebens mit und tritt gewissermaßen wieder in den jungfräulichen Stand ein. Was vom letzteren gilt, gilt auch größtenteils vom Witwenstand, der ebenso seine eignen Versuchungen und Leiden hat wie der jungfräuliche. Während dort das Verlangen nach der Ehe Not macht, macht hier die Entwöhnung und Vereinsamung Not. Namentlich haben die Witwen einen harten Stand, aber auch den Trost, daß sie Gottes besondere Schützlinge sind, wie die Waisen, Deut. 10, 18; Ps. 68, 6; Exod. 22, 22. u. s. w. Der Witwen sich annehmen, ist ein Gott wohlgefälliger Dienst, Jak. 1, 27. Sie sollen vor allem versorgt werden, 1. Tim. 5, 3. Wie eine Witwe ihren Stand Gott wohlgefällig führen soll, zeigt St. Paulus, 1. Tim. 5, 5 ff.| Außerdem ist es die Zucht und die Keuschheit, die diesem Stand geboten ist, wie dem jungfräulichen, während die Wollust diesen Stand besonders schändet, 1. Tim. 5, 6. Daher sollen die jungen Witwen in der Regel heiraten, wenn sie können, 1. Tim. 5, 14. Ein sonderliches Vorbild gottseliger Witwenschaft ist Hanna, Luk. 2, 36. 37. Die gottseligen Witwen sollen zum Diakonissendienst verwendet werden, 1. Tim. 5, 9.
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 Was dem jungfräulichen Stande obliegt, ist sich selbst in Zucht zu nehmen, was das geschlechtliche Leben betrifft. Die Natur des Menschen ist sündig und verkehrt, und nichts ist durch den Sündenfall mehr in Unordnung und Verwirrung geraten als das geschlechtliche Leben. Zu der Zeit, da sich diese Seite der Natur entwickelt und zum Bewußtsein kommt, ist der Jüngling, das Mädchen unliebenswürdig, mutwillig und ausgelassen und von wegen des grünenden Fleisches in beständiger Versuchung. Das Geheimnis, das die Ehe umschließt und umschließen soll, reizt die Neugier der Jugend, und es entscheidet sich in diesen Jahren, welchen Weg der Mensch geht, ob er seinen fleischlichen Neigungen und Trieben sich hingibt, oder ob er lernt, mit Kraft des Geistes sich selbst zu beherrschen, oder mit andern Worten: keusch und züchtig zu leben (6. Gebot). Erst wenn dieser Kampf bis zur Entscheidung durchgekämpft ist, gibt es christliche Jünglinge, christliche Jungfrauen, denen der jungfräuliche Sinn dann als Tugend und Gnadengabe zufällt und welche die Herzensreinheit lieblich schmückt und ziert, denen sie aus den Augen und der ganzen Haltung herausleuchtet, 1. Tim. 5, 22; 2. Tim. 2, 22; Phil. 4, 8; 1. Tim. 4, 12; Gal. 5, 22. – Keusch ist, wer den eignen Leib und die eigne Seele vor böser Lust rein zu halten trachtet (Löhe, Randglosse zum 6. Gebot). Es ist kein Reinsein, sondern eine Lust an und ein Streben nach Reinheit, das keine Befleckung leiden mag. „Gott will vornehmlich das Herz rein haben“ (Luther), daß es nicht ein Tummelplatz unreiner Bilder und Leidenschaften sei, sondern mit göttlichen Gedanken und heiligen Bildern erfüllt. Das geht besonders die Phantasie an, die geheiligt werden muß. Was Luther von einem Altvater gelernt hat, der sagt: „Ich kann nicht wehren, daß mir ein Vogel über den Kopf fliegt, aber ich kann hindern, daß er mir ins Haar nistet oder die Nase abbeißt,“ das gibt das rechte Bild von der Herzensreinheit in diesem sündlichen Fleisch; „denn,“ fügt Luther hinzu, „also steht auch nicht in unsrer Macht, dieser oder jener| Anfechtung zu wehren, daß uns nicht böse Gedanken einfallen, wenn man es nur beim Einfallen-bleiben läßt (Erbsünde und ihre Äußerungen), daß man’s nicht einlasse, ob sie gleich anklopfen, und wehre, damit sie nicht einwurzeln, damit nicht ein Vorsatz oder Bewilligung (wirkliche Lust) daraus werde. Aber nichtsdestoweniger ist es gleichwohl Sünde, aber in die allgemeine Vergebung gefaßt.“ Züchtig lebt, wer andre durch sein eignes Beispiel nicht zu verbotener Lust, sondern zu einem reinen und heiligen Wandel reizt (Löhe, Hausbuch I, 6. Gebot), Tit. 2, 12; 2, 1–4. 6. Zu einem züchtigen Wandel gehört auch das gesetzte und sittige Benehmen im Umgang mit dem andern Geschlecht, Phil. 4, 8; die sittige, bescheidene Kleidung, besonders der Frauen, deren wahren Schmuck St. Petrus beschreibt 1. Petr. 3; Reinheit in Gebärden und und Worten, Eph. 4, 29. Das Lob des jungfräulichen Lebens ist zu lesen Apok. 14, 4. Ein Beispiel der Reinheit des Herzens und Wandels, der Keuschheit und Zucht ist Joseph, Gen. 39, 9; vor allem aber die jungfräuliche Mutter des HErrn und, bis zur Sündenreinheit, ihr hochgelobter Sohn.

 6. Die Verirrungen und Greuel des geschlechtlichen Lebens sind unzählige, und Tausende gehen auf dem Weg der Unkeuschheit und Unzucht, durch Hurerei zugrunde, Gal. 5, 19; 1. Kor. 6, 9. 12–20; 1. Thess. 4, 3–5. Es sind Werke des Fleisches, die vom Reich Gottes ausschließen, wenn nicht Buße erfolgt; Sünden einzig in ihrer Art, weil der Mensch seinen eignen Leib, der Christ den Leib, der ein Tempel des heiligen Geistes ist, befleckt und schändet. Hurerei erzeugt auch ansteckende Krankheiten, Sir. 19, 3, und stürzt den Menschen in die tiefste Tiefe des Lasters und Verderbens, Sprüche 22, 14. Am versunkensten sind die weiblichen Wesen, die aus der Hurerei ein Gewerbe machen und unzählige unschuldige Herzen verführen und die Verführten nicht loslassen. Sie sind eine Pest, eine Seuche, ein Verderben ganzer Völker und bringen Gottes Strafgericht, wie bei Sodom, herbei. (Die Prostitution, namentlich in den Weltstädten: Berlin, Wien, Paris, London.)

 Es gibt aber auch Wollustsünden andrer Art, zum Teil noch unnatürlicher und greulicher als die Hurerei: die Knabenschänderei (Päderastie), die bei den Griechen zu Hause war, Röm. 1, 27, und das noch unnatürlichere gleiche Laster beim Weibe, Röm. 1, 26. Was aber das Mögliche zu übersteigen scheint, hat die Verworfenheit des Menschen ausgedacht: die Unzucht mit den Tieren, die Sodomiterei. Im Alten| Testament war die Todesstrafe darauf gesetzt, Lev. 20, 15. Noch allgemeiner sind die Wollustsünden, die stummen Sünden, die Onanie, da einer mit sich selbst Unzucht treibt und es allmählich nicht mehr lassen kann, bis er sich selbst an Leib und Seele zugrunde gerichtet hat, die Lustseuche, wie sie St. Paulus nennt, 1. Thess. 4, 5. Irren- und Blödenanstalten sind mit Opfern dieses Lasters angefüllt. Eltern und Lehrer müssen ein scharfes Auge haben auf die Kinder, besonders auf die Verführer in den Schulen und die Gelegenheit an heimlichen Orten. Es gibt besondere Kennzeichen dieser Seuche und seelsorgerliche und ärztliche Verfahren, sie zu heilen und zu heben. Beichten und Bekennen gegenüber Vertrauenspersonen ist das erste und wichtigste Mittel (cf. Kapff, Warnung eines Jugendfreundes). Die völlige Heilung von allen Wollustsünden gibt allein der lebendige Glaube an das Evangelium und eine gründliche Bekehrung, in welcher die Seele die reinigende und umwandelnde Kraft des Blutes Christi erfährt.


§ 56.
Die Familie, die zweite natürliche Gemeinschaftsform.

 1. Die natürliche Basis.

 Die Familie ist eine Frucht der Ehe. Die Ehe ist ihre Basis. Vater, Mutter, Kinder: das ist das neue Verhältnis, das aus der Ehe kommt und die Familie bildet, die sich dann in gerader Linie und in Seitenlinien ausbreitet wie ein Baum, zu einem Geschlecht, welches durch gemeinsame Abstammung oder Heirat miteinander verwandt ist (Blutsverwandtschaft, Schwägerschaft). Man nennt eine solche Verwandtschaft auch Familie im weitern Sinn, Freundschaft, Sippschaft. – Wir handeln zunächst von der Familie im engern Sinn.

 Der Unterschied zwischen Ehe und Familie ist der, daß die Ehe durch freie Wahl entsteht, die Familie aber bringt die Angehörigen in ein Verhältnis der Naturbestimmtheit, die jede freie Wahl ausschließt. Die Gatten wählen einander, die Familienglieder sind von Gott einander gegeben. Der gemeinsame Ursprung bewirkt eine natürliche Zuneigung, die verwandtschaftliche Liebe: Vater-, Mutter-, Eltern- und Geschwisterliebe. Das Fehlen derselben ist Unnatur; doch kommen in den Familien, namentlich unter Geschwistern, nicht sehr selten Antipathien vor.

 2. Die sittliche Aufgabe der Familie ist:

 die natürliche Zuneigung unter ein höheres Gesetz, das der Sittlichkeit oder des höchsten Lebenszwecks, zu stellen; das pure| Wohlgefallen aneinander (oder auch das Mißfallen) ist noch kein sittliches Verhältnis, das ist Natur, das haben im gewissen Sinn die Tiere auch, darum redet man z. B. von der Affenliebe, die Eltern zu ihren Kindern haben.

 Die natürliche Liebe muß sich oft verleugnen und ganz andre Formen, scheinbar selbst des Hasses, annehmen, wenn es das leibliche und geistliche Wohl der Familienglieder, namentlich der Kinder, gilt. Der strafende Ernst ist die verklärte elterliche Liebe und hat mehr sittlichen Wert als die bloße Zuneigung. Der Abneigung der einzelnen Glieder der Familie tritt das Gebot der Liebe gegenüber; und sie lernen auch das mit dem Willen lieben, was die Natur nicht liebenswürdig findet. Summa: es ist das Verhältnis der Familienglieder zu einander eine treffliche Übungsschule der selbstverleugnenden Liebe. Erst so bekommt die verwandtschaftliche Liebe sittlichen Wert und erscheint doppelt schön, wenn die Natur das Gewand der Tugend angezogen hat.

 3. Die christliche Familie.

 Eine Stufe höher als die sittlich veredelte Familie steht die christliche Familie. Hier wird die Natur nicht bloß zur Tugend, sondern durch übernatürlichen Einfluß der Gnade wiedergeboren, und wenn es gelingt, wird aus der natürlichen Verwandtschaft eine geistliche, Matth. 12, 46–50. Wenn die Familienglieder zugleich Gotteskinder sind, so sind sie unter sich geistliche Brüder und Schwestern (die Familie in Bethanien, die heilige Familie), und das natürliche Verhältnis, in das die Familienglieder von Gott zu einander gesetzt sind, wird geheiligt und verklärt; denn die leibliche Verwandtschaft hat zunächst nur eine zeitliche Bedeutung, erst die geistliche Verwandtschaft macht, daß die gläubigen Familienglieder alle im Himmel wieder zusammenkommen und ewig miteinander im seligen Leben verbunden bleiben. Es läßt sich kein schöneres Los denken, als wenn einer Familie das Glück zuteil wird, lauter oder wenigstens meist gläubige Familienglieder zu haben, während es umgekehrt sehr traurig ist, wenn das ewige Los, das einem bestimmt ist, die Familienglieder auseinanderreißt, die schönsten, zartesten Bande auf ewig trennt. Das vollkommene Glück einer im Glauben geeinten Familie liegt in der Ewigkeit. Aber auch hier ist schon das Glück groß, wenn in einer Familie Christus und sein Geist wohnt, wenn die Familienglieder einander in den wichtigsten Lebensfragen verstehen und einander auf dem Weg zum ewigen Leben fördern. Die| geistliche Vollendung der Familie kommt darin zum Ausdruck, daß aus ihr eine Hausgemeinde, eine ecclesia Christi im kleinen wird. Freilich kommt oft durch ein einziges Glied ein trauriger Kontrast in die Familie, wenn sich eine Feindschaft wider Christum entwickelt, Matth. 10, 35. 36. Daran zeigt sich, daß die Gnade über der Natur steht und das ewige Leben wichtiger als das zeitliche und die geistliche Verwandtschaft mächtiger und wichtiger als die leibliche ist. (Innere Geschichte der Familie Jakobs; die Brüder des HErrn, Joh. 7. und Act. 1.)

 4. Die Organisation der Familie.

 Das Verhältnis der Familienglieder zu einander ist ein von Gott gesetztes und gegliedertes. Die Glieder stehen zu einander im Verhältnis der Unter-, Über- und Gleichordnung. An die Familienglieder im engern Sinn schließen sich helfend und somit untergeordnet oder im verwandtschaftlich engeren, häuslich loseren Bande die Familienglieder im weitern Sinn an.

 a. Das Verhältnis der Kinder zu den Eltern ist ein Verhältnis der Unterordnung. Es beruht einesteils natürlich darauf, daß die Kinder den Eltern ihr Leben und ihre Erziehung verdanken, andernteils auf der Würde und Majestät (Luther, Großer Katechismus, pag. 416), die Gott den Eltern gegeben, demgemäß sie Gottes Stelle auf Erden in ihrem Hause vertreten. Darauf gründet sich das 4. Gebot: „Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren“, d. h. sie in der ihnen von Gott gegebenen Würde anerkennen und sie nach dem Maß derselben hoch und teuer achten. (Löhe, Hausbuch I, 4. Gebot). In Ehren halten aber heißt: „mit Werk und Benehmen beweisen, daß man jemand im Herzen ehrt“. Auf dieser Ehrerbietung, also auf göttlichem Grunde, ruht der Gehorsam der Kinder, welcher die Befehle der Eltern ausführt, sowie das Dienen, das „allewege, auch ohne Befehl, den Eltern zu willen ist und zu Gefallen lebt“, Eph. 6, 2 und 3 (Salomo, 1. Kön. 2, 19). Die Pflicht des „Lieb- und Werthabens“ bezieht sich vorzüglich auf die unzähligen und unschätzbaren Wohlthaten, welche die Kinder den Eltern verdanken und welche eine entsprechende Gegenleistung, vor allem aber Gegenliebe erheischen. Die kindliche Liebe ist pietas, eine Art Religion, weil sich in dem Verhältnis der Kinder zu ihren Eltern das Verhalten Gottes zu seinen Kindern wieder abspiegelt. Die kindliche Pietät und Liebe ist einer der mächtigsten Antriebe zum Guten und Göttlichen, wie eine der mächtigsten Schutzmauern gegen das andringende Böse. Sie ist für| manchen Menschen der einzige sittliche Halt. Doch braucht sie auch Läuterung und Verklärung durch das Evangelium (Eph. 6, 1 ἐν κυρίῳ), daß sie nicht unter Umständen eine widergöttliche werde, Matth. 10, 37. Weil nun so viel an diesem Gebote liegt, so hat Gott auch ein großes Gewicht auf seine Erfüllung gelegt, er hat ihm vor andern eine besondere Verheißung gegeben, 2. Mose 20, 12; Eph. 6, 2 und 3: „auf daß dir’s wohlgehe und du lange lebest auf Erden“, die er auch, wie die Erfahrung aller Zeiten beweist, herrlich erfüllt, wie er auch den Fluch, den er auf die Impietät gegen die Eltern gelegt, zu aller Zeit pünktlich und schrecklich erfüllt, Gen. 9, 25; Sprüche 20, 20; 30, 17. Ein beharrlich unverbesserlicher Sohn oder der seinen Eltern fluchte, wurde im Alten Testament mit dem Tode bestraft, Deut. 21, 18–21; Exod. 21, 15. 17.
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 b. Das Verhältnis der Eltern zu den Kindern ist ein Verhältnis der Überordnung, wie aus dem oben Gesagten hervorgeht, aber auch ein sehr verantwortungsvolles. Ihnen ist gegeben die volle elterliche Gewalt und Herrschaft über die Kinder. Ihr Wille ist maßgebend für die Kinder. Die letzteren haben in dem Willen der Eltern Gottes Willen zu erkennen und darnach zu thun, es sei denn, daß die Eltern etwas wider Gottes ausdrückliches Gebot und Willen verlangten, Act. 5, 29; 4, 19. Ihr Wille und ihre Macht ist beschränkt durch Gottes Wort, ist also keine unbedingte Macht. Daher brauchen christliche Eltern ihre Macht in der Furcht Gottes, namentlich ihr Strafrecht, Eph. 6, 4; Kol. 3, 21; Hebr. 12, 7. Jede Willkür und Leidenschaft werde mit Ernst bekämpft und der Zorn werde temperiert. Darum hat Luther gesagt: „Man muß die Rute in ein Vaterunser einwickeln“. So wenig aber der barmherzige Sinn beim Vater fehlen darf, Ps. 103, 13, auch wenn er züchtigt, so wenig darf der durchgreifende, strafende Ernst fehlen, wenn es notwendig ist, Sprüche 23, 13; 13, 24, sonst geht es an Eltern und Kindern aus wie bei Eli, 1. Sam. 2, 29; 4, 15–18. Die natürliche Liebe der Eltern, namentlich bei den Müttern, muß verklärt werden durch das Bewußtsein ihres hohen Berufs. Sie müssen die, welche ihrem Herzen so nahe stehen, auch von ihrem Herzen fernen können. Als leitender Grundsatz muß den Eltern bei Ausübung ihrer Elternmacht vor Augen stehen: „Die Kinder gehören nicht den Eltern, sondern dem HErrn“. Wo die Eltern deshalb mit ihrem Willen einen entscheidenden Einfluß auf den Lebensgang ihrer Kinder ausüben, wie z. B. bei der Wahl ihres Berufs, bei Heirat, 1. Kor. 7, 36. 38, bei welcher letzteren der bestimmende| Einfluß auf die Tochter naturgemäß größer ist als auf den Sohn, der an dieser Stelle auch gar nicht erwähnt ist – da müssen die Eltern nicht ihr eignes Interesse und ihren eignen Sinn zur Norm machen, sondern das Wohl ihrer Kinder.

