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Wenn der Familiengeist ein christlicher ist, so kann er mächtige Wirkungen ausüben, wiewohl die Familien zu den Seltenheiten gehören, welche vorwiegend in ihren Gliedern christlich sind.


§ 57.
Die Volks- und Staats- (Völker- und Staaten-)Gemeinschaft.

 A. Die Volksgemeinschaft, welche zugleich die Stammesgemeinschaft in sich befaßt, ist das eigentliche Vaterland des Menschen. Es fällt freilich nicht immer die Staatsgemeinschaft (das politische Vaterland) mit der Volks- und Stammesgemeinschaft zusammen. Eine Volksgemeinschaft ist nicht immer geographisch und politisch abgegrenzt, daher kann örtlich das politische Vaterland in einem andern Gebiet sich befinden als die Volksgemeinschaft, der man angehört. Die Deutschen wohnen in aller Welt zerstreut und machen doch nur eine Volksgemeinschaft aus, welche durch gemeinsame Abstammung, Sprache, Sitten, Geschichte, Litteratur und in gewissem Maße durch die gleiche Religion gekennzeichnet ist. Jetzt mehr als je sind die Deutschen sich ihrer Zusammengehörigkeit bewußt, und das ist recht und natürlich. Im eigentlichen Sinn, wenigstens geistig, ist Deutschland auch der Zerstreuten Vaterland. Am vollkommensten ist dies natürlich bei den Deutschen der Fall, die auch in Deutschland wohnen. Die Zugehörigkeit zu einem Volk oder Volksstamm ist eine Naturbestimmtheit. Der Boden, auf dem ein Volk erwachsen ist, das Klima und der Himmelsstrich, die natürliche Beschaffenheit des Landes, noch mehr aber die geschichtliche Vergangenheit und Gegenwart wirken bestimmend auf die Eigentümlichkeit des Volks und dessen einzelne Glieder ein. Diese Umstände prägen bei aller sonstigen Verschiedenheit doch den einzelnen Gliedern einen und denselben besonderen Charakter auf, den man Nationalcharakter nennt. Die Genossen eines Stammes und Volkes sind durch natürliche Bande, durch natürliche Liebe und Zuneigung miteinander verbunden wie bei der Familie, wiewohl begreiflicherweise Antipathien genug vorkommen. Landsleute, zumal in der Fremde, fühlen sich verwandt. Doch bedarf das Nationalgefühl bei aller natürlichen Berechtigung einer sittlichen und religiösen Läuterung. Es darf nicht unbedingt maßgebend sein. Es gibt auch andere, menschliche, bürgerliche und religiöse Verhältnisse, durch welche es eingeschränkt und modifiziert wird. Es wird oft mit dem Nationalgefühl Mißbrauch getrieben, z. B. bei den Franzosen und sonst. Man verkennt oft Verbindungen,