Christliche Ethik auf lutherischer Grundlage/Das Gesetz als das vom Menschen zu verwirklichende Ebenbild Gottes
« Die dem gefallenen Menschen gebliebenen Kräfte und Reste des göttlichen Ebenbildes | Friedrich Bauer Christliche Ethik auf lutherischer Grundlage |
Das göttliche Ebenbild verwirklicht in der Person Jesu Christi » | |||
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Die Gesetzgebung, dieser große Fortschritt in der sittlichen Erziehung der Menschheit, erfolgte nicht, ohne daß ihr in der Patriarchenzeit eine evangelische Zeit, und nicht, ohne daß der Forderung des Gesetzes die Verheißung der Gnade vorausgegangen wäre. Die Verheißung, dieses alttestamentliche Evangelium, ist früher als das Gesetz und das Gesetz selber ist nicht als ein abstrakter Moralkodex, losgelöst aus dem Zusammenhang der ganzen göttlichen Gnadenführungen Israels und der ihm geschenkten Verheißungen, sondern als integrierender Bestandteil der Heilsgeschichte anzusehen, als Erlebnis des Volkes Gottes.
Vom Standpunkt unserer Aufgabe aus haben wir das Gesetz anzusehen als das vom Menschen zu verwirklichende Ebenbild Gottes, als das Ebenbild Gottes in Gestalt einer an ihn herantretenden Forderung. Lev. 19, 2; 11, 45. „Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig.“ cf. Matth. 5, 48.
Das Gesetz zeigt dem Menschen, wie er von Gottes wegen sein soll. Es stellt also die Gottesebenbildlichkeit als ein außerhalb des Menschen liegendes, von ihm zu verwirklichendes, aber freilich von ihm nie verwirklichtes Ideal dar. Die zwischen dem Urzustande, dem status integritatis, und der Gesetzgebung liegende Thatsache des Sündenfalles bringt es mit sich, daß das Gesetz nur als ein außerhalb des Menschen liegendes Ideal erscheint, mit welchem sich die wirkliche Beschaffenheit des Menschenwesens nicht mehr deckt, welches vielmehr dazu bestimmt ist, die Abweichung des Menschen von dem ursprünglichen guten Zustand demselben zum Bewußtsein zu bringen. Dies ist die Bedeutung des Gesetzes in der Geschichte der sittlichen Entwicklung der Menschheit und jedes einzelnen Menschen. (Nicht als Heilmittel für das sittliche Verderben der Menschheit, was zu sein es gar nicht im Stande wäre, erscheint das Gesetz, sondern lediglich als ein Erziehungsmittel der Menschheit, als ein Zuchtmeister auf Christum, cf. Gal. 3, 15–24; Form. conc. VI.)
Zunächst ist das Gesetz dem Volk Israel gegeben, und es entsteht die Frage, die nicht so leicht zu beantworten ist: Inwiefern gilt das Gesetz für die ganze Menschheit?
Die Einleitung zu den zehn Geboten scheint die Gesetzgebung ganz und gar auf das Volk Israel zu beschränken; denn es heißt: „Ich bin der HErr dein Gott, der dich aus Egyptenland, aus dem Diensthaus, geführt hat.“ Ex. 20; aber es gilt doch für die ganze Menschheit. Das kann man beweisen:
1. aus der einzigartigen Stellung des Volkes Israel. Das Volk Israel war das auserwählte Volk, der Träger der Gottesoffenbarung, dem sich Gott geoffenbart hat und durch welches die Offenbarung hinübergeleitet werden sollte auf die ganze Menschheit. Wie die neutestamentliche Offenbarung Jesu Christi nicht nur Israel galt, sondern der ganzen Menschheit, so auch die alttestamentliche (doch diese mehr in den allgemeinen Grundgedanken, wie sie hernach durch das Medium des Christentums den Völkern übermittelt worden sind, als in der Ausprägung derselben im Einzelnen). Das Volk Israel ist nur der Träger dieser Gottesoffenbarung. Röm. 3, 2.
| 2. kann man es daraus beweisen, daß der Gotteswille, daß das sittliche Gute nur eines ist, und weil eines, für alle Menschen gültig. Das liegt in der Natur des Gesetzes. Doch müssen wir darauf achten, daß nicht alles im Alten Testament universal ist. Das Gesetz gilt allen Menschen, insofern es auf das wesentliche sittliche Verhalten abzweckt;3. kann man es daraus beweisen, daß das, was Christus von seinen Jüngern fordert, identisch ist mit dem, was das Gesetz fordert; cf. Bergpredigt; Matth. 22, 34–40; Röm. 13, 9. 10; 1. Joh. 4, 20–21.