 Insbesondere müssen die Eltern in Beziehung auf ihre elterliche Macht einen Unterschied machen zwischen unmündigen Kindern und solchen, welche erwachsen und selbständig sind. Da wird sich ihr Befehl meist in einen Rat verwandeln müssen, da hat ihr Beruf der Leitung aufgehört, ähnlich wie Gott die unter dem Gesetz stehenden Unmündigen anders behandelt als die durch das Evangelium mündig gewordenen. Vergleiche auch Joh. 9, 21. Die Verkennung dieses Unterschieds bringt viel Wehe in die Häuser, besonders wenn Mütter und Schwiegermütter bei verheirateten Kindern wohnen und ihren Anteil am Hausregiment nicht lassen wollen. Hier ist Naemi und Ruth ein Vorbild, für das ganze Verhältnis aber nach allen Seiten Maria, Jesu Mutter, Luk. 2, 48; Joh. 2, 5.

 Die Eltern haben aber nicht allein große Macht, sondern auch große Verantwortung, denn es ist ihnen anvertraut:

 aa. Die Erziehung der Kinder. Diese bezweckt das leibliche, geistige und geistliche Gedeihen der Kinder. Den Eltern liegt, auch wenn es ihnen noch so schwer wird, die Sorge für die Ernährung, Bekleidung, Gesundheit wie für die sonstige leibliche Pflege ob. Es hat Vater und Mutter jedes seinen besondern Anteil an diesen Sorgen. Und wäre nicht das Wunder göttlichen Segens bei der Haushaltung, so wäre es oft nicht wohl möglich, das Nötige zu beschaffen.

 Aber die Erziehung muß ja auch zugleich eine geistige sein. Es sollen die Kräfte, Gaben und Anlagen, die im Kinde schlummern, geweckt und die Kinder ihrem zukünftigen Beruf zugeführt werden. Dazu bedürfen die Eltern fremder Hilfe, aber doch werden sie die geistige Bildung ihrer Kinder in einem gewissen Maß immer überwachen müssen und sie zum Gehorchen, zur Ordnung und Pünktlichkeit, zur Reinlichkeit und zum Fleiß ernstlich anhalten müssen. Das Haus muß die Vorschule zur Tüchtigkeit im künftigen Beruf sein.

 Wichtiger als die leibliche und geistige ist die geistliche Erziehung oder die Erziehung fürs Himmelreich. Die Basis der geistlichen Erziehung ist die Taufe; die durch die Taufe in das Kind gelegten Gnadenkräfte allmählich zu erwecken und das im Kind befindliche geistliche Leben zu pflegen, es, wenn es soweit entwickelt ist, zum Gebet anzuleiten,| mit ihm zu beten, ihm Sprüche, geistliche Lieder und Gebete einzuprägen, ihm die Bedeutung des geistlichen Tageslaufs, der Woche, der Feste und die Bedeutung der großen Heilsthatsachen nahe zu bringen: das ist die Aufgabe christlicher Eltern, namentlich der Mutter, die im Religiösen den größten Einfluß auf die Kinder ausüben können und je und je ausgeübt haben (Löhe, Hausbuch, Anhang: Betbüchlein. Vom Auswendiglernen). Wahrhaftigkeit, Glaube, Keuschheit sind die Kardinaltugenden der Jugend. Tiefer Abscheu vor Lüge, vor Unglauben und Unkeuschheit muß den Kindern eingeflößt werden (Thiersch, Christliches Familienleben pag. 157).
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 Hauptgrundsatz der Erziehung ist, die Kinder nicht für sich, sondern für den HErrn zu erziehen. Sie sind Jesu teuer erkauftes Eigentum: „auf daß ich sein eigen sei“, nicht das der Eltern, daß sie derselben nach ihrem Belieben gebrauchen dürften. Das ist auch der Eltern Trost, wenn Gott sie ihnen vor der Zeit wieder nimmt, und eine Mahnung an sein Recht. Daraus folgt weiter: die Kinder sollen als Kinder Gottes angesehen und behandelt werden, das ist vorwiegend evangelisch, von wegen der Taufe, wenn auch die ihnen anklebende und mit ihnen wachsende Sünde die Zucht des Gesetzes notwendig macht und sie oft in den Vordergrund treten heißt. Daraus ergibt sich ein weiterer Grundsatz: die Eltern sind nur Gottes Gehilfen bei der Erziehung, 1. Kor. 3, 9; 2. Kor. 6, 1. Wie schwer ist die Erziehung, wie unmöglich in den meisten Fällen für Menschen! Wie tröstlich daher jene Wahrheit! Da werden die pädagogischen Kunststücke wegfallen und geistliche Mittel an ihre Stelle treten. – Ein weiterer Grundsatz, der aus dem vorigen fließt, ist der: die Erziehung besteht mehr in der Bewahrung und Abwehr des Bösen als in der Anerziehung des Guten. Das Unkraut im Garten muß ausgejätet werden, damit der göttliche Same, der in das Kind gelegt ist, möglichst ungehindert aufgehen und gedeihen könne. Wenn man zuviel machen und gestalten will, kann man leicht viel verderben. Doch schließt dies nicht aus, daß man die Kinder zum Guten gewöhnt. Ein Hauptgrundsatz der Erziehung ist der: der Mensch muß zur Freiheit erzogen werden. Dazu bedarf das Kind, der junge Mensch eines gewissen Maßes von freier Selbstbewegung und darum Vertrauens (Maria und Joseph, Luk. 2, 43. 44). Zu ängstliche und pedantische Überwachung macht unselbständige Menschen, welche, wenn sie die Schranken und Fesseln der Aufsicht los sind, desto ungebundener und zügelloser| sich benehmen. Damit hängt noch ein sehr wichtiger Grundsatz der Erziehung zusammen: es muß das Kind nach seiner Eigentümlichkeit seelsorgerlich erzogen werden, d. h. so, daß man es in seiner Eigentümlichkeit kennen lernt und dieselbe nicht etwa vernichtet, sondern zu reinigen, zu läutern und zu kräftigen sucht. Endlich soll die Erziehung beherrscht sein vom Geist der Einfachheit und Einfalt und soll geschehen in Hoffnungsfreudigkeit. Möglichste Einfachheit der Erziehung ist anzuraten; auch in besseren Verhältnissen müssen die Kinder an Entbehrung und Entsagung gewöhnt werden. – Man lasse die Kinder in ihrer Einfalt und kindlichen Unbefangenheit und der ihnen so förderlichen Verborgenheit und ziehe sie nicht aus ihrer Welt heraus in das Leben und die Erregung der Erwachsenen und ihrer Geselligkeit. – Alle Erziehung sei eine hoffnungsfreudige, denn die Desperation ist der Tod alles Guten. Man gebe die Hoffnung nie auf, vor allem die Eltern nicht. In der Hoffnung spricht sich der siegreiche Glaube aus, und auch hier heißt es: „Hoffnung läßt nicht zu Schanden werden“. Man kann zwar nicht in allen Fällen auf Erfolg rechnen; es haben oft fromme Eltern ungeratene Kinder (Absalom). Es bleibt da den Eltern nichts übrig als Ergebung in Gottes Willen.

 Die Mittel zur Erziehung sind innere und äußere. Erziehungsmittel muß das ganze häusliche Leben mit all seinen Vorkommnissen sein.

 1. Die Erziehung fängt zuerst an mit der Gewöhnung. Die Gewöhnung ist eine hilfreiche Macht zu allem Guten, aber man hüte sich vor der Dressur und Abrichtung, welche die Kinder unwürdigerweise zu willenlosen Werkzeugen macht und den Charakter verdirbt. Die Gewöhnung ist keine innere Umwandlung des Menschen, keine Einwirkung auf das Innere des Menschen, sie reicht nicht in das Inwendige; aber immerhin ist die Gewöhnung zum Guten auch für die mündig gewordene Persönlichkeit, geschweige für das Kind, von großem Vorteil. Durch die Gewöhnung wird dem Menschen das Gute gleichsam zur zweiten Natur. Der Mensch hat an der Gewöhnung eine Stütze und eine Unterstützung seines guten Willens, eine ihn über momentane Unlust zum Guten hinübertragende Macht. Wenn einer oft nicht aufgelegt ist zum Gebet, er hat sich aber gewöhnt, täglich sein Morgen- und Abendgebet zur bestimmten Stunde zu verrichten, so trägt ihn die Gewöhnung und gute Sitte hinüber über die momentane Trägheit des Willens. Die Gewöhnung, die Übung macht das Gute| leicht, weil es da nicht in jedem einzelnen Fall eines Willensentschlusses oder einer der Trägheit des Fleisches erst abzuringenden Entscheidung bedarf, sondern weil dann der Mensch dem einmal gegebenen und nachwirkenden Impuls und Anstoß nur zu folgen braucht und so gewissermaßen unwillkürlich das Gute thut. Auch bei dem HErrn und seiner Erziehung sehen wir den Gewinn der guten Sitte. Seine Eltern gehen nach Jerusalem auf das Fest „nach ihrer Gewohnheit“. Er ging nach „seiner Gewohnheit“ in die Schule. – Die Gewöhnung nimmt den trägen Willen auf ihre Flügel und hebt ihn über momentane Unlust zum Guten hinweg und bringt ihn an sein Ziel.

 2. Zur Gewöhnung tritt mit der zunehmenden Reife mehr und mehr die Belehrung und Unterweisung. Wo es recht steht, sind die Eltern für das Kind wie die nächste, so auch glaubwürdigste Autorität und tief senken sich in das empfängliche Kindesgemüt des Vaters oder der Mutter Worte zu nachhaltiger Wirkung. Es war im Alten Testament den Eltern zur Pflicht gemacht, die Kinder in die Kenntnis der Heilsgeschichte und in die Forderungen des göttlichen Gesetzes einzuführen. Die gleiche Verpflichtung legt der Apostel Eph. 6, 4 den christlichen Vätern auf. Die Erinnerungen, die Worte des Vaters, der Mutter sind ein Schutz gegen Verführung, Sprüche 1, 8–9. 10; 4, 1–4. Sich zurechtweisen und ziehen lassen ist die Weisheit des Sohnes, Sprüche 13, 1; 31, 1. – (Timotheus 2. Tim. 3, 15.)

 Wenn aber die Belehrung und Unterweisung Erfolg erzielen soll, so müssen die Worte der Eltern durch ihr Vorbild bekräftigt werden. So ist denn ein besonders mächtiges, weil unbewußt und beständig wirkendes Erziehungsmittel[.]

 3. Das Vorbild der Eltern im Guten und ihr ganzer Wandel. Das macht auf das Kind den unmittelbarsten und bleibendsten Eindruck und der in dem Kinde so starke Nachahmungstrieb findet hier einen dankbaren und würdigen Gegenstand. Nichts wirkt dagegen verderblicher von seiten der Eltern als Ärgernisse und das Wehe, das Matth. 18, 7 über die Welt gesprochen ist, gilt doppelt den Eltern. Aber die besten Eltern haben wie alle Menschen ihre Sünden und Schwachheiten, die ihren Kindern am wenigsten verborgen sind und die sie wohl zu benützen verstehen. Da sei es ferne, daß die Eltern eine Heiligkeit und Vollkommenheit affektieren, die sie nicht haben. Am besten reden sie von ihren Sünden und Schwachheiten so, daß sie zugleich den Ernst sehen lassen, dieselben zu bekämpfen und ihre Kinder zu belehren, daß| es auf Erden kein Heiliger weiterbringe, als daß er sich ausstrecke nach Vollkommenheit. So wird Wahrheit in die Beurteilung gebracht und die Kinder lernen ihre Eltern lieben und ehren trotz der Sünden, ohne daß ihnen dieselben schädlich werden.

 Ein Erziehungsmittel sind

 4. die Strafen, die, je sparsamer sie angewendet werden und je empfindlicher sie für die Persönlichkeit des Kindes sind, desto besser anschlagen. Solche Mittel sind: vorwurfsvolle, mißbilligende, Unzufriedenheit ausdrückende Blicke, Tadel, Verweise, körperliche Züchtigung. Die Rute und der Stock sind nicht ganz entbehrliche Mittel, aber mit Weisheit und Kraft anzuwenden. Wo ein geringeres Mittel hinreicht, lasse man die stärkeren. Unarten müssen anders behandelt werden als Sünden. Man darf seine Strafmittel nicht erschöpfen, sondern muß für andere Fälle immer noch eins aufgehoben haben. Man halte die Vermahnung nicht für fruchtlos, auch wenn man nicht gleich die Frucht sieht. Man wendet sich dabei an den bessern Menschen und stärkt ihn, aber man hüte sich vor Überschütten mit Ermahnungen und hofmeistere nicht beständig an den Kindern herum, meist ein Fehler der Mütter, weil dadurch die Kraft des Wortes abgeschwächt wird und das Ohr dafür abgestumpft. In der ganzen Behandlung und besonders beim Strafen herrsche Gerechtigkeit und Unparteilichkeit, nicht Gunst und Ungunst; es sei Ernst und Liebe vereint; man lerne Maß halten mit Vermeidung jeder Übertreibung und Leidenschaft.

 5. Mehr als alle Mittel wirkt das anhaltende Gebet der Eltern für ihre Kinder und deren besondere Bedürfnisse. Dies muß überhaupt das Α und Ω bei aller Erziehung sein. Durch das Gebet werden die anderen Erziehungsmittel geheiligt und empfangen den göttlichen Segen. Durch das Gebet ruft der menschliche Erzieher Gottes Macht, der allein das Herz ändern und lenken kann, zu Hilfe. Wo die andern Mittel nicht anschlagen wollen, hilft dies oft in verzweifelten Fällen (Monika und Augustin). Dazu ist freilich oft große Geduld nötig und die Hoffnung auf endliches Gelingen. Geduld und Hoffnung sind überhaupt zwei Mächte, welche Wunder wirken bei der Erziehung.

 Wenn aber Fehler in der Erziehung gemacht werden, was dann? Es machen alle Eltern Fehler und können nicht anders, weil sie nicht ohne Fehler sind. Nur sieht man die Fehler an anderen besser als die eigenen. Jene werden oft scharf beurteilt, ohne daß man weiß, daß einem dasselbe von andern begegnet. Verständige Eltern urteilen mild von den Fehlern| der Erziehung anderer. Es läßt sich überhaupt die Erziehung nach ihren Vorzügen und nach ihren Fehlern im einzelnen Fall meist gar nicht oder nicht richtig beurteilen, weil dem Fernerstehenden die Einsicht in die Natur der Eltern, der Kinder und der Verhältnisse fehlt. Was ist aber für fromme Eltern der Trost? Daß diese Fehler in die allgemeine Sündenvergebung mit eingeschlossen sind, und daß Gott der HErr unsere Fehler zu verbessern weiß und es auch wirklich thut, wenn wir ihm die Ehre des Erziehens an unsern Kindern lassen. (Jakobs Familie.) –

 bb. Außer der Erziehung haben die Eltern auch noch die Aufgabe des Unterrichts bei ihren Kindern.

 Diese fällt in erster Linie und, was die ersten Elemente göttlicher und menschlicher Erkenntnis betrifft, den Eltern zu. (Vergleiche, was oben bei der Erziehung von der Aufgabe der Mutter gesagt ist.) Auch im Alten Testament ist diese Aufgabe ausdrücklich den Eltern gestellt, Deut. 6, 7: Die Worte, die ich dir heute gebiete – sollst du deinen Kindern (ein-)schärfen und davon reden, wenn du in deinem Hause sitzest oder auf dem Wege gehest, wenn du dich niederlegst oder aufstehest. (Die Wichtigkeit der gelegentlichen Belehrung!) Diese Pflichterfüllung hat eine wichtige Kehrseite. Sie ist ein treffliches Bildungsmittel für die Eltern (Norwegen): Docendo discimus. Je mehr die Eltern alles der Schule überlassen müssen, desto mehr nimmt die Fähigkeit zu unterrichten und die Lust dazu ab. (Die künstlichen Methoden des Unterrichts.)

 Den Eltern aber kommt zu Hilfe bei Erziehung und Unterricht die Kirche, durch den Religions- und Konfirmandenunterricht. Hier wird vollendet, was im Hause angefangen. Die Kirche muß bei ihren Getauften die Stufe der Erleuchtung zu erreichen suchen, welche zum Seligwerden resp. zum gesegneten Gebrauch der Gnadenmittel notwendig ist. Es ist Pflicht der Kirche, sich der Lämmer der Herde anzunehmen, und die Eltern, die sie zur Taufe gebracht haben, sind schuldig, dieses Werk des kirchlichen Unterrichts an ihnen durch die Kirche vornehmen zu lassen. Aufgabe der Kirche ist es, die Kinder zum klaren Bewußtsein dessen zu bringen, was für Gnade ihnen in der Taufe zu teil wurde. Aller kirchliche Unterricht und alle kirchliche Erziehung gehen von der Taufe aus und von der Annahme, daß das Kind bereits in der Gnade stehe trotz seiner Sünden. Darum muß es zum Glauben an die Vergebung der Sünden und zur Anwendung der| ihm geschenkten Kräfte des heiligen Geistes zum Guten angeleitet werden. In Übereinstimmung mit diesen Grundsätzen soll auch die häusliche Erziehung sein.
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 Weiter kommt den Eltern bei ihrer Aufgabe des Unterrichts und der Erziehung der Kinder die Schule zur Hilfe. Die Staatsschule oder eigentlich der Staat darf das ursprüngliche Recht der Kirche an die Kinder als an Getaufte nicht ignorieren. Solange die Schule in den Händen der Kirche war, konnte sie den Eltern nur als Wohlthat erscheinen und das wurde wesentlich nicht anders, solange der Staat neben der Kirche sein Oberaufsichtsrecht geltend machte, ohne die Kirche und ihre Interessen zu beseitigen. Wenn aber der Staat, wie es die Neuzeit anstrebt, ein ausschließliches Recht auf die Schule geltend macht und bestimmt, wie er die Kinder unterrichtet und erzogen haben will, so wird das Recht der Eltern über ihre Kinder, und zwar ein unveräußerliches, göttliches Recht, beeinträchtigt und Tyrannei, unter Umständen eine Gewissenstyrannei geübt und die Frage in Gang gebracht, ob der Staat ein Recht habe, die Eltern zu zwingen, daß sie ihre Kinder in die Schule schicken und dieselben so lehren lassen, wie der Staat es haben will. Der Schulzwang kann die Eltern unter Umständen zum Widerstand gegen obrigkeitliche Anordnungen nötigen. Er hat sein Gutes in normalen Verhältnissen, außerdem kann er sehr verderblich werden (cf. Lucas über Schulzwang, eine römische Schrift). Von höheren Schulen, die für einen bestimmten Beruf vorbereiten, ist hier zunächst nicht die Rede, sondern von den Schulen, die für alle sind. Unter Umständen kann die Kirche genötigt sein, selbst wieder Schulen, konfessionelle, aufzurichten, wenn der Unterricht ein christlich-konfessioneller sein soll. Dafür müssen folgende Grundsätze geltend sein: „Die Schule muß das Recht der Eltern, die ihr die Kinder anvertrauen, als ein göttliches respektieren, ohne daß sie deshalb einen Eingriff der Eltern in ihre Führung und Ordnung gestattet.“ Die Macht, die die Lehrer in der Schule haben, ist ihnen primo loco von den Eltern, dann erst von der Kirche und vom Staat übergeben worden. Sie sind nach diesen drei Seiten hin verantwortlich. „Die Schule muß zur Erziehung helfen durch Disziplin und Unterricht. Aller Unterricht, wenn er Wert haben soll, muß erziehend sein.“ „Die Schule erzieht für die Kirche, für den himmlischen Beruf, wenn sie rechter Art ist; aber auch für das bürgerliche Leben, nur nicht für einen besondern Beruf.“ „Die Emanzipation der Schule von der Kirche ist beider Verderben.“ „Schule und| Haus müssen sich gegenseitig unterstützen.“ „Die Schule kann eine heilsame Rückwirkung durch die Kinder auf das Haus ausüben.“ „Herrscht ein schlechter Geist in der Schule und bei den Lehrern, so folgt ein großes Verderben des Volks.“

 c. Das Verhältnis der Geschwister zueinander ist ein Verhältnis der Gleichordnung, wenngleich Alter, Befähigung etc. einen gewissen Unterschied unter den Geschwistern begründen. Weil sie alle eines Ursprungs sind, so ist ihnen Liebe zu den Eltern und untereinander angeboren. Sie muß aber auch, wie alle natürliche Neigung, erst durch Unterstellung unter einen höchsten Lebenszweck eine sittliche Bedeutung gewinnen und zur Tugend werden. Wenn die geistliche Bruder- und Schwesternschaft zum Vorbild genommen wird, dann wird das geschwisterliche Verhältnis erst christlich verklärt. Doppelt lieblich und schön ist das geschwisterliche Verhältnis, wenn es mit der geistlichen Bruder- und Schwesterschaft sich verbindet (Petrus und Andreas, Johannes und Jakobus, Lazarus und seine Schwestern). Alle geschwisterliche Liebe muß sich auf Achtung gründen, wenn sie sittlicher Art sein soll, auf ein Lieben im Geiste Christi, wenn sie christlich sein soll. Natürliche Abneigungen werden auf diese Weise überwunden, und das Zusammenleben solcher wird zu einer Übungsschule der Selbstverleugnung.

 5. Die Erweiterung der Familie.

 a. Durch Aufnahme helfender Kräfte in die Hausgemeinschaft: Dienstleute. – Dies geschah im Altertum durch die Sklaven, ein Verhältnis, das in manchen Ländern noch besteht. Die Sklaverei ist ein die Würde des Menschen entehrendes Verhältnis; doch hat sie Gott zugelassen, und das Christentum hat dieses Verhältnis nicht mit Gewalt abgethan, sondern es dem Geiste des Evangeliums überlassen, es allmählich zu beseitigen (1. Kor. 7, 20. 21). Als Christen können und sollen die Sklaven ihren Stand herrlich zieren (Eph. 6, 5. 7; Tit. 2, 9. 10; 1. Petr. 2, 18. 19), besonders durch Gehorsam und Treue.

 Aber auch die Herren sollen ihre Sklaven menschlich behandeln, und wenn sie Christen sind, können sie ihren Stand erträglich und leicht machen, Eph. 6, 9; Kol. 4, 1. Das Heidentum weist eine grauenvolle Behandlung der Sklaven auf (Dupanloup, Über die Barmherzigkeit).

 Ganz anders ist die Stellung der freien Dienstleute, zumal in christlichen Familien und Staaten. Dieses Verhältnis beruht auf einem Mietvertrag; aber solange dieses Verhältnis besteht, bestehen im wesentlichen dieselben Pflichten des Gehorsams und der Treue wie bei den| Sklaven. Es ist und bleibt ein Vertrauensverhältnis, anders als das Verhältnis der Tagelöhner. Der wesentliche Unterschied von dem letzteren ist, daß die Dienstboten, Gehilfen etc. ins Haus, mehr oder weniger in die Familiengemeinschaft, aufgenommen werden und daß der Hausvater schon in dieser Beziehung sittliche Anforderungen an sie stellen muß, weil sie sonst seine Familie verderben. Die Emanzipationsgelüste des dienenden Standes bringen der menschlichen Gesellschaft große Gefahr und drohen einen Umsturz der Verhältnisse. Von seiten der Herrschaften muß freilich dem dienenden Stande die nötige Schonung, leibliche und geistliche Pflege zu teil werden, das letztere, wenn es möglich ist. Man darf nicht verkennen, daß der dienende Stand ein schwerer ist, aber wenn die rechte Gesinnung dabei ist, könnte man auch eine Lobrede auf das Glück des dienenden Standes halten. Christus selbst ist für Sklaven und Dienende ein strahlendes Vorbild; er hat das Dienen geheiligt und geadelt, Matth. 20, 28; Luk. 22, 27; Joh. 13, 4. 5. 12–15. Durch die Reformation ist dieser verachtete Stand und seine Werke wieder zu Ehren gekommen. (Luther, Großer Katechismus; Müller pag. 413 Nr. 143 etc.)

 In entfernterer Weise gehört hieher auch das Verhältnis von Brotherr und Lohnarbeiter, besonders in den größeren geschäftlichen Unternehmungen und industriellen Betrieben. Je mehr dieses Verhältnis den Charakter des Familienhaften annimmt, um so besser für beide Teile. Der Sozialismus trennt dieselben und verselbständigt die „Arbeiter“ im Gegensatz zu den Herren, zum Schaden für beide, die doch auf Zusammenstehen angewiesen sind.

 b. Die Erweiterung der Familie durch Heirat (affinitas, im Unterschied von consanguinitas). Die Zuführung immer neuer und fremder, frischer Elemente durch Heirat ist eine wesentliche Bedingung für das leibliche Gedeihen der Familie. – Es bildet sich leicht in der Familie eine Familieneigentümlichkeit auch in der Gesinnung aus, ein Familiengeist. Was natürlicherweise auf diesem Boden wächst, ist in der Regel nicht edler Art, wiewohl es auch edle Familientraditionen gibt, die ihren Einfluß auf die einzelnen Glieder der Familie wohl ausüben. In der Regel ist der Familiengeist egoistisch, partikularistisch, materiell. Der äußere Vorteil, Ansehen, Gewalt, Reichtum etc. etc., ist maßgebend. Veredelt wird der Familiengeist, wenn er unter den Einfluß größerer Gemeinschaften, der bürgerlichen oder kirchlichen, gestellt wird, welcher entselbstend wirkt und opferwillig und opferfähig macht.| Wenn der Familiengeist ein christlicher ist, so kann er mächtige Wirkungen ausüben, wiewohl die Familien zu den Seltenheiten gehören, welche vorwiegend in ihren Gliedern christlich sind.


§ 57.
Die Volks- und Staats- (Völker- und Staaten-)Gemeinschaft.
 A. Die Volksgemeinschaft, welche zugleich die Stammesgemeinschaft in sich befaßt, ist das eigentliche Vaterland des Menschen. Es fällt freilich nicht immer die Staatsgemeinschaft (das politische Vaterland) mit der Volks- und Stammesgemeinschaft zusammen. Eine Volksgemeinschaft ist nicht immer geographisch und politisch abgegrenzt, daher kann örtlich das politische Vaterland in einem andern Gebiet sich befinden als die Volksgemeinschaft, der man angehört. Die Deutschen wohnen in aller Welt zerstreut und machen doch nur eine Volksgemeinschaft aus, welche durch gemeinsame Abstammung, Sprache, Sitten, Geschichte, Litteratur und in gewissem Maße durch die gleiche Religion gekennzeichnet ist. Jetzt mehr als je sind die Deutschen sich ihrer Zusammengehörigkeit bewußt, und das ist recht und natürlich. Im eigentlichen Sinn, wenigstens geistig, ist Deutschland auch der Zerstreuten Vaterland. Am vollkommensten ist dies natürlich bei den Deutschen der Fall, die auch in Deutschland wohnen. Die Zugehörigkeit zu einem Volk oder Volksstamm ist eine Naturbestimmtheit. Der Boden, auf dem ein Volk erwachsen ist, das Klima und der Himmelsstrich, die natürliche Beschaffenheit des Landes, noch mehr aber die geschichtliche Vergangenheit und Gegenwart wirken bestimmend auf die Eigentümlichkeit des Volks und dessen einzelne Glieder ein. Diese Umstände prägen bei aller sonstigen Verschiedenheit doch den einzelnen Gliedern einen und denselben besonderen Charakter auf, den man Nationalcharakter nennt. Die Genossen eines Stammes und Volkes sind durch natürliche Bande, durch natürliche Liebe und Zuneigung miteinander verbunden wie bei der Familie, wiewohl begreiflicherweise Antipathien genug vorkommen. Landsleute, zumal in der Fremde, fühlen sich verwandt. Doch bedarf das Nationalgefühl bei aller natürlichen Berechtigung einer sittlichen und religiösen Läuterung. Es darf nicht unbedingt maßgebend sein. Es gibt auch andere, menschliche, bürgerliche und religiöse Verhältnisse, durch welche es eingeschränkt und modifiziert wird. Es wird oft mit dem Nationalgefühl Mißbrauch getrieben, z. B. bei den Franzosen und sonst. Man verkennt oft Verbindungen,| welche wichtiger und heiliger sind als der Nationalverband, z. B. die der Kirche. –

 Es ist schön und lieblich, sein Vaterland lieben und ihm alle Treue erweisen; Vaterlandsverräter waren von jeher mit der verdienten Verachtung gestraft. Jeder edle Mensch, geschweige der Christ liebt sein Vaterland. Es ist Pflicht, für dasselbe Gut, Leib und Leben zu opfern, wenn es in Gefahr ist. Es gibt unter Heiden und Christen leuchtende Beispiele von Patriotismus und Vaterlandsliebe. Das Vaterland verlassen und meiden zu müssen ist großer Schmerz. Israel war in der Fremde, in Ägypten, im Exil zu Assyrien und Babel. Es hat dies als die schwerste aller Strafen empfunden, Ps. 137. Das Vaterland umschließt alles, was dem Menschen im Irdischen teuer ist, ja vielleicht auch im Geistlichen. – Doch hat der nationale Sinn und die Vaterlandsliebe eine Grenze. Einen Nationalhaß billigt und fördert das Christentum nicht. Es steht über dem Vaterland und der Volksgemeinschaft eine höhere Gemeinschaft: die der christlichen Kirche, eine geistliche Verwandtschaft durch den Glauben, die mehr ist als die leibliche, und ein Vaterland, das besser und allen Christen gemein ist, das himmlische Vaterland. Des Christen Herz geht über die Grenzen der eigenen Nation hinaus, doch ist der Christ weit entfernt von dem kalten und herzlosen Kosmopolitismus solcher Menschen, die kein Vaterland haben oder haben wollen. (Rote, goldene, schwarze Internationale.)

 B. Die Staatsgemeinschaft.

 1. Entstehung des Staates. Wenn ein Volk aus dem einfachen Naturleben einer Horde oder aus den patriarchalischen Zuständen heraustritt und feste Wohnsitze und Kultur annimmt, so ist eine Verfassung mit irgend einem festen Regiment und eine Rechtsordnung nötig. Wo ein Volk zu einer solchen Verfassungs- und Rechtsgemeinschaft organisiert ist, da ist ein Staat. „Staat“ ist abgeleitet von einem modernen Wort aus dem Französischen „l’état“; wofür man auch noch in der Reformationszeit zu sagen pflegte „Reich“. Unter „Staat“ verstehen wir also das aus der Volksgemeinschaft hervorgegangene, aber nicht notwendig auf sie beschränkte, rechtlich geordnete Gemeinwesen, innerhalb dessen der Mensch als Glied der menschlichen Gemeinschaft die Zwecke seines irdischen Daseins erfüllt. Die Volksgemeinschaft ist also die Naturbasis der Rechtsgemeinschaft des Staates, und so werden wir immer die Staatenbildung in Verbindung und zeitlichen Zusammenhang zu stellen haben mit der Genesis 11 erzählten| Völkertrennung, der Zertrennung der bisher einheitlichen Menschenfamilie in Völker. Nur daß die Entstehung eines Volks noch nicht gleich ist mit Staatenbildung. Was das Volk zum Volk macht, das ist die Einheit der Sprache wie auch die gemeinsamer Gottesverehrung, Religion; das bestätigt auch die heilige Schrift. Denn nach der Anschauung der Offenbarung sind Sprachverwirrung, Entstehung der Völker, Polytheismus unzertrennbar verbundene Thatsachen, wenn auch der Polytheismus (vgl. Röm. 1, 21) nicht als notwendige Konsequenz aus den ersteren bezeichnet werden kann. Der Staat, genauer die Bildung eines solchen, ist das Ziel, dem ein Volkstum in natürlicher Entwicklung zustrebt.

 Die Ursprünge und Anfänge der Staatenbildung. Mit Ausnahme des einen, des erwählten Volks, liegen sowohl die Ursprünge der einzelnen Völker als auch die Anfänge ihrer Staatenbildung für uns im Dunkeln. Die Entstehung der übernatürlichen Gemeinschaft der Kirche, sowohl der Kirche überhaupt als auch der einzelnen Völkerkirchen im Besonderen, ist völlig in das Licht der Geschichte gerückt, aber wie die Völker entstanden sind, darüber verliert sich die Geschichte in das Dunkel des Mythus; es fehlen uns alle geschichtlichen Belege. Zwei Anschauungen stehen sich einander gegenüber, die vielleicht alle beide berechtigt sein werden, und zwar deshalb, weil der Hergang bei der Bildung des eines Volkes nicht notwendig derselbe sein muß wie bei der eines andern.