4. Die Bedeutung des Gesetzes für die ganze Menschheit ist schon daraus einleuchtend, daß bei jedem, der zu Christo kommt, im Kleinen sich der große historische Gang der Welt und des Volkes Israel wiederholt (auch der Kirche; cf. Reformation). Von einem Stand relativer Unschuld kommt der Mensch in einen Stand, wo er des Zwiespaltes mit Gott inne wird; es folgt der Stand unter dem Gesetz, welches zunächst nur als Joch ihm aufliegt, weiter aber als Spiegel seiner selbst ihm dient, und vorbereitend ihn hinüberleitet in den Stand der Gnade, worauf das Gesetz aufhört, äußere, zwingende Norm zu sein, nicht aber Regel und Richtschnur eines Gott wohlgefälligen Verhaltens in dem sittlich Wiedergeborenen.
Im Gesetz gibt sich Gott kund als der Gesetzgeber, der das Recht hat, seinen Willen allen Menschen aufzulegen; er gibt sich aber auch kund als der Richter, der jeden Menschen nach seinem sittlichen Verhalten genau und vollkommen beurteilen kann und als der Vergelter, der auch den Willen und die Macht hat, je nachdem der Mensch handelt, ihn zu bestrafen und zu belohnen. Was in den Funktionen des Gewissens innerlich vorgeht, erscheint hier als handgreifliche äußerliche Thatsache mit einer überwältigenden Klarheit.
Um die Scheidung des Lokalen und Temporären vom alttestamentlichen Gesetz leichter zu vollziehen, dient die herkömmliche Einteilung des Gesetzes in: Sittengesetz (dessen Summe in den zehn Geboten enthalten ist), Ceremonialgesetz (die göttlich gegebene Kirchenordnung des Alten Testaments) und bürgerliches Gesetz (welches das gesamte Staatsleben, die Verfassung und Verwaltung des Staates, die rechtlichen und sozialen Verhältnisse desselben umfaßt).
Das Sittengesetz ist seiner Natur nach allgemeiner Art. Dazu| kommt, daß, was allgemein sittlicher Natur ist im Alten Testament, direkt oder indirekt im Neuen Testament bestätigt und bekräftigt wird. Doch läßt sich diese Scheidung des Sittengesetzes vom übrigen Gesetz nicht mechanisch vollziehen. Es kommt mitten in dem Sittengesetz (den zehn Geboten) eine Bestimmung vor, die ceremonialgesetzlich ist: das dritte Gebot. Da erwächst die Aufgabe, dieses seiner temporären und lokalen Bestimmung zu entkleiden und den jenem zu Grunde liegenden allgemeinen Gedanken, den Geist und die Absicht des Gebots, zu finden d. h. es christlich umzudeuten; vgl. Luthers Auslegung des dritten Gebots. Spuren dieser Verallgemeinerung und geistlichen Umdeutung finden sich schon in den Propheten; Jes. 58, 13, und JEsus sagt: „Des Menschen Sohn ist ein Herr auch des Sabbaths“, Matth. 12, 5; der Sabbath ist als Mittel zum Zweck, nicht als Selbstzweck bezeichnet Mark. 2, 27. Der Ruhetag nach sieben Arbeitstagen ist eine Naturordnung; die Naturordnungen machen sich auch im Leben der Christenheit als solche geltend (Verhältnis von Mann und Weib, 1. Kor. 11). Er ist eine wohlthätige Naturordnung: „Er hat euch den Sabbath gegeben“, 2. Mose 16, 29. So haben auch einzelne Gebote strafrechtliche Bestimmungen bei sich, die nur für die alttestamentliche Zeit passen, z. B. daß