 Die naturgemäße Entwicklung, die wir freilich nicht durch ein Beispiel aus der Geschichte belegen können, wenn nicht etwa durch den Hinweis auf das Stammesleben Israels vor seiner Zusammenfassung in das Königreich, scheint die gewesen zu sein, daß eine einzelne Persönlichkeit, die in einer Familie, in einer erweiterten und weitverzweigten Familie, die Stellung eines allgemein verehrten Oberhaupts hatte, ihre Autorität über einen ganzen Stamm ausdehnte, vielleicht auch über mehrere Stämme, die dann allmählich sich zu einem einheitlichen Volk, zu einer staatlichen Ordnung zusammenthaten. Das ist die naturgemäße Genesis: Entwicklung des Staates aus der Familie, die sich zu Stämmen erweitert hat (Jakobs Familie erweitert zu 12 Stämmen: jeder Stamm hat einen „Stammesfürsten“, der den ganzen Stamm repräsentiert, und der abgesehen vom Recht der Geburt auch wohl durch Alter oder sonstiges Ansehen zum Oberhaupt eines ganzen Stammes befähigt ist). Diese Anschauung für die Bildung eines Staates nennt man die patriarchalische. Hier ist die Monarchie in ihren Wurzeln schon vorhanden in der Autorität des einzelnen. Das kann bei Bildung mancher Staaten der Hergang gewesen sein.

|  Nun zeigt uns aber die Geschichte, auch die heilige Schrift, daß die Bildung staatlicher Gemeinwesen nicht bloß auf diesem natürlichen, patriarchalischen Wege vor sich gegangen ist, sondern auch durch Verbrechen und Gewaltthaten, durch Usurpation. 1. Mosis 10, 10–18 ist für diese Anschauung die geschichtliche Grundlage. Nimrod legt den ersten Grund zur Weltstadt und zum Weltreich. Wenn er „ein großer Jäger“ war, so mag das im eigentlichen Sinn genommen werden; aber er war auch ein gewaltiger Menschenjäger, der die Menschen einfing und sie unter seine Botmäßigkeit zwang. Das deutet schon sein Name נִםְרֹד‎, d. i. rebellemus! Auch dieser Faktor wirkt mit bei der Bildung der Staaten: es warfen sich manche zu Despoten auf und hoben dadurch die ursprüngliche Gleichheit auf und teilten die Menschheit in zwei Klassen, die Befehlenden und Unterworfenen. Gegenüber der naturgemäßen Entstehung der Staaten ist dieser Ursprung ein mit Verbrechen und Gewaltthat behafteter; aber es läßt sich denken auf Grund dieser Erzählung und der Mythologie andrer Völker, daß dieser Weg bei der Staatenbildung auch eingeschlagen worden ist. Die römische Kirche hat sogar mit Vorliebe diese Entstehungsweise angenommen; denn es lag im Interesse der Hierarchie, die Legitimität des Staates zu bestreiten und damit die Anschauung festzuhalten, daß der Staat erst der Weihe der Kirche bedürfe. Diese aber wurde nicht gegeben ohne Unterwerfung des Staates unter die Kirche.
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 Abzuweisen ist die im rationalistischen Zeitalter herrschende Anschauung, welche die Gemeinschaft des Staates auf einen „gesellschaftlichen Vertrag“ unter den Menschen zurückführt; diese findet sich nicht nur nirgends begründet – es entspricht auch nicht der Wahrscheinlichkeit, daß die alten Völker aus Berechnung des Vorteils zu einem Volk zusammentraten. Es sind natürliche Bedürfnisse der Grund zu einer staatlichen Vereinigung; es bedurfte dazu keines Reflektierens. Die Selbstherrlichkeit und die Souveränitätssucht des Menschen allein verrät sich in dieser Anschauung; diese Seite des natürlichen Menschenwesens feiert darin ihren Triumph und vergöttert sich in ihr selbst. Es ist also ein widergöttlicher Standpunkt, von dem aus diese Theorie aufgestellt wurde, aber auch ein unnatürlicher, denn so entsteht die staatliche Gemeinschaft unter den Menschen nicht, wenn auch die Erwägung des Nutzens, welchen der Zusammenschluß zu einer Gemeinschaft bringt, für den Fortbestand eines Staates von Bedeutung ist. Diese Anschauung macht den Staat aber zu einer Assoziation, die der reine Nutzen diktiert. Es sind diametral entgegengesetzte Dinge: ein Gebilde, das da| erwächst aus der Familie, aus dem Stamm und eine Assoziation, die gemacht ist. Es kann bloß die Frage sein, ob die Staatenbildung in patriarchalischer Weise geschah oder auf Usurpation beruht. Dies in dem Sinne, daß damit die zwei natürlichen Möglichkeiten angegeben werden; denn es kann der eine wie der andere Fall tatsächlich gewesen und vorgekommen sein. Der nun so auf geschichtlichem Wege entstandene Staat, diese auf natürlicher Basis der Volksgemeinschaft sich erhebende Rechtsgemeinschaft – und das ist wichtig für die christliche Anschauung vom Staat – ist zwar nicht als Gottes Stiftung, aber als Gottes Ordnung anzusehen. Stiftung Gottes ist die Kirche, die Ordnung Gottes aber ist der Staat, der auch auf menschlichem Thun beruht, aber von Gott sanktioniert wird und als göttliche Ordnung besteht (Augustana XXVIII; Röm. 13, 1–7; 1. Petr. 2, 13–17).

 Jedes Glied eines Volkes, soweit es selbständige Existenz hat, ist ein Staatsbürger; die übrigen leben als Schutzbefohlene des Staats. Es gibt verschiedene Staatsverfassungen, monarchische und republikanische (Aristokratie, Demokratie). Eine einzigartige und auf unmittelbarer göttlicher Offenbarung und auf göttlicher Institution beruhende Verfassung ist die Theokratie des Alten Testaments, der Priesterstaat in der höchsten Vollendung, bei dem alle sozialen, bürgerlichen und rechtlichen Verhältnisse von göttlichen Gedanken durchdrungen sind (vgl. unten Nr. 5). Das Neue Testament schreibt keine Verfassung vor, es gibt nur allgemeine Grundsätze an, die auf alle Formen und Arten der Verfassung anwendbar sind. Das Christentum zeigt hier seine universale Natur.

 2. Zweck des Staates ist: Rechtssicherheit und Schutz wider alle Gewaltthaten allen Unterthanen zu gewähren, und daher Ruhe und Frieden zu erhalten; ferner alle sittlichen und geistigen Ziele des Volks auf allen Lebensgebieten zu schirmen und zu fördern. Das ist nur möglich durch Ordnung und einheitliche Leitung des Ganzen, welche eine Oberaufsicht über alle Gebiete des öffentlichen Lebens in sich schließt. Die Gewalt des Staates teilt sich in Zivil- und Militärgewalt; die Zivilgewalt in das Gebiet der Gesetzgebung, der Rechtspflege oder Justiz und der Regierung, wozu die Verwaltung gehört. Auch über das religiöse Gebiet übt der Staat wenigstens sein Aufsichtsrecht, da ja jede religiöse Korporation in einem Staate lebt; abgesehen davon, daß unsere Fürsten das Recht des Summepiskopats über die protestantische, vorab über die lutherische, Kirche haben.

|  3. Das Recht entsteht aus den thatsächlichen Verhältnissen und ist nichts anderes als die um den Besitz oder die Thätigkeit, namentlich Berufstätigkeit, des einzelnen gezogene und beides von dem Gebiet der andern abgrenzende Schranke. Das Recht wächst auf geschichtlicher Grundlage und ist Ergebnis der Geschichte eines Volkes. Es ist die Ordnung, welche ein Gemeinwesen teils aus der durchlebten Vergangenheit (gemachte Erfahrungen der Zweckmäßigkeit einer Einrichtung) überkommen hat, teils für die Bedürfnisse der Gegenwart, in der es lebt, neu schafft. Es bildet sich darüber ein öffentliches Rechtsbewußtsein; es entsteht ein Gewohnheitsrecht; aus diesem, wenn es fixiert und ausgesprochen wird in bestimmt ausgesprochenen Sätzen, das positive Recht (Zivil- und Kriminalrecht). Bei der Festsetzung der Rechtsgrundsätze wird teils das landschaftliche, nationale, teils das römische Recht (corpus juris civilis) als historische Grundlage genommen und es werden dieselben den Bedürfnissen der Gegenwart angepaßt, weshalb die Rechtsbestimmungen teilweise immer wieder in Fluß gebracht werden müssen. Die Sammlung dieser Rechtsbestimmungen gibt das Gesetzbuch, welches die Grundlage und die Norm enthält, wonach das Recht gesprochen wird. Alles Recht beruht auf ethischer Grundlage (Trendelenburg, Naturrecht auf dem Grunde der Ethik, Leipzig 1860).

 4. Die Trägerin und Vollstreckerin der bürgerlichen Rechtsordnung ist die Obrigkeit, von dem Fürsten und seinen Räten an bis zu dem untersten Beamten. Diese ist, wie schon oben angedeutet, mannigfach gegliedert und bildet einen Organismus, dem die Leitung des Staates berufsmäßig zukommt, eine Ordnung, die von Gott gemacht ist, Röm. 13, 1; 1. Petr. 2, 13.

 5. Die Form des Staatslebens ist die Verfassung. Es gibt zwei Hauptarten der Verfassung: Monarchie und Republik, von denen jede verschiedene Unterarten hat: unbeschränkte oder absolute Monarchie (Autokratie) und beschränkte (konstitutionelle); die Republiken zerfallen in aristokratisch oder demokratisch regierte.

 a) Monarchie: d. i. Herrschaft eines einzelnen. Sie ist die älteste und ehrwürdigste Verfassung, die in der Theokratie des Alten Bundes und in der Christokratie des Neuen Testaments zu einer besonderen Ausprägung kommt. Aber die allein nötige und mögliche ist sie nicht. Monarchie ist auch die altgermanische Verfassung. Die Monarchie schließt in sich Macht, Recht und Tugend. Persönliche Treue ist das Prinzip der Monarchie. Treue Fürsorge des Herrschers für das Wohl seiner| Unterthanen und treue Ergebenheit der Unterthanen gegen ihren Herrscher: das ist der ideale Zustand der Monarchie; so ist sie freilich allen Verfassungen vorzuziehen.

 Die andere Form der Monarchie ist die konstitutionelle Monarchie. Sie beruht auf dem richtigen Gedanken, daß dem mündigen Teil des Volkes ein Anteil an der Verwaltung und Leitung seiner Angelegenheiten gebühre.

 Die absolute Monarchie stellt an den Herrscher die höchsten sittlichen Anforderungen, wenn sie segensreich wirken soll. Der Herrscher muß von Gottesfurcht, Pflichtgefühl, Achtung der Menschenrechte geleitet und regiert sein. Im andern Fall artet sie aus zur Despotie und wird von den Unterthanen nicht ertragen,

 b) Bei den republikanischen Verfassungen ist die oberste Gewalt nicht in den Händen eines einzelnen, sondern bei der Gesamtheit. Sie erscheint auch in zwei Formen: Aristokratie und Demokratie.

 Aristokratie: d. h. Herrschaft der edlen Geschlechter. Ihr Vorzug ist die Weisheit, Mäßigung, Klugheit, Ruhe in der Politik; in ihr regiert ein Rat; derselbe besteht aus den weisesten, reifsten, klügsten Männern eines Staates. Oft fehlt freilich die Energie, die die Regierung des Willens eines einzelnen in sich schließt; aber sie kann auch nicht so leicht zum Despotismus ausarten, dessen Prinzip die Furcht ist, eine Regierungsform, die die gegenwärtige Zeit nur schwer verträgt.

 Die andere Form ist die Demokratie. Ihr Prinzip wäre nach Montesquieu die Tugend. Das ist aber mehr Forderung als Thatbestand. Sie ist die schwierigste Verfassung, da es Selbstverleugnung gilt, die dem natürlichen Menschen nur schwer eingeht. Sie artet zu leicht aus, da sie eben keine auf natürlicher Basis beruhende politische Verfassung ist; deshalb tritt sie auch nur dann ein, wenn mit allen andern abgewirtschaftet ist.

 Es kann unter allen Verfassungsformen das Wohl des Volks gedeihen. Es kommt hauptsächlich auf den sittlichen Geist des Volkes und auf den der Männer an, die es regieren. Das Königtum hat unstreitig den Vorzug vor allen Verfassungsformen. Die Betonung der Volkssouveränität, wenn man darunter pure Massenherrschaft versteht, ist eine Entartung der Demokratie; herrschen können im Grunde immer nur wenige, die es verstehen, und ein Glück für ein Volk ist es, wenn es würdige Männer sind. Ein gewisses Maß politischer Freiheit ist wünschenswert, weil alles Gute eine Freiheit der Bewegung braucht.| Das Böse schafft sich schon sowieso Raum. So ist es wenigstens besser, daß sich auch das Gute in einem Land frei bewegen kann. Die Schrift läßt die Form der Verfassung frei, Röm. 13, 1. Wenn das christliche Königtum nicht als ein theokratisches, gleich dem alttestamentlichen, gefaßt wird, so daß die Verhältnisse, Rechte und Verpflichtungen des Alten Testaments unmittelbar auf Verhältnisse unter dem Neuen Testament übertragen werden, sondern wenn das christliche Königtum als eine Art freier Nachbildung der alttestamentlichen Theokratie gefaßt wird, hat es etwas durchaus Gesundes und Förderliches. Es gibt eine ideale christliche Auffassung derselben (s. Hunnius, Glaubenslehre pag. 91 Anm.).

 In der inneren Einrichtung eines Volksgemeinwesens erheischen besondere Beachtung die verschiedenen Stände (Bevölkerungsklassen), die im Leben eines Volkes sich zu bilden pflegen: Adelsstand, Bürgerstand (Handelsstand und Stand der Gewerbetreibenden), Bauernstand; hiezu ist in der letzten Zeit noch ein vierter Stand getreten, der der „Arbeiter“, d. h. der in den größeren (industriellen) Betrieben angestellten Lohnarbeiter. Die Interessen der einzelnen Stände sind verschieden; es gilt eine Ausgleichung und Verständigung derselben zu finden, wenn nicht das Ganze Schaden leiden oder gar der Auflösung verfallen soll.

 Hinsichtlich des Vermögens unterscheidet man den Stand der Besitzenden, den Mittelstand, den der Besitzlosen (Proletarier). Die Erhaltung eines Mittelstandes ist für die Gesundheit des Volkslebens wichtig. Der Sozialismus sucht durch Wort und That (Verelendungstheorie, Agitation, auch im Parlament) auf die Vernichtung desselben hinzuarbeiten. Eine Katastrophe wäre dann nicht mehr zu hintertreiben. Der Sozialismus strebt an die politische Herrschaft der Arbeiterklasse. – Im Hintergrund zeigt sich bereits jene Richtung, welche seine Erbschaft antreten will: der Anarchismus, die Verneinung jeder Obrigkeit und göttlichen Ordnung. Die Entstehung solcher auflösender Richtungen ist durch gewisse im Leben der Völker und Staaten vorhandene Schäden veranlaßt.

 6. Es entsteht weiter die Frage: Was ist an dieser Ordnung im Staat göttlich? Man muß sagen:

 a) Die Ordnung selber und

 b) die Handhabung derselben, abgesehen von den Ordnungsbestimmungen, Röm. 13, 2: wer der Obrigkeit widerstrebt, der widerstrebt Gottes Ordnung; ferner

 c) die Grundzüge aller bürgerlichen Ordnungen, die durchaus auf ethischer Grundlage, im wesentlichen auf den zehn Geboten| oder auf den Aussagen des Gewissens beruhen; letzteres gilt natürlich nur so weit als dasselbe in Übereinstimmung mit den zehn Geboten steht. Es gibt aber auch

 d) allgemein gültige, positive Rechtsgrundsätze, die göttlich genannt werden müssen, z. B. das Recht der Wiedervergeltung, Ex. 21, 24; Lev. 24, 19. 20; Matth. 5, 38, und das darauf beruhende Recht der Todesstrafe, Röm. 13, 4; ferner

 e) der geschichtliche Bestand der Gewalt ist göttlich sanktioniert, durch göttliche Regierung (Fügung oder Zulassung). Das Königtum „von Gottes Gnaden“ hat einen Sinn; ein König ist König von Gottes Gnaden, solange ihn Gott auf dem Thron läßt; stößt er ihn vom Thron auf die Dauer, so hört er auf König zu sein, Dan. 2, 21; 4, 14. Die Legitimität ist ein verkehrter, unchristlicher, undurchführbarer Grundsatz, wie umgekehrt die Revolution, die Empörung wider die rechtmäßige Gewalt ganz ungöttlich ist, nur daß Gott solche als Gericht über Fürsten und Völker zuläßt.

 Menschlich sind die einzelnen Gesetze und Anordnungen der öffentlichen Gewalt; sie können gut und schlecht, zweckmäßig und unzweckmäßig, weise und thöricht sein, aber man ist ihnen Gehorsam schuldig um des HErrn Willen, 1. Petr. 2, 13.

 7. Die Obrigkeit hat daher ein göttliches Recht, Gehorsam zu fordern, mit Ausnahme dessen, was widergöttlich wäre Act. 4, 19. Sie ist Gottes Dienerin und Stellvertreterin, Röm. 13, 4. Sie kann nur äußern Gehorsam fordern und erzwingt ihn nötigenfalls mit Gewalt, muß aber im allgemeinen auf die gute Gesinnung und das Wohlwollen ihrer Unterthanen rechnen, also auf ihre sittliche Haltung. Sie kann jedoch nur Handlungen, nicht Gesinnungen vor Gericht ziehen, wiewohl die Obrigkeit nicht selten ihre Macht mißbraucht, die ihr lästige Gesinnung zu verfolgen, zumal wenn dieselbe recht und göttlich ist (vgl. die Christenverfolgungen aller Zeiten!).


Exkurs über die Todesstrafe.

 Über das Leben des Menschen hat niemand ein Recht als die Obrigkeit. Nach göttlichem Recht hat sie dieses Recht bloß über die Mörder und Aufrührer: „wer Menschenblut vergießt, des Blut soll auch durch Menschen vergossen werden“ (Gen. 9, 6; Matth. 26, 52; Num. 35, 17. 24). Die Rechtmäßigkeit der Todesstrafe liegt in der Stelle Röm. 13, 4: „Sie trägt das Schwert nicht umsonst.“

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Widerlegung der Gründe gegen die Todesstrafe.

 1. hat man dagegen gesagt: Die Strafe soll erziehend und bessernd wirken; das wird aber vereitelt durch die Todesstrafe, durch dieselbe wird dem Menschen die Möglichkeit zur Besserung genommen. – Es gibt auch ein sühnendes Moment in der Strafe; dies ist das erste! Das gebrochene Recht fordert Genugthuung. – Auch ist die Notwendigkeit der Abschreckung ein Grund für die Todesstrafe. Deut. 13, 12; 17, 13 etc.; 1. Tim. 5, 20.

 2. Der Hauptgrund zur Widerlegung der Rechtmäßigkeit der Todesstrafe entstammt der Weltanschauung der modernen Ungläubigen. Weil sie hinter dem Tode nichts mehr sehen und das Leben ihnen somit das höchste Gut ist, was dem Menschen gegeben ist, so halten sie die Todesstrafe für das größte Unrecht, denn durch sie wird ja dem Menschen das höchste Gut genommen. – So muß man doch – ist zu erwidern – diejenigen aufs höchste schützen, welche bedroht sind, nicht die bedrohen.

 3. hat man dagegen geltend gemacht und gesagt: Die Todesstrafe war wohl im Alten Testament am Ort, denn da war das Gesetz herrschend und dieses ist basiert auf dem Grundsatz der Wiedervergeltung. Im Alten Testament gab es keine Vergebung, keine Begnadigung, keine Sühnanstalt, es herrschte das strenge Recht. Der Geist des Neuen Testaments aber fordert es, Gnade für Recht ergehen zu lassen. – Diese Anschauung vermischt die Gebiete des Geistlichen und Weltlichen der Kirche und des Staats. Gott hat dem Menschen die Sünde erlassen und ihm Gnade erzeigt, so sollten sich auch die Glieder der Kirche untereinander vergeben. Der Staat aber ist eine natürlich weltliche Ordnung, er hat andere Gesetze und andere Praxis; er erzwingt Gehorsam und bestraft den Missethäter, es herrscht in ihm der Grundsatz der Wiedervergeltung, so ist das Alte Testament keineswegs aufgehoben. Das Recht der Wiedervergeltung gilt auch im christlichen Staat und zwar erstreckt es sich auch über das Leben des Nächsten, wofür Röm. 13, 4: „Die Obrigkeit trägt das Schwert nicht umsonst“ beweisend ist.

 Am deutlichsten wird die Todesstrafe aus Gen. 9, 6: „Wer Menschenblut vergießt u. s. w.“ gerechtfertigt. Dieses Gebot entstammt einer Zeit, welche der mosaischen Gesetzgebung voranging. Was aber vor der Gesetzgebung bestimmt ward, hat allgemein menschliche Bedeutung und universelle Gültigkeit. So hat auch das Gebot der Todesstrafe universelle Bedeutung. Des Mörders Blut soll vergossen werden, weil| er in seinem Mitmenschen das Ebenbild Gottes zerstört hat. Es vollzieht sich damit eine göttliche Strafe.
Untergeordnete Gründe für die Todesstrafe.

 1. Wenn es keine Todesstrafe gäbe, würden die Mörder sicher werden (weil sie höchstens an ihrer Freiheit bestraft werden können); der andere würde seines Lebens nicht sicher sein. Vgl. oben das über Abschreckung Gesagte.

 2. Ein untergeordnetes Moment ist auch das: Wo die Sünden vergeben, wo die ewigen Strafen aufgehoben sind, haben doch die zeitlichen Strafen ihren Lauf noch. In solchem Falle haben reumütige Verbrecher selbst die Todesstrafe begehrt. Ihr Gewissen gab Zeugnis der Forderung der göttlichen Gerechtigkeit und sie fühlten, daß sie nicht anders zur Ruhe kommen könnten als durch Vollstreckung der verdienten Strafe.

 Die Notwehr. Die Tötung des andern ist in dem Falle erlaubt, wenn man gezwungen wird, sein Leben zu schützen und den Schutz der Obrigkeit anzurufen keine Zeit hat; denn in solchem Falle steht der einzelne an Stelle der Obrigkeit. Luther sagt einmal: „wenn er überfallen würde und auch seinen Gegner getötet hätte, so wollte er doch darauf das Sakrament nehmen und sich rühmen, eine gute That gethan zu haben.“ Die Notwehr ist ein offener, ehrlicher Kampf und ist das Werk eines Augenblicks.

 Die Blutrache fällt teilweise auch unter den Begriff der Notwehr. Bei der Blutrache handelt es sich um die Ahndung eines geschehenen Mordes. Sie hat eine gewisse Berechtigung, wo eine geordnete Obrigkeit nicht waltet oder dieselbe ihr Rächeramt nicht ausübt; dann ist sie ein Akt der Selbsthilfe. Wo Anarchie herrscht, da wäre die Blutrache zu tolerieren. Durch die Blutrache wird auch der göttliche Befehl Gen. 9, 6 vollzogen, aber es ist doch ein großer Unterschied zwischen dem Vollzug durch die Obrigkeit und dem durch einen Verwandten. Die Obrigkeit straft ohne Leidenschaft den Verbrecher. Das fehlt bei der Blutrache vollständig; hier verbindet sich mit Erfüllung der Verwandtenpflicht Haß und Rachsucht (die Korsen). Im Alten Testament wurde diese Sitte beschränkt. Für den unfreiwilligen Mörder und Totschläger waren Freistädte da, in die er flüchten konnte.

 Zu einer Art Notwehr im größeren Stil bildeten sich die Fehmgerichte in Deutschland (Westfalen) während des Mittelalters aus; ihre Entwicklung zeigt aber auch die Gefahren solcher außerordentlicher Einrichtung.

|  Hieher gehört auch die Lynchjustiz in Amerika, besonders in den Gebieten mit noch nicht genügend geordneten Verhältnissen. Wenn sich aus der Unvollkommenheit der Ordnung in manchen Fällen vielleicht eine gewisse Entschuldigung ableiten läßt, so bleibt doch die Lynchjustiz im allgemeinen eine Usurpation obrigkeitlicher Befugnisse.

 Eine berechtigte Notwehr zum Töten bringt der Krieg mit sich. Es ist dies oft nur die einzige Möglichkeit, einem andern Staate gegenüber seine Existenz zu verteidigen. Man hat nun zu unterscheiden, was den einzelnen Soldaten und was den Kriegsherrn angeht. Niemals wird im Neuen Testament der Soldatenstand als ein unberechtigter Stand hingestellt. Das thut weder Johannes der Täufer, noch der Herr, noch Petrus (gegenüber dem Kornelius). Im Gegenteil kann man sagen, der Kriegerstand macht noch den besten Eindruck in jener Zeit (cf. der Hauptmann unter dem Kreuz; der Hauptmann Kornelius; der Hauptmann von Kapernaum; der Hauptmann, der den Apostel nach Rom begleitete). Die Berechtigung, Krieg zu führen, ist in der heiligen Schrift nicht ausdrücklich gegeben. Höchstens könnte man die Stelle „sie trägt das Schwert nicht umsonst“ anführen, d. h. sie soll das Schwert nicht bloß um der einzelnen Verbrecher willen tragen, sondern um damit das Vaterland zu verteidigen. Daraus folgt freilich, daß der Eroberungskrieg zu verwerfen ist, nicht aber der Verteidigungskrieg.

 8. Die Pflichten und Tugenden des Christen gegen die Obrigkeit sind:

 a) Um des Gewissens willen gehorcht er der Obrigkeit von Herzen und unterwirft sich den Gesetzen und Ordnungen des Staates, soweit sie nicht wider Gottes Gebote sind. Akt. 5, 29; Matth. 22, 21. „Gottesdienst geht vor Herrendienst“, nicht umgekehrt.

 b) Er arbeitet selbst an der Aufrechterhaltung dieser Ordnung mit durch sein Beispiel und dadurch, daß er unter Umständen selbst ein obrigkeitliches Amt bekleidet (gegen die Wiedertäufer, Augustana XVI) und gerade darin seinen Christenberuf erfüllt, zum Dienst seiner Brüder und des Reichs Gottes.“

 c) Auch betet er für die Obrigkeit von Herzen, 1. Tim. 2, 2; Jerem. 29, 7, weil er ein wohleingerichtetes bürgerliches Gemeinwesen, in dem Frieden und Ordnung herrscht und das Böse niedergehalten wird, als einen großen Segen für das Land und für sein Volk erachtet, der kraft des vierten Gebotes, dessen Verheißung auch hier eine Anwendung erleiden dürfte, ihm Wohlsein bringt.

|  d) Dazu sieht er darin ein Förderungsmittel zur Erreichung der Zwecke des Reiches Gottes, welche friedliche bürgerliche Zustände fordern.

 e) Er kämpft endlich im Notfall für die Aufrechterhaltung des Rechts und der Ordnung, wenn es sein Beruf verlangt, oder wenn es ihm das allgemeine Wohl zur Pflicht macht (Kriegsdienst). Der Christ pflegt bei sich den Patriotismus und den bürgerlichen Gemeingeist, aber in besonnener Weise, weil er sich immer bewußt bleibt, daß er ein Fremdling auf Erden ist.

 9. Politische Urteile und Bestrebungen des Christen.

 Der Christ erkennt neben dem Stetigen und Unantastbaren im Staatsleben und im bürgerlichen Leben etwas Bewegliches, neben den ewigen göttlichen Grundlagen und den sich gleichbleibenden Bedürfnissen die Unvollkommenheit der menschlichen Einrichtungen und Formen und das Wechselnde der Zeiten und Bedürfnisse. Es gibt viele Einrichtungen und Gesetze, die veralten und nicht mehr passen; daher bedürfen die staatlichen und bürgerlichen Einrichtungen einer beständigen Reform. Der Christ muß grundsätzlich gegen den falschen Konservativismus und die falsche Stabilität, die alles, auch das Schlechte und Unbrauchbare, namentlich wenn es einer gewissen Klasse von Menschen Vorteil bringt, beim Alten belassen will, kämpfen. Es gibt im bürgerlichen Leben keine unveräußerlichen Rechte, keinen unveräußerlichen Besitz. Die Analogie für sein Verhalten findet der Christ in seinem geistlichen Leben, das auf Grund der unveränderlichen Gnade einer stetigen Erneuerung (Reform) bedarf. Übrigens weiß der Christ, daß alles menschliche Recht und alle menschliche Rechtsübung, alle menschlichen Gesetze und Einrichtungen mit Unvollkommenheit behaftet sind, daß oft von den Organen der Gerechtigkeit die größte Ungerechtigkeit geübt wird (summum jus summa injuria), von dem geordneten Regiment der größte Druck. Doch müssen auch mangelhafte Verhältnisse mit Schonung beurteilt und bis ihre Besserung auf geordnetem Weg möglich ist, getragen werden, weil schlechte Rechtspflege, schlechtes Regiment immer noch besser ist als gar keines. –

 Ist aber der Christ gegen falschen Konservativismus, so noch mehr gegen alle Revolution, wodurch das Übel nur schlimmer wird. Wenn sich der Mensch selber helfen will, fordert er die Strafe Gottes heraus. Nicht zu leugnen ist aber, daß zufällig auch manches Gute aus solchen Umwälzungen folgt, wenn sie Gott zuläßt; doch dient dies keineswegs zu ihrer Rechtfertigung.

|  Auf geordnetem, berufsmäßigem Wege wider alles die Ordnung und das öffentliche Wohl Beeinträchtigende anzukämpfen, erkennt der Christ als Pflicht des Bürgers. Nach diesem Maßstab kann er auch an inneren Bewegungen des Staatslebens (innere Politik) in besonnener Weise teilnehmen. Politische Parteien sind im Rechtsstaat eine unvermeidliche Sache, nichts an sich Schlimmes; aber sich an eine Partei verkaufen und solidarische Haftung für all ihr Thun übernehmen, ist des Christen nicht würdig. Er muß sich sein Urteil und Verhalten für jeden einzelnen Fall frei erhalten, sonst ist er genötigt, oft wider sein Gewissen und bessere Überzeugung zu handeln. Bei vorkommenden Revolutionen (Annexionen) muß er oft der Gewalt weichen, obwohl er gegen diese pflicht- und berufsmäßig ankämpfen muß; hat aber die Gewalt Bestand gewonnen, so ändert er sein Verhalten; auch seines Unterthanen- und Beamteneids ist er entbunden bei dem Wechsel der Gewalten, gleichviel ob ihn der entthronte Herrscher entbindet oder nicht. – Das Genauere siehe in den folgenden Exkursen.

 Erster Exkurs. – Gilt dem Christen die Pflicht des Gehorsams nur gegen die rechtmäßige Obrigkeit oder auch gegen eine irgendwie sich aufschwingende neue. – Hier ist vorerst ein Vorbehalt zu machen: Ein Christ behält immer im Auge, daß keinem Königshause für ewig sein Stuhl feststeht, außer dem Hause Davids durch den ewigen König Jesum Christum.

 Wie ist es nun, wenn die bestehende Obrigkeit gestürzt wird? – Im allgemeinen ist es gut und schön und ein Segen und Glück zu nennen, wenn ein Königshaus alt ist. Es verwächst da aufs engste Volk und Herrscherhaus. Aber es ist ein falscher und unter Umständen revolutionärer und unchristlicher Standpunkt, wenn behauptet wird, ein Christ müsse auch dem gestürzten Herrscherhaus treuen Gehorsam eines Unterthanen bewahren und leisten. Der Christ muß einem neuen Regiment gehorchen. Röm. 13, 1.

 Da schiebt sich nun aber die Frage ein: „Ist denn aber in der Völker- und Staatengeschichte alles richtig hergegangen?“ „Hat sich Gewalt und Gerechtigkeit immer reinlich geschieden?“ Nein! Der Legitimitätsstandpunkt sagt: Die wirklich göttliche Obrigkeit ist nur die rechtmäßige. Doch Röm. 13, 1 sagt: „αἱ οὖσαι“, Präsens = die bestehenden, eben da seienden. Wie nun? Wann beginnt der Gehorsam für den Christen gegen unrechtmäßig sich emporschwingende Obrigkeit? Wenn keine Hoffnung mehr ist, daß das alte Königshaus| noch auf dem Thron gehalten oder wieder auf den Thron gebracht werden kann, dann hat das neue auf irgend einem Weg Bestand gewonnen, ist stabil geworden, wenn auch nicht rechtmäßig. Da fügt sich der Christ in Gehorsam und Treue. Seine Liebe zum alten Herrscherhaus kann ihm niemand wehren. „Gedanken und Gefühle sind zollfrei.“

 Die Frage nach der Berechtigung der Abschüttelung eines fremden Joches und ähnliche – das sind kasuelle Fragen. Doch ist es nicht schlechthin verwehrt, sich gegen den fremden Dränger zu erheben, zumal ja Gott keine Weltreiche will, und beim Versuch der Gründung solcher die höchsten Güter eines Volkes in Gefahr stehen. Von hier aus sind die sogenannten Befreiungskriege zu beurteilen. (Vgl. die verschiedenen Erhebungen Israels in der Richterzeit im Unterschied zur Erhebung gegen die Römer.)

 Zweiter Exkurs. – Wie verhält sich der Christ zur Frage nach dem Recht der Revolution? Gibt’s für ihn eine Revolution?

 Revolution ist eine sittliche Abnormität, ein verzweifelt böses Mittel, Schäden der Regierung zu heilen durch plötzlichen Sturz derselben; für den Christen gibt es keine Revolution.

 Hieher gehört die Anschauung der anglikanischen Theologen zur Zeit der Stuarts: Der Obrigkeit muß man in allem den schuldigen Gehorsam leisten, außer wenn es gegen das Gewissen geht. Also gibt es einen passiven Widerstand, der den Gehorsam verweigert, aber sich den Folgen auch ruhig und willig unterzieht, ohne sich irgendwie zu wehren (Christenverfolgungen). Dieser passive Widerstand hat eine moralische Gewalt und erreicht, fortgesetzt, oft vieles (Sieg des Christentums im römischen Reich).