ungehorsame Kinder gesteinigt werden sollen, 5. Mos. 21, 21 etc. Andere scheinbar spezielle und temporäre Gesetzesbestimmungen, wie die verbotenen Verwandtschaftsgrade, Lev. 18 und 20 sind, wenn man der rein jüdischen Leviratsehe ihre eigene Stellung anweist, nicht minder wie die Todesstrafe für die Mörder von Seite der Obrigkeit, 1. Mos. 9, 6 cf. Röm. 13, 4, allgemein sittlicher Natur oder geben Grundbestimmungen der allgemein sittlichen Weltordnung, die Gott nicht ungestraft verletzen läßt. Die letztere Bestimmung ist nicht eine einfache Forderung des Sittengesetzes, sondern eine Bestimmung des göttlichen Strafrechtes, in dem sich das Grundgesetz der göttlichen Gerechtigkeit geltend macht, das jus talionis: „Seele um Seele, Auge um Auge, Zahn um Zahn“, 2. Mose 21, 23; 3. Mose 24, 17. 20; 5. Mose 19, 21. Das geht sogar auf die Tiere über, 2. Mos. 21, 28. Darauf ruht auch das Verfahren in denjenigen Fällen, wo sich die strikte Wiedervergeltung nicht durchführen läßt, cf. 2. Mos. 21, 28. 30. 32. Alle diese einzelnen Rechtsbestimmungen, die natürlich für uns keine Geltung mehr haben, haben keinen anderen Zweck als das Grundgesetz der sittlichen Weltordnung oder der göttlichen Gerechtigkeit, nämlich einer genau der Sünde| entsprechenden Strafe oder Wiedervergeltung, bis ins Kleinste hinein durchzuführen und einzuprägen. Die einzelnen positiven Strafbestimmungen des mosaischen Gesetzes binden uns nicht mehr; aber der Geist, der darinnen ist, der leitende Grundsatz, ist eine ewige, unumstößliche Wahrheit, ein Grundgesetz des göttlichen Rechts, das für unser sittliches Urteil, namentlich wo es gilt, menschliche Rechtsbestimmungen festzusetzen oder zu beurteilen, maßgebend sein muß. Was die Todesstrafe betrifft, so hat die Ethik die Aufgabe, an ihrem Ort sie als allgemein giltige göttliche Rechtsbestimmung aus der Natur der speziellen Sünde zu rechtfertigen und nachzuweisen, wie überhaupt bei allen festzuhaltenden speziellen Bestimmungen des Alten Testaments die Allgemeinverbindlichkeit genau nachzuweisen ist.Was das Ceremonialgesetz betrifft, so ist keine seiner Satzungen mehr für uns gültig. Der Apostel rechnet sie zum ABC in der Schule der religiös-sittlichen Erziehung der Menschheit, Gal. 4, 3. 9; Kol. 2, 8. 20. Der wichtigste Bestandteil des Ceremonialgesetzes ist das Opfergesetz.
Das ganze Opfergesetz ist durch Christum aufgehoben, weil durch ihn erfüllt, aufgehoben, nicht in dem schlechten Sinn des Abgeschafften, sondern aufgehoben im guten Sinn, d. h. auf eine höhere Stufe erhoben, weil der Typus durch die Erfüllung im Antitypus auf eine höhere Stufe erhoben wird und somit aufhört, eine selbständige Bedeutung zu haben. Das ganze Gesetz war innerlich bereits entkräftet und entleert, nur zur hohlen Form herabgesunken, als Christus sein Opfer am Kreuz vollbrachte. Mit dem „es ist vollbracht“ ist das Opfer von der gewissen Realität, die es im Alten Testament hatte, entkleidet. Äußerlich ist dies hervorgetreten an der Zerreißung des Vorhangs und an der Zerstörung Jerusalems und des Tempels.