 Wie aber ist es bei Tyrannen? Gibt es da kein Recht des Sturzes für das Volk? Das ist eine schwere Frage; aber es ist etwas sittlich Hochbedenkliches, gegen die Regierung aufzutreten. Die Revolution ist immer mit dem Makel des Unrechtmäßigen behaftet, wenngleich sie manchmal wohlthätig ist. Aber sie gleicht einem Gewitter, das zwar die Luft reinigt, doch aber auch viel Schaden anrichtet. Eine der reinsten, sittlich reinsten Revolutionen war die der Niederlande gegen Philipp, bei der es sich um die höchsten Güter des Volkes handelte. So können mildernde Gründe wohl vorliegen, aber ein Recht nicht. Der Gläubige weiß übrigens, daß über der Gewalt des Tyrannen noch die Gewalt Gottes steht. (Auch die Frage nach dem göttlichen Beruf kommt in Betracht.)

|  Wenn wir aber richtig die Revolution mit einem Gewitter verglichen haben, das mit elementarer Gewalt, teils nützend, teils schadend hereinbricht, so haben wir damit auch den besonderen Charakter eines solchen Ereignisses richtig gekennzeichnet; eine Revolution ist nicht das Produkt langer, reiflicher Überlegung, sondern sie bricht plötzlich herein mit der Vehemenz eines Wetters; die Entladung der angesammelten Unzufriedenheit geschieht in der Weise einer Explosion. Deshalb ist obige Frage nicht zu beantworten a priori – der Christ wird ja nie vor sie gestellt; nie fragt es sich für ihn, ob er sich an einer Revolution beteiligen darf –, sondern a posteriori. Die Kritik ist eine historische, epikritische. Insofern ist also die Frage nicht ethisch zu erörtern, als ob man je vor sie gestellt wäre. Jedenfalls ist eine solche Revolution wie die französische für den Christen zu verabscheuen.

 C. Die Völker- und Staatengemeinschaft im Großen und Ganzen (äußere Politik).

 Die Völker und Staaten stehen unter einander in lebendigem Zusammenhang und es verbindet sie mehr oder minder ein enges Verhältnis, das man internationales nennt. Besonders durch den Handel und die Handelsinteressen bildet sich eine gewisse Einheit. Aber auch die Interessen von Kunst und Wissenschaft, Mission und Kirche, Kolonisation, Auswanderung, dann Bündnisse, Verträge, Vertretungen durch Konsulate und Gesandte verbinden die Völker. Es hat sich über gewisse Verhältnisse aus dem Bedürfnis heraus ein gemeinsames Recht, das Völkerrecht, gebildet. Es liegt im Interesse aller Staaten und Völker, miteinander im Frieden zu leben. Aber die Selbstsucht, welche die Politik beherrscht, bringt ebenso häufig Konflikte und Reibungen zwischen Völkern und Staaten hervor, bei denen sich eine besondere Sünde, der Nationalhaß, sehr stark geltend macht. Solche Konflikte führen häufig blutige Kriege herbei zu Land und zu See, welche dazu dienen sollen, das wirklich oder vermeintlich verletzte Recht mit Gewalt zur Anerkennung zu bringen. Es gibt gerechte Kriege, in welchen sich ein sittlicher, ja selbst ein religiöser Sinn kundgibt, es sind eigentlich Verteidigungskriege. Nicht selten nehmen auch die Kriege religiöse Interessen auf und werden mehr oder weniger zu Religionskriegen. Religiöse Interessen sind meist, wenn auch in sehr verborgener Weise die innersten Motive zu Kriegen. – Je größer und mächtiger die Staaten sind, desto mehr üben sie Gewalt über andere. Am meisten ist der gewaltthätige Charakter ausgeprägt bei den eigentlichen Weltreichen, welche die| Apokalyptik der Schrift reißende Tiere nennt und in ihrer Einheit und letzten höchsten Spitze als „das Tier“ bezeichnet. Die Weltherrschaft ist ihr Ziel und das ist im Grunde ein gottfeindliches, antichristliches. Denn dazu hat Gott die Völker auf Erden zerstreut, 1. Mos. 11, 1 etc., um die angestrebte Einheit im Bösen zu zerstören. In der letzten Zeit wird es der Welt und ihrem Herrscher, dem Antichrist, gelingen, wenn auch nur für kurze Zeit, dieses Ziel zu erreichen. Damit ist aber die vollendetste Gottesfeindschaft verbunden, die bei den vorausgehenden Weltreichen nicht immer und nicht in dem Maß erscheint, denn zuweilen müssen die Herrscher der Weltreiche auch dem Reiche Gottes dienen (Cyrus, Karl der Große, die Fürsten der Reformationszeit). Ja, – und das scheint wie widersprechend – die Gewalthaber in der Welt müssen zum Gegenhalt gegen die widergöttlichen Bestrebungen dienen, 2. Thess 2, 6, und im Großen und Ganzen helfen sie und die Politik der Reiche, namentlich der großen Reiche, doch, das Reich Christi bestreiten und zu nichte machen; sie sind aber doch ein Gegengewicht gegen den antichristlichen Anarchismus, denn sie halten noch auf Ordnung. Es ist dies wie die doppelte Strömung im Zug der Wolken, die oft in den unteren Schichten nach Westen treiben, während die oberen gerade nach der entgegengesetzten Richtung ziehen. Im Grunde handelt es sich bei aller Politik zuletzt um die große Frage, welche der zweite Psalm behandelt, ob Christus auf Erden König sein und sein Reich bis an die Enden der Erde reichen und Anerkennung finden soll. Dies große und ewige Friedensreich, auf das der Christ mit aller Zuversicht hofft, wird aber erst eintreten, wenn das antichristliche Reich seinen Höhepunkt erreicht hat und damit auch sein Ende. Der Christ schöpft seine politische Einsicht aus der Prophetie und hat damit eine Einsicht in die Zeitbewegungen, wie sie auch der eingeweihteste Staatsmann nicht haben kann, denn des Christen Einsicht beruht auf göttlicher Offenbarung. Im Grunde herrschen nicht die Gewaltigen dieser Erde, wie sie meinen, sondern Christus regiert die Welt und lenkt alle Dinge nach seinem Willen. Darum ist auch sein die Ehre und der Sieg, und daran nehmen teil alle, die auf ihn hoffen.


§ 58.
Die Menschheitsgemeinschaft.
 Es gibt außer der Familien-, Volks- und Staatsgemeinschaft noch eine weitere natürliche Gemeinschaft, nämlich die der Menschheit.| Der Mensch geht nicht darin auf, Familienglied, Staatsangehöriger, Staatsbürger zu sein, sondern es gibt auch ein Verhältnis von Mensch zu Mensch. Die Menschheit hat einen gemeinsamen Anfang und ein gemeinsames Ziel ihrer Geschichte. Die Erde ist ihr gemeinsamer Wohnort, die Welt Gottes mit ihren Gütern ihr Besitz, die Aneignung zur Beherrschung und Benützung derselben ihre gemeinsame Aufgabe und ihr gemeinsames Recht Gen. 1, 28, und die überall gleiche Menschennatur ist ihr gemeinsamer Wesensbestand. Das Verhältnis, in welches der Christ in dieser Gemeinschaft zu stehen kommt, ist

 1. ein persönliches Verhältnis von Mensch zu Mensch,

 2. ein Verhältnis zu den dieser Gemeinschaft eignenden Gütern, Gaben und Aufgaben.

 Das allgemeinste, ursprünglichste Verhältnis, in welchem ein Mensch zum andern stehen kann, drückt die heilige Schrift durch den Begriff „der Nächste“ aus. „Nächster“ ist hier nicht in dem sonst auch wohl gebräuchlichen Sinn als Anverwandter, Blutsverwandter gemeint, sondern bezeichnet abgesehen von allen verwandtschaftlichen, nationalen, religiösen Beziehungen lediglich das Verhältnis, in welchem der Mensch als solcher zum Menschen steht. Das richtige sittliche Verhalten in dieser umfassenden Gemeinschaft ist die Nächstenliebe, Humanität. Hier gilt, nur christlich vertieft, das Wort jenes Alten: „homo sum, humani nihil a me alienum puto“; während das richtige sittliche Verhalten in der Familie Pietät, im Staat Legalität, in der kirchlichen Gemeinschaft Bruderliebe ist, soll in der allgemeinsten Gemeinschaft die allgemeine Liebe erzeigt werden, 2. Petr. 1, 7.

 „Nächster“ ist mir jedermann, auch der völlig fremde, der durch Gottes Führung mit mir in Berührung kommt und meiner bedarf (barmherziger Samariter, Luk. 10, 33; Gal. 6, 10). Die Art und Weise, wie die Nächstenliebe sich bethätigt, ist eine sehr mannigfaltige, nach den Umständen verschiedene. Hieher gehört die allgemeine Wohlthätigkeit, die Barmherzigkeit gegen die Elenden etc. Die Unterschiede, welche soziale, politische, nationale, kirchliche Stellung unter den Menschen hervorrufen, gleichen sich in dieser letzten Gemeinschaftsform zwar nicht aus, aber sie versöhnen sich, indem hier eben ein Boden ist, auf welchem der einzelne dem Menschen als Mensch gegenüber tritt, ähnlich und doch wieder anders als in der Gnadengemeinschaft der Kirche („hie ist kein Jude noch Grieche“, Gal. 3, 28). Es ist aber wohl zu beachten, daß für den Christen christliche Bruderliebe das erste ist, was sich dann nur erweitert zur Menschenliebe, zur| allgemeinen Liebe, womit im Gegensatz zu der des Christentums baren Humanität ausgesprochen ist, daß die allgemeine Menschenliebe ein Ausfluß des Christentums ist. Aus „Christen“ Menschen werben, wie Schiller wollte, ist mithin Thorheit. Je besserer Christ, desto besserer Mensch und Menschenfreund. So gewiß Christus, der Menschensohn, das menschliche Ideal in seiner höchsten Verklärung ist, so gewiß ist das Christliche zugleich das wahrhaft Menschliche, das heißt: so gewiß wird die Idee des Menschentums nirgends anders als im Christentum realisiert.

 Innerhalb dieses weitesten Kreises fällt auch das sonderliche Verhältnis, in welches ein Mensch durch persönliche Neigung und gegenseitige Anziehungskraft zum andern treten kann, nämlich das Verhältnis der Freundschaft; denn auch dieses Verhältnis ist ein rein menschliches von Mensch zu Menschen als solchem. Es können Freunde Glaubensbrüder, leibliche Brüder sein, aber sie müssen es nicht sein. Das Freundschaftsverhältnis ist von allen sonstigen Näheverhältnissen, als verwandtschaftliche Beziehungen, Gemeinsamkeit des Glaubens, Gleichartigkeit der politischen Überzeugung u. s. w., unabhängig; denn es ruht auf der Anziehungskraft, welche der persönliche Wert des Menschen als solcher für den andern hat (der hl. Basilius hatte einen Freund, der ein Jude war). Freundschaft ist eine Sache freier Zuneigung, im Gegensatz zur Nächstenliebe, für deren Erweisungen die göttliche Fügung der Umstände, welche den Menschen mit dem Menschen zusammenführen, maßgebend ist. Das leuchtendste Beispiel von Freundschaft stellt der Bund Jonathans und Davids dar. Christus nennt sich den Freund seiner Jünger und die Jünger seine Freunde, Joh. 15, 13; 13, 23. Aber einen sittlichen Wert muß der Freund haben, wenn er von dem andern als Freund angesehen werden soll. Dem Freundschaftsverhältnis gehen freilich viele andere Verpflichtungen und Verhältnisse vor. Das thut indessen dem Freundschaftsverhältnis keinen Abbruch; denn es ist ein stetiges und geht nicht in einzelnen Betätigungen auf. Ein Freund schuldet dem andern Wahrheit; zwischen sittlich schlechten Menschen kann es keine Freundschaft geben.

 Eine Erweiterung des Freundschaftsverhältnisses sind die freien Assoziationen, die sich die Verfolgung bestimmter, allgemein menschlicher Zwecke zur gemeinsamen Aufgabe gemacht haben. So kann es wissenschaftliche Sozietäten geben, die gemeinsam wissenschaftliche Forschungen anstellen, oder Gesellschaften gegründet für gemeinsame künstlerische, philanthropische Bestrebungen. Hier ist es weniger die Zuneigung der Personen zu einander, was verbindet, sondern das gemeinsame Interesse für einen| bestimmten Gegenstand und der gemeinsame Zweck. Die vereinenden Zwecke können mehr idealer Natur sein, wie in den vorstehenden Fällen, aber auch mehr materieller, wie in Handelsgesellschaften, Versicherungsgesellschaften. Solche Verbindungen sollen dienen und dienen zu leichterer Erreichung der der Menschheit gesetzten Aufgaben; sie werden aber oft von persönlicher Selbstsucht mißbraucht und verkehrt geleitet. –

 Zum andern ist hier noch, wie oben gesagt, die Frage nach dem Verhältnis des Christen zu den der Menschheit gehörigen Gütern und den ihr gestellten Aufgaben zu behandeln. Die Erde ist der gemeinsame Wohnsitz und Besitz der Menschheit. Sie umschließt eine Fülle von Gütern, deren sich der Christ als Gottesgaben freuen kann und die er genießen darf.

 Hieher gehört aller Naturgenuß, der dem Christen nicht versagt ist; die Welt ist Gottes Schöpfung geblieben, obgleich sie durch die Sünde verderbt ist. Es gilt da gegen die pietistische Verkümmerung der Freude an der Welt als Gottes Welt Verwahrung einzulegen. Von der Welt, sofern sie von Gott abgefallen ist, gilt freilich das Wort des Apostels: „Habt nicht lieb die Welt etc.“ Andererseits ist die Welt mit dem, was in ihr ist, dem Menschen nicht bloß zum Genuß gegeben, sondern auch zum Objekt seiner Thätigkeit. Der Mensch hat die Aufgabe, durch fortschreitende Kulturarbeit den Beruf des Menschengeschlechts zur Weltherrschaft zu verwirklichen, die Erde sich immer mehr unterthan zu machen. Es gilt nun, auch nach dieser Seite hin das göttliche Ebenbild zur vollständigen Darstellung zu bringen. Daher steht der Christ der fortschreitenden Kulturarbeit und ihren Erfahrungen und Erfolgen, der in immer reicherem Maße eintretenden Erschließung aller natürlichen Hilfsquellen, der immer großartiger sich gestaltenden Verwertung der Naturkräfte in den großen Erfindungen der Neuzeit nicht mißtrauisch, gleichgültig oder gar bedauernd gegenüber. Der Christ darf aber nicht sein Herz an die Güter dieser Welt hängen. Es gilt hinsichtlich der Stellung zu allen diesen Gütern des menschlichen Gemeinschaftslebens das apostolische Wort: „Alles ist euer“; aber nicht ohne den Zusatz: „Ihr aber seid Christi“. Nur wenn man selbst Christi ist, kann man sich ein Eigentumsrecht auf alle natürlichen Dinge zuschreiben, und aller Genuß und Gebrauch der natürlichen Dinge ist dadurch normiert und beschränkt, daß man nicht dadurch in Gefahr kommt, die Zugehörigkeit zu Christo zu verlieren und aufzuhören ein Christ zu sein.