Fortgehende Bedeutung haben die Bestimmungen des Ceremonialgesetzes nur als Typen und man hat sie mit Recht als ein in Bilderschrift geschriebenes Evangelium angesehen. Es spiegelt sich darin das ganze Werk der Erlösung und die christliche Heilsordnung. Sie dienen auch fortwährend der christlichen Kirche zur Veranschaulichung und Erläuterung innerer Vorgänge und liefern auch im einzelnen manchen wichtigen Beitrag zum Verständnis des neutestamentlichen Heilswerkes, wie denn überhaupt vom Lichte des Neuen Testaments beleuchtet das Alte Testament fortwährend eine sehr wichtige Erkenntnisquelle für göttliche Wahrheiten ist. Damit hängt die Seite zusammen, die hier hervorgehoben werden muß, wo es sich um Offenbarung göttlicher| Rechtssätze handelt, welche wieder zum Fundament religiöser und sittlicher Wahrheiten dienen. So liegt vor allem in den Opfergedanken ein auch bei den Heiden erkannter und fast allgemein durchgreifender Grundsatz des göttlichen Rechts, daß die Sünde einer Sühne bedürfe, und daß diese durch Stellvertretung möglich sei, ja daß sie notwendig sei, wenn die Sünde vergeben werden und Gnade von Seiten Gottes erzeigt werden solle, und daß sie dadurch geschehe, daß der Stellvertreter, hier das stellvertretende Opfertier, unschuldig (daher ohne Fehl, ohne Wandel, ohne Tadel, 3. Mos. 1, 10) sei, und die von dem Schuldigen verdiente Strafe, den Tod, leide, auch sein Blut vergieße, um dann dem HErrn als wohlgefällige (entsündigte) Gabe dargebracht zu werden. Hieher Lev. 1 ff., besonders Kap. 16, vom großen Versöhnopfer. Hier ist der Gedanke der Stellvertretung und der aufgelegten fremden Schuld und Strafe am anschaulichsten vorgebildet (die 2 Böcke, von denen einer ledig gelassen, der andere geschlachtet wird, v. 7, die Handauflegung mit Sündenbekenntnis: „Da soll dann Aaron seine beiden Hände auf sein Haupt legen und bekennen auf ihn alle Missethat der Kinder Israel und ihn in die Wüste lassen.“ Der andere Bock, auf den das Los fällt, soll zuvor zum Sündopfer geopfert werden; er soll geschlachtet werden als des Volkes Sündopfer und mit seinem Blut der Gnadenstuhl besprengt werden etc.). In dieser Institution und in ähnlichen spricht sich der oberste Grundsatz des göttlichen Rechts, das jus talionis, auf das deutlichste aus. Die Verletzung des göttlichen Gesetzes verlangt durchaus eine Genugthuung, satisfactio, eine adäquate Strafe für die Sünde; diese ist der Tod. Aber in der Strafe an sich liegt nichts Versöhnendes. Wenn der Sünder dem Tode verfällt, so hat zwar Gottes Gerechtigkeit eine Genugthuung; aber weder dem Menschen, noch Gotte ist damit etwas gedient; erst die Stellvertretung eines Unschuldigen, der für einen andern den Tod leidet, bewirkt eine Sühnung und Versöhnung. Die Übertragung der Schuld und Strafe auf ein anderes opferwilliges, aber unschuldiges Subjekt bewirkt Befreiung von Schuld und Strafe bei den Schuldigen: das ist ein zweites Grundgesetz des göttlichen Rechts, welches seine volle Erfüllung und sein volles Verständnis erst in dem freiwilligen und unschuldigen Opfertode Christi findet.Was das bürgerliche Gesetz betrifft, so hat für uns Christen als solche keine seiner Rechtsbestimmungen mehr Gültigkeit. Denn die Christenheit ist kein natürliches, irdisches Gemeinwesen, wie es die Völker sind und wie es in gewissem Maß auch Israel war, sondern ein geistliches Gemeinwesen, eine Glaubensgemeinde. Sofern es aber in der Christenheit auch Volkstum und Völker gibt, steht man in ihr jenem Gesetz als einer göttlichen Ordnung des Volkslebens nicht gleichgiltig gegenüber, Deut. 4, 6–8. Doch sind die Verhältnisse hüben und drüben nicht ganz die gleichen.
Das Verhältnis Israels zu seinem Land war ein ganz anderes als das aller anderen Völker zu ihren Ländern. Das Land Kanaan ist Gottes Eigentum, Israel Gottes Lehensmann; daher die Zehntabgabe. Während nach Akt. 17 die geographische Ausbreitung der andern Völker unter göttlicher Vorsehung und Leitung stand, war das Volk Israel das erwählte Volk, bei dem es sich nicht nur um eine Leitung und Vorsehung, sondern um eine That des göttlichen Heilswillens handelte. Das bürgerliche Gesetz war (wenigstens ein großer Teil desselben) sozusagen dem Volk Israel auf den Leib zugeschnitten; so kann es in seinem buchstäblichen Sinne nicht für andere Zeiten und Völker verpflichtend sein. Die Zehntabgabe ist dahingefallen; ebenso ist dahingefallen die Beschränkung der Eigentumsrechte durch das Verbot der Veräußerung. Aber der Grundgedanke, der Geist| dieser Gesetzgebung, die Substanz ist geblieben, daß nämlich der Christ eigentlich nicht Eigentümer, sondern nur Haushalter über die Güter Gottes ist, daß er nicht mit purer Willkür über dieselben schalten und walten kann. Hingefallen ist die Bestimmung, daß man an den vier Ecken des Ackers für die Armen etwas stehen lassen soll; aber der Grundgedanke ist geblieben: der Grundsatz der Barmherzigkeit; dieser steht fest, die Formen sind dahingefallen.Den Strafbestimmungen des bürgerlichen Gesetzes liegt zu Grunde der Grundsatz des schon genannten jus talionis. Dieser Grundsatz ist die Grundlage des Kriminalrechtes. Die Anwendungen aber im einzelnen Falle sind hinfällig, z. B.: daß der ungeratene Sohn gesteinigt werden soll.
Die Heiratsgebote und Verbote, die man sonst, wenn man auch alle übrigen für abgeschafft erklärte, herüberzunehmen pflegte, sind auch nicht unvermittelt herüberzunehmen. Die Heiratsgebote beziehen sich ja zum Teil aus den Besitz des heiligen Landes, z. B. die Leviratsehe. So gehören auch diese Heiratsgebote zum bürgerlichen Gesetz; sie gelten, soweit sie kenntlich nur temporäre Verhältnisse regelten, uns nicht mehr. Doch bleibt der Grundsatz, daß in nahen Verwandtschaftsgraden nicht geheiratet werden darf. Desgleichen ist, was als ein von den Kanaanitern getriebener Greuel, um dessentwillen sie vertrieben werden, bezeichnet wird, allgemein verboten, 3. Mos. 18, 24–30; c. 20, 22.
So sind also die den einzelnen Bestimmungen zu Grunde liegenden Gedanken und Anschauungen, soweit sie allgemein anwendbar sind, maßgebend für alle Zeiten, und es steht diese Gesetzgebung da als ein hohes Ideal für alle Zeiten und ihre einzelnen Bestimmungen zeigen, wie der göttliche Geist alle menschlichen und irdischen Beziehungen durchdringt. Selbst die theokratische Verfassung, welche das Ideal eines Staatslebens ist, aber nur für das Volk Israel paßt, ist im gewissen Sinn maßgebend geworden für das Staatsleben vieler christlicher Völker und darf es sein, wenn sie als freie Nachahmung und Nachbildung gefaßt wird, nicht als von Gott geboten. Darill hat die alte Kirche und auch die lutherische Dogmatik und Ethik gefehlt (cf. Bauers Bemerkung zu Hunnius § 267). Die Durchführung dieser Gesetze von den eigentlich dazu Berufenen ist durch Zerstörung des israelitischen Staatswesens unmöglich gemacht infolge eines göttlichen Gerichtes.
Noch ist zu bemerken, daß eine außerordentlich große Strenge, die fast als übertriebene Härte erscheint, bei den alttestamentlichen| Strafbestimmungen stattfindet. Grobe Vergehen gegen das Sittengesetz sind durch die alttestamentliche Sühnanstalt nicht zu tilgen, sofern bewußt