 Außerdem ist gemeinsamer Besitz und Thätigkeit der Menschen| als solcher auch Kunst und Wissenschaft. Auch diese Doppelthätigkeit der Menschen ist allgemein menschlicher Art. Das Gebiet der Kunst und Wissenschaft ist zunächst die Welt. Es ist eine unberechtigte Forderung und eine Verengung des betreffenden Gebiets, wenn man verlangt, daß Kunst und Wissenschaft ausschließlich dem Heiligen dienen sollen. Die Kunst soll das rein Menschliche, das Natürliche im guten Sinn des Worts darstellen. Das ist ihr Recht, wenn auch dem Heiligen zu dienen ihre höchste Weihe ist. Das Gleiche gilt auch von der Wissenschaft, deren nächstes Objekt der Mensch und die ihn umgebende Welt ist. Hier ist nach beiden Seiten hin gefehlt worden. Früher dadurch, daß die Kirche die weltliche Wissenschaft bevormundete und z. B. einen Galilei bannte, weil er sagte, die Erde bewege sich; das ist ein Irrtum. Man meinte, die Resultate der Wissenschaft seien zu verdammen, wenn sie den herrschenden Anschauungen der Kirche widersprechen; das ist eine ebenso unberechtigte Einmischung der Kirche in weltliche Dinge, eine ebensolche Verkennung des Rechts der weltlichen Wissenschaft auf Selbständigkeit als die Einmischung der Päpste in das Staatsleben der Völker.
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 Die Reformation, die überhaupt das Gebiet des Christlichen und Weltlichen, d. h. Natürlichen, geschieden hat, hat damit auch eigentlich erst die Selbständigkeit dieses Gebiets zur Anerkennung gebracht. Sie hat damit eine ebenso reinigende und erlösende That vollbracht als mit der Trennung der geistlichen und weltlichen Gewalt. Seit der Reformation erst ist der Grundsatz anerkannt, daß jede Wissenschaft nur nach den ihr immanenten Gesetzen bei ihrer Forschung zu Wege zu gehen hat. In der Gegenwart ist die Gefahr des Übergriffs der weltlichen Wissenschaft auf theologisches Gebiet, besonders aber der Naturwissenschaft vorhanden. Dieselbe stellt jetzt Hypothesen auf, um die Schrift zu meistern oder gar zu diskreditieren, aber sie verirrt sich damit auf ein Gebiet, das sie nichts angeht, auf das Gebiet der Philosophie oder Theologie. Das Gebiet, auf welchem die Wissenschaft zu arbeiten hat, und das Gebiet des Glaubens sind auseinander zu halten. Daraus, daß die Wissenschaft auf ihrem Gebiet nur Gesetzmäßigkeit findet, darf sie nicht folgern, daß es Wunder überhaupt nicht gebe; die Heilsgeschichte und der Glaube ist übernatürlich. Ein Fehler ist es, wenn die Geschichtswissenschaft von vornherein annimmt, daß die außerbiblischen Berichte, Denkmäler, Urkunden gegen die Bibel im Recht seien; denn die Bibel ist zum mindesten auch eine Quelle. Es ist falsch, wenn die Wissenschaft keine Geheimnisse anerkennen will; die Wissenschaft ist ein Erzeugnis| des menschlichen Geistes und der hat seine Grenzen. Ein gleicher Irrtum und Versündigung wäre es, wenn umgekehrt ein christlicher Forscher meinte, die auf dem Wege natürlicher Verstandesthätigkeit gefundenen Erzeugnisse deswegen, weil sie anscheinend nicht mit der Schrift übereinstimmen, unterschlagen oder korrigieren zu müssen. Dies wäre gegen die wissenschaftliche Gewissenhaftigkeit und wäre eine Erschleichung von Resultaten und ein ebenso großes Unrecht an dem Geist der Wissenschaft wie an dem des Christentums. Die Lösung eines auftauchenden Widerspruchs der Wissenschaft mit der heiligen Schrift ist im letzten Grund von Gott zu erwarten.

 Die Wissenschaft tritt insofern in den Dienst des Christentums, als die Resultate ihres Nachdenkens über die Art und Weise, wie man sich irgend eines Wissensgebietes bemächtigt und es bemeistert, auch vom Christen benützt und für seine Zwecke verwendet werden. (Methode; theologisches System.) Sofern die Wissenschaft die Werke Gottes zu verstehen sucht, kann sie, da die natürliche Welt das Abbild einer höheren ist, der Theologie auch manchen Unterstützungsbeitrag positiver Art gewähren.

 Ähnlich ist es auch mit den Künsten, deren oberste die Dichtkunst ist, weil sie es mit dem geistigsten Mittel zu thun hat, dem Wort, und damit ihre Erfolge erringt. Es ist eine ungerechte Forderung, zu verlangen, daß sie bloß religiöse Stoffe behandeln solle; auch alles Natürliche darf die Kunst in ihren Bereich ziehen. Sie hat nicht bloß die Aufgabe, religiös zu erbauen, sondern tendenzlos das äußere und innere Leben zur Darstellung zu bringen, und sich von der maßgebenden Idee, der Idee des Schönen, leiten zu lassen.

 Andernteils darf sie auch nicht frivol der Sünde dienen; denn dann muß sich der Christ von ihr abwenden. Dabei gilt auch hier, daß auch die Kunst ihre höchste Weihe im Dienst des Heiligtums erlangt und in diesem Dienst auch ihre höchste Aufgabe findet. Weltlich ist nicht sündlich; das wird es erst, wenn es in den Dienst der Sünde gestellt wird; denn sonst müßte man die Welt als eine Welt des Teufels ansehen, nicht als eine Welt Gottes, die sie doch geblieben ist. Finden wir doch selbst auf dem Gebiet der alttestamentlichen Offenbarung eine Periode, in welcher sich die Dichtkunst mit Absehen von den übernatürlichen Lebensstoffen, die aus der Heilsgeschichte stammen, auf rein menschliche Verhältnisse zu beschränken suchte. Es ist dies die Zeit der Kultivierung der Lebensweisheit (חֹכְמָה‎).

 Das Buch Hiob sieht von der ganzen Heilsgeschichte, von dem| spezifisch Volkstümlichen in Israel ab und versetzt künstlich den Leser in eine weit zurückliegende Zeit, in die Zeit der Patriarchen, und bringt ein allgemein menschliches Problem zur Erörterung: die Frage nach dem Verhältnis der Leiden des Frommen zur göttlichen Gerechtigkeit.

 Die Sprüche Salomonis sind Ergebnisse der nachdenkenden Beobachtung des natürlichen Lebens und seiner Verhältnisse mit Absehen von dem spezifisch Religiösen. Salomos Wissenschaft war eine vorzugsweise weltliche. Er redet von dem Ysop, der aus der Wand wächst, bis zur Ceder auf dem Libanon. So sehen wir selbst beim Volk Israel, bei welchem Natürliches und Geistliches, Volkstümliches und Religiöses sich sonst durchdrang aus dem Grunde, weil hier das Reich Gottes in Gestalt eines Volkes zur Darstellung kam, im Lauf seiner Geschichte eine Periode eintreten, wo das Recht des allgemein Menschlichen und Natürlichen erkannt und anerkannt wird.

 Es gehört also die Kunst zu der dem Menschen gestellten Aufgabe der Weltbeherrschung und Weltaneignung, die bildende wie die dichtende und darstellende, die Malerei wie die Musik. Die Kunst eignet sich die Weltstoffe an, durchdringt sie aber mit dem Geist, mit der Idee, und gestaltet so den Stoff zu einem Kunstwerk. Die Kunst ist die höchste Steigerung menschlicher Thätigkeit. Sie ist in der That eine Art Schaffen, wie denn auch gerade von den Leistungen auf dem Gebiet der Kunst dieser Ausdruck gebraucht wird. An dem Künstler tritt uns recht augenscheinlich die anerschaffene Gottesebenbildlichkeit des Menschen – allerdings nach einer einzelnen, aber wichtigen Seite – entgegen: dem Schöpfer ähnlich bringt er seine eigenen Ideen schöpferisch in der sichtbaren Welt und mit den Mitteln, welche diese ihm darbietet, zur Darstellung und verleiht ihnen ein gewisses Dasein in seiner eigenen Welt. Die Kunst ist mit der Wissenschaft insoferne verwandt, als ja alles Können ein Wissen voraussetzt. Der Künstler muß die Gesetze seiner Kunst kennen und andernteils nimmt auch das Wissen, wenn es nicht nur roh aufgehäufter Wissensstoff bleiben, sondern ein systematisches Ganzes werden soll, auch die Natur eines Kunstwerkes an. Sonst ist freilich Wissenschaft und Kunst insofern unterschieden, als der wissenschaftliche Forscher nichts sucht als die Wahrheit, und zwar in Form der Wirklichkeit, während die Kunst kein bloßer Abklatsch der Wirklichkeit ist. Die Kunst idealisiert die Wirklichkeit, sie faßt das wirklich Existierende im Licht seiner göttlichen Idee und Bestimmung auf und damit erhebt sie sich über die schlechte Wirklichkeit. Sie stellt das Seiende| dar, wie es sein soll, wie es im Lichte der Idee geschaut, wird und so ist es wahr, was man gesagt hat: „die Kunst ist eine Anticipation der Weltverklärung“; und so hat Goethe nicht so unrecht, wenn er sagt: „die Kunst ist ein natürliches Evangelium“. Sie predigt von dem sündlosen Urstand und der makelfreien Zukunft. Da offenbart sich die Verwandtschaft der Kunst mit der Religion. Die Kunst ist freilich nur ein Ahnen und die Religion Offenbarung; beide stellen aber doch der entarteten Wirklichkeit die gottgewollte Idee entgegen, und beide erheben in ihrer Art über die Wirklichkeit, nur daß die Kunst keinen Weg zeigt, wie man aus dieser gegenwärtigen Korruption erlöst werden kann. Die Kunst kann und soll dem Heiligen dienen; zwischen dem Reich des Guten und dem des Schönen besteht kein Gegensatz. An und für sich ist Kunst wie Wissenschaft etwas dem natürlichen Gebiet Angehöriges, rein Menschliches; ebendarum aber auch etwas Erlaubtes. So ist in der Poesie die Behandlung des unerschöpflichen Themas der Lyrik: „Der Liebe Lust und Leid“ vollkommen berechtigt, denn der Christ lebt als Mensch auch dieses Leben. Was der Dichter besingt, sind, abgesehen von dem daran klebenden Sündigen, gottgeschaffene Regungen in der Menschenbrust. Es ist eine pietistische Verengerung des Kreises des Erlaubten, wenn das alles als Eitelkeit der Welt angesehen wird. Dann müßte man alle Freude an der Natur verwerfen. Es ist eine große Anschauung, die uns die Reformation gebracht hat, daß das Christentum das Recht des Menschlichen, soweit es nicht Sünde ist, nicht negiert, sondern erst zur Geltung gebracht und verklärt hat.


§ 59.
Die Gnadengemeinschaft der Kirche.

 1. Unterschied dieser Gemeinschaft von allen vorher behandelten.

 Sie ist wie keine andere unmittelbar von Gott gestiftet und von ihm geschaffen an Pfingsten, also übernatürlichen Ursprungs. Alle andern sind, wenn auch von Gott kommend, natürlichen und geschichtlichen Ursprungs. Sie haben auch Ziele und Zwecke nur in dieser Zeit und sind zeitlich; die Gemeinschaft der Kirche beginnt zwar auch hier, vollendet sich aber erst in der Ewigkeit. Die Gemeinschaft der Kirche beruht auch nicht auf Naturbestimmtheit oder bloß menschlicher Wahl, sondern auf göttlicher Auswahl (Akt. 2, 47), nicht ohne daß auf die menschliche Entscheidung für und wider Christum Rücksicht genommen ist.| Die Kirche ist darum die höchste und vollendetste Gemeinschaftsform, dazu bestimmt, alle andern Gemeinschaftsformen in sich aufzunehmen und in verklärter Weise darzustellen. Es zeigt sich in ihr das Kindschaftsverhältnis in übernatürlicher Weise, in der Liebe der Kinder Gottes zum himmlischen Vater, das bräutliche und eheliche Verhältnis in der Verbindung der Kirche mit Christo, das Verhältnis der Volks- und Staatsgemeinschaft im Reiche Gottes, im Volk Gottes, in der Stadt Gottes als dem Mittelpunkt dieses Reichs. Darum ist es des Christen höchste sittliche Aufgabe, ein lebendiges und würdiges Glied der Kirche zu sein und sie zu fördern im Ganzen, mehr als ein rechter Vater, Sohn, Bürger zu sein. Das letztere kann man sein, ohne daß man zugleich das erstere wäre, dagegen ist das erstere zugleich der Weg zum letzteren. „Trachtet am ersten nach dem Reiche Gottes,“ Matth. 6, 33. Die Hauptäußerung der lebendigen Zugehörigkeit zu dieser Gnadengemeinschaft ist die brüderliche Liebe, 1. Joh. 5, 1 und ein Wandel im Licht, 1. Joh. 1, 6. 7.

 2. Der Unterschied der mancherlei Seiten, die die Gnadengemeinschaft der Kirche hat.

 Was oben gesagt wurde, bezeichnet mehr die innere verborgene Seite der Kirche, ihr inneres Wesen, d. h. den lebendigen Zusammenhang der Glieder der Kirche mit Gott und den Brüdern im Glauben und in der Liebe; die Kirche hat aber als geschichtliche Erscheinung auch eine sichtbare Seite, sie ist auch eine greifbare sichtbare Gemeinschaft mit bestimmter Gestaltung. Diese besteht in den unmittelbaren göttlichen Stiftungen und Einrichtungen, dem Wort und den Sakramenten nebst dem heiligen Amt und in den notwendigen und unausbleiblichen Äußerungen des Glaubens, im Bekenntnis zum Wort und in der Übung des Gottesdienstes, und in den notwendigen Äußerungen der Liebe, besonders gegen die Hilfsbedürftigen unter den Brüdern. Alle diese Äußerungen des Glaubens sind ebensoviele Pflichten, die der Christ gegen die Kirche hat, soferne sie in die Erscheinung tritt.

 Von dieser auf göttlicher Stiftung und auf den unbedingt zu ihrer Existenz erforderlichen Lebensäußerungen ruhenden Seite – also ihrer Wesenhaftigkeit (zu welcher ihr inneres Wesen und die notwendige äußere Erscheinungsform gehört) – ist zu unterscheiden ihre mehr oder weniger menschlich zufällige wirkliche Erscheinungsform, welche dadurch bedingt ist, daß sie mit ihrem göttlichen Leben in die geschichtliche Entwicklung eingehen muß und dadurch sogar auch die Sünde| und das sündliche Verderben in sich aufnimmt, und daß sie ihre äußere Existenz in dem Boden des Staates hat und wie jede andre Gemeinschaft in ein Rechtsverhältnis zur Welt, nach außen, in ein Verhältnis zum Staate gekommen ist und kommen mußte.

 Die erste der genannten Seiten ist die Konfessionskirche mit ihrem geschichtlich gewordnen Bekenntnis, Kultus und ihrer Verfassung, die sich im Widerspruch mit andern Konfessionskirchen oder Denominationen befindet. Die andere Seite ist das äußere Kirchentum mit seinen erworbenen Rechten, Besitzungen, seinem Einfluß auf öffentliche Verhältnisse. Die beiden letztgenannten Seiten muß man unterscheiden, weil die Konfessionskirche an Umfang weiter ist und eine ideale Einheit bildet, während die letztgenannte die äußerlichste und am meisten an die Örtlichkeit gebundene Seite der Kirche ist.

 3. Es gibt eine rechte Kirche unter den Konfessionskirchen, in welcher das Bekenntnis, der Kultus mit der Sakramentsverwaltung und das Leben sich verhältnismäßig am reinsten, d. h. am schriftmäßigsten, darstellt. Diesen Vorzug hat ohne Zweifel die lutherische Kirche, d. h. die durch die Reformation erneuerte, wiederhergestellte und fortgesetzte alte katholische Kirche. Ihr gegenüber stehen die anderen Konfessionen als Teile der allgemeinen Taufkirche, aber als solche, die mehr oder weniger von der reinen Lehre des Evangeliums abgewichen und somit häretisch sind. Trotz dieser zum Teil sehr bedeutenden Abweichungen, die bis an das Antichristische streifen (in der römischen Kirche das Papsttum), halten doch alle christlichen Gemeinschaften an den Grundwahrheiten des Christentums, wie sie im Symbolum Apostolorum und im Nicaenum ausgesprochen sind, fest und beobachten in der Handhabung der Sakramente alle ein gewisses Maß von Gehorsam. Darum gibt es eine allgemeine Kirche, die Taufkirche, und eine Einigkeit des Bekenntnisses über den Konfessionen, die greifbar und erkennbar ist.

 4. Das Verhalten gegenüber der Konfessionskirche.

 Wir gehören nach unsern jetzigen Verhältnissen durch die Geburt einer Konfessionskirche an und werden in der Regel darin erzogen. Dieser Umstand bewirkt zunächst und mit Recht eine Pietät gegen diese Kirche, und kein Christ ist der Pflicht überhoben, die Lehre und Praxis seiner Kirche genau kennen zu lernen. Er ist aber damit nicht der Pflicht überhoben, auch andre Konfessionen und ihre Lehre zu prüfen, auch seine eigne, und zwar an der Schrift. Findet| er die Lehre seiner Kirche mit der Schrift übereinstimmend, so ist er aus Überzeugung ein Glied seiner Kirche, und das soll bei jedem der Fall sein. Findet er aber, daß eine andre Kirche schriftgemäßer lehrt und die Sakramente verwaltet und die seinige der Schrift widerstreitend, so hat er Recht und Pflicht zu konvertieren, d. h. sich derjenigen Kirche als Glied anzuschließen, welche er als die rechte auf Erden erkannt hat. Daß jeder bei seiner Konfession bleiben soll, ist ein verwerflicher Grundsatz. Was für ein gutes Gewissen die lutherische Kirche dabei hat, indem sie ihre Angehörigen zur Prüfung und Vergleichung auffordert, ist am Tage. Wenn viele, ja vielleicht die Mehrzahl der Konvertiten aus falschen Gründen diesen Schritt thun, so bleibt doch die Sache selbst in Ehren.

 Im übrigen sind in der angeregten Frage zwei Abwege zu meiden: Unionismus und bornierter Konfessionalismus.

 Kirchenmengerei und Unionismus ist ein Krebsschade der Kirche. Die Vernunft fällt immer darauf, und der Teufel weiß diese Neigung auszubeuten. Jedes Glied, namentlich jeder Diener der Kirche, hat die Pflicht, seiner Kirche Treue zu beweisen, sie zu verteidigen und zu fördern auf alle Weise; namentlich hat er bei sich und andern darauf zu halten, daß keine Abendmahlsmengerei eintritt. Aller Unionismus beruht auf dem verwerflichen kirchlichen Indifferentismus, welcher eine Gleichgültigkeit beweist gegen die größten und wichtigsten göttlichen Wahrheiten, die Unterscheidungslehren sind, namentlich gegen die von dem Sakrament des Altars. Er arbeitet, wenn auch unwissend, an der Auflösung der wahren Kirche unter den Konfessionskirchen und strebt eine verschwommene Allerweltskirche an.

 Aller Unionismus ist Untreue, Indifferentismus und deswegen sittliche Verfehlung. Anfangs Indifferentismus in einem Punkt, zuletzt in allen. Die Union arbeitet deshalb an der Auflösung der wahren Kirche unter den Konfessionskirchen. Der Unionismus ist Gleichgültigkeit gegen den Unterschied von Wahrheit und Irrtum; er erklärt beide für gleichberechtigt; es ist eine Ja- und Neintheologie und deshalb nicht nur ein Irrtum, sondern eine sittliche Verfehlung und außerdem hat die Union, wenigstens in Preußen, sich mit der Sünde der Gewissenstyrannei belastet. Die Union wollte Frieden bringen, aber merkwürdigerweise hat, wie Ebrard gesagt hat, das friedliche Nebeneinanderbestehen beider evangelischer Konfessionen gerade da statt, wo keine Unionsversuche gemacht wurden. Die gegenseitige Achtung bei| getrennter Konfession würde ausreichen, Frieden zu schaffen. Was die Entstehung der Union anlangt, so hatte man sich in der evangelischen Kirche schon lange daran gewöhnt, kirchliche Weisungen von oben zu empfangen, und so ist es begreiflich, daß ein evangelischer Fürst wie Friedrich Wilhelm III. die Union (1817) einführen und damit ein Wirrsal anrichten konnte, unter dem wir jetzt noch schwer leiden. Es läßt sich nur aus der gänzlichen Knechtung der lutherischen Kirche unter die Obrigkeit begreifen, daß ein in Luthers Schriften so bewanderter Mann wie Friedrich Wilhelm III. das Recht zu haben glaubte, in innerkirchliche Fragen einzugreifen. Es macht einen bald schmerzlichen, bald lächerlichen Eindruck, wenn er sagt, er wolle Glauben und Lehre der Konfession nicht antasten, sondern nur das Kirchentrennende beseitigen. Dadurch wird das kirchliche Bekenntnis herabgewürdigt zu einer Privatmeinung, die aber auch nicht mehr Recht hat als die entgegengesetzte. Im öffentlichen Handeln darf weder die eine noch die andere sich ausschließlich geltend machen. Es war eine Zumutung „Ja“ und „Nein“ zu vereinigen, die Annahme eines Nonsens, die den bewußten Lutheranern zugemutet wurde. Die schwere Verfehlung, die der König durch Anwendung roher Gewalt begangen hat, kann man nur so entschuldigen, daß man sagt: der König wußte nicht, was er that. Die Wahrheit festhalten und sie als kirchentrennend festhalten ist ein Ding. –
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 Wir sagen aber auch nicht, daß andere, die diese Erkenntnis nicht besitzen, auch so handeln müßten wie wir, oder daß sie, im Fall der Unterlassung der Verdammnis anheimfallen; und hiemit stehen wir, durch die Geschichte belehrt, etwas anders als unsre Väter, die in der Bestreitung einer von ihnen erkannten Wahrheit böswillige Verleugnung und verdammliche Verstockung sahen. Die Abirrung von der Heilswahrheit ist keine verdammliche Sünde da, wo die Abirrung nicht erkannt und nicht wider besseres Wissen und Gewissen festgehalten wird. Dadurch unterscheiden wir uns von dem bornierten Konfessionalismus, der ja auch an der Lehre der eigenen Kirche lauter Licht und gar keinen Schatten sieht und an der bekenntnismäßigen Überlieferung so festhält, als wenn sie auch in ihrer menschlichen Form und Fassung Gottes Wort wäre. Auch das ist bornierter Konfessionalismus, wenn man die über den Konfessionen bestehende Gemeinschaft und Einheit nicht anerkennen will. Im Christen wird das Bewußtsein und das schmerzliche Gefühl nie darüber ersterben, daß sich die eine Gemeinde Jesu so zersplittert hat und in ihrer äußern Erscheinung| der vom Herrn gewollten Einheit so gar nicht entspricht, und so wird jeden evangelischen Christen auch das Bewußtsein begleiten, daß, wenn die verschiedenen Konfessionen nur dadurch Kirchen Jesu sind, daß und soweit sie teil haben an der einen, heiligen, allgemeinen Kirche, sich ein brüderliches Verhältnis mit Gliedern andrer Konfessionen denken läßt, ohne daß man die bestehenden Lehrunterschiede indifferenziierte. Es kann in Zeiten weitverbreiteten Abfalls und bei Erneuerung des Glaubenslebens nach solchen die persönliche Stellung zu Christo alle andern Unterschiede zurückdrängen, wie z. B. der Verkehr der Fürstin Gallitzin und Hamanns beweist. Aus dieser geschichtlichen Erscheinung hätte man, auch wenn später selbstverständlich eine Sezession erfolgen mußte und erfolgte, lernen sollen, daß man bei klarster konfessioneller Erkenntnis und bei entschiedenster Stellung doch nie vergessen soll, daß aufrichtige Frömmigkeit und christliches Glaubensleben auch in andern Konfessionen vorhanden ist, und daß man trotzdem, daß man kirchlich getrennt lebt, sich doch im Geist brüderlich oft die Hand reichen kann. Aber im Geist, nicht wie die Union, die eine äußerliche Einheit machen will, auch nicht wie die moderne Allianzbewegung, welche über die Konfessionskirchen (doch bloß die protestantischen!) hinweg die Kinder Gottes in einer höheren Gemeinschaft versammeln will. Bornierter Konfessionalismus führt auf Irrwege, zum dogmatischen Fanatismus und zu einem Eifer für vermeintliche Rechtgläubigkeit, welche oft selbst mit dem klaren Schriftwort und mit dem evangelischen Schriftprinzip in Widerspruch kommt (missourische Richtung). Die lutherische Kirche als die Kirche der rechten Mitte hat die Abwege links und rechts zu meiden, und sie kann allezeit des Sieges gewiß sein.

 5. Die sichtbare Konfessionskirche in ihrem lokalen Rechtsbestand und das Verhalten des Christen in Bezug darauf.

 a. Die sichtbare Konfessionskirche braucht, wenn sie sich bildet, einen Grund und Boden, auf dem sie stehen kann, sie braucht Kirchengebäude und deren Einrichtung, sie braucht Mittel, ihre Geistlichen und Lehrer zu besolden und sonst manches auszurichten, was für ihr Leben notwendig und förderlich ist. Sie verschafft sich an irgend einem Orte, in irgend einem Lande Existenz, und soweit ihr das gelingt, gewinnt sie als Gemeinschaft eine Anerkennung und rechtlichen Bestand. Ihr Vermögen, ihre Thätigkeit etc. genießt wie das einer Privatperson den Rechtsschutz des Staates. Ja, der Staat hat die Kirche oft und viel mit Rechten und Privilegien ausgestattet, so daß die Kirche eine Macht im Staate geworden ist. Wenn das nicht in ungöttlicher Weise gemißbraucht| wird, wie in der römischen Kirche, so ist das nicht vom Übel; doch wird die Kirche immer die Erfahrung machen, je mehr Gunst sie von Seite des Staates genießt, desto abhängiger ist sie von ihm. Es gilt in gewissem Sinn auch hier: Quidquid id est, timeo Danaos et dona ferentes.

 Das Kirchenrecht macht eine besondere Wissenschaft aus, die gleiches Interesse für Theologen und Juristen hat. Es gibt allgemeine Bestimmungen, wie sie sich im „corpus juris canonici“ finden, die für alle Konfessionen gelten. Wenn Luther das corpus juris canonici verbrannt hat, so war das eine einseitige Handlung, richtig insoweit, als die Bestimmungen des Kirchenrechts, also menschliche Satzungen, dem Worte Gottes gleich- und gar darüber gestellt wurden, unrichtig und voreilig aber insoweit, als man später wieder zu denselben Grundlagen des Rechts zurückkehren mußte und insofern als diese Sammlung bei allem Papistischen, das ihr beigegeben ist, eine mehr als tausendjährige Erfahrung der Kirche enthält und ein Zeugnis ist ihrer Weisheit, eine fortwährende und unentbehrliche Grundlage aller kirchlichen Rechtsverhältnisse und Einrichtungen für alle Zeiten. Es ist daher auch die Grundlage für das protestantische Kirchenrecht, wiewohl wir unsere eignen Rechtsbestimmungen haben und jedes Land insonderheit noch solche hat. Für Deutschland gilt der westfälische Friede 1648 als rechtliche Grundlage, und die kirchenrechtlichen Festsetzungen in den Verfassungen und Gesetzbüchern der einzelnen Länder. Insofern hat jedes Land sein besonderes Kirchenrecht, ja jeder Ort hat sein besonderes Recht in dieser Beziehung.

 b. Das Verhalten des Christen in der Kirche in betreff des Rechtsbestandes der Kirche in dem betreffenden Land und am betreffenden Ort.

 Es gilt da, Gut und Recht der Kirche auf alle Weise zu schützen, gewissenhaft zu bewahren und zu vermehren, namentlich ist es Pflicht derer, denen diese Sorge berufsmäßig obliegt, wie den Geistlichen und den Gliedern der Kirchenverwaltung in der Gemeinde. Denn wiewohl die Kirche gleich ihrem Herrn meistenteils arm ist und in ihrem Rechte nur zu sehr geschmälert wird, so hat sie doch durch Gottes Gnade auch Macht und Einfluß gewonnen und zum Segen und zur Förderung des Reiches Gottes gebraucht. Denn ohne Mittel und Recht ist die Kirche sehr gehemmt, doch darf sie ihr Vertrauen nicht darauf setzen, sondern muß gefaßt und bereit sein, um der Wahrheit willen auch alle| Rechte und alles Gut der Kirche fahren zu lassen. (Die Lutheraner in Preußen und Hessen). Der Herr kann Geist und Kraft mehren in der Not. Die erste Kirche war auch ohne Besitz und ohne Rechte.
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 6. Organisation der Kirche. Die Kirche hat wie jede Gemeinschaft eine Organisation, eine Gliederung, eine Ordnung und eine Verfassung. Die wesentliche Zweiheit von Amt und Gemeinde ist die einfachste Gliederung, es sind die zwei Faktoren, ohne welche die Kirche nirgends in der Welt zur Erscheinung kommt. Über der Einzelkirche steht der Kirchenkörper mit gemeinsamer Kirchenordnung und Kirchenleitung. Die Gemeindeleitung liegt schriftgemäß in der Hand des Pfarrers, die eines Kirchenkörpers in der Hand der allgemeinen kirchlichen Obrigkeit, sei es einer Synode mit ihrem Präses oder eines Bischofs. Man unterscheidet Episkopal-, Synodal- und Konsistorialverfassung resp. Summepiskopat. Die Verfassung der alten Kirche war die bischöfliche (durch die Sendschreiben an die „Engel der Gemeinden“ in der Apokalypse göttlich sanktioniert). Die Oberaufsicht hatte das Konzil, die Versammlung der Bischöfe, bis zuletzt der Bischof von Rom den Primat erlangte. Eine nur in der protestantischen Kirche sich findende Abart der bischöflichen Verfassung ist der Summepiskopat, sofern hier der Landesherr als summus episcopus die Regierungsgewalt in der Kirche hat und diese durch Konsistorien (daher Konsistorialverfassung) ausübt. Man hat diese Verfassung auf die Lehre von den drei Ständen gegründet. Diese Begründung ist mit ihrer Grundlage preiszugeben, letztere ist nicht schriftgemäß. Anzuerkennen aber ist, daß der protest. Kirche kaum etwas anderes übrig blieb als diese Verfassung; denn die bischöfliche Autorität war dahin gefallen; für den großen Haufen aber war eine Autorität, die sich die Theologen nicht zu geben vermochten, nötig. Der Summepiskopat, die Konsistorialverfassung, ist demnach eine geschichtliche Notwendigkeit, ein unvermeidliches Übel gewesen. Der Idee der Kirche und den reformatorischen Prinzipien, welche im Art. XXVIII der Augustana ausgesprochen sind, wo so scharf geschieden wird zwischen Geistlichem und Weltlichem, steht sie schnurstracks entgegen. Der erst wohlthätige Summepiskopat bildete sich bald zur Cäsaropapie aus. „Die (evang.) Landeskirchen sind, wie Bengel sagte, Centaurengestalten, es herrscht das dem vorreformatorischen Mißstand gerade entgegengesetzte Übel: „jetzt haben wir statt eines papa einen apap“ (d. h. die Cäsaropapie. So schon J. V. Andreae). Doch solange der Fürst oder der Staat| nicht in die interna der Kirche hineinregieren will, ist diese Verfassung erträglich, weil eben eine Ordnung sein muß. Der Staat hat ja auch als Rechtsgemeinschaft sein Verhältnis zur Kirche zu regeln, und kann auf die äußere Ordnung derselben einwirken. Je mehr nun aber jetzt der Staat prätendiert, daß er von sich aus, nach seinem Gutdünken alles in der Kirche zu ordnen habe, und sich für die Quelle alles Rechts ausgibt (cf. Maigesetze, Kulturkampf), um so eher kann die Konsistorialverfassung zu etwas völlig Unerträglichem werden. Sie war ein Notdach und hat durch ihren 300jährigen Bestand unter manchmal fast verzweifelten Verhältnissen den Beweis geliefert, daß die Kirche auch unter dem schlechtesten Dach gedeihen und ihren Einfluß auf die Völker üben kann. Die lutherische Kirche wird gegenwärtig wie ein Aschenbrödel behandelt, aber sie wird nicht so gegen den Staat kämpfen, wie es die römische Kirche thut und gethan hat, sie weiß, daß der leidende und duldende Gehorsam dem Bilde Christi ähnlicher macht. Was geschichtlich geworden ist, wird sich auch geschichtlich wieder lösen. Die Kirche muß die Verbindung lösen, wenn im Staat das antichristliche Wesen die Überhand gewinnt; da werden die Gläubigen sich zusammenthun und absondern müssen, wo dann Christus und das christliche Bekenntnis aus dem öffentlichen Leben des Staates verschwinden wird. Solche Lösung der Verbindung ist im Interesse der christlichen Völker tief zu beklagen. Neben der Konsistorial- und bischöflichen Verfassung gibt es noch die Synodalverfassung, wo die Leitung bei der Synode liegt, welche sie von Zeit zu Zeit einem zu wählenden Präses übergibt. An die freie Kirche in Deutschland und an die Kirche in Amerika trat die Frage heran, welche Verfassung sie sich geben wollten. Sie haben sich für die synodale entschieden. Das ist auch die einzige, die interimistischerweise fungieren kann. Nicht alle Verfassungen sind gleich gut, aber bestehen kann die Kirche unter jeder. Das Göttliche in der Kirchenverfassung ist das Verhältnis zwischen Amt und Gemeinde.
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 7. Das Verhältnis der Kirche zum Staat. Durch Gottes Leitung hat es seit Konstantin eine Staatskirche gegeben; d. h. der zuvor heidnische Staat hat der Kirche Raum gegeben und Einfluß gestattet, die Verhältnisse, Rechte und Sitten christlich zu gestalten. Dagegen hat der Staat das Oberaufsichtsrecht über die Kirche erhalten und geübt. Später entstanden durch Vermischung und Vermengung beider Gewalten heftige Konflikte (Kampf zwischen Kaisertum und Papsttum). Durch die Reformation hat sich dieses Verhältnis| der Kirche zu den Fürsten und dem Staate erneuert und besteht bis auf den heutigen Tag. Diese Form hat der Kirche manche Kraft und manchen Segen genommen, z. B. den einer rechten brüderlichen Zucht; aber sie hat in der Hand Gottes zur Völkermission gedient und wird wohl bleiben, bis diese Aufgabe erfüllt ist. Der lutherischen Kirche hat dies Verhältnis zu den Fürsten in der Reformation genützt; sie ist dadurch zu einem gesicherten Rechtsbestand gekommen, später aber auch geschadet, weil die Fürsten ihre Macht mißbrauchten und die Kirche durch Unglauben verderbten. (cf. oben.)

 Neben den Staatskirchen haben je und je Freikirchen bestanden, die alle im wesentlichen Brüderkirchen waren. Dahin gehört vor allem die Herrnhuter Brüdergemeinde. In neuerer Zeit gibt es auch in der lutherischen Kirche freie, von dem Staat unabhängige Gemeinden. Die letzte Zeit, die eine Zeit der Christenverfolgung sein wird, wird ohne Zweifel die freie Form bringen. Betrüben wir uns nicht, wenn die staatskirchliche Form fällt, sie hat dann ihre Dienste gethan. Vertrauen wir, daß Gott seine Kirche auch ohne Schutz des Staates erhalten kann (Amerikanische Kirche), und bauen wir die Kirche, wenn sie auch ecclesia pressa ist, mit aller Zuversicht; sie ist dann auch mancher lästigen Fessel los. Leiden wir mit der Kirche, machen wir ihre Not zu der unsrigen, wie es unsere Pflicht ist, so werden wir mit ihr und in ihr bleiben und das Reich ererben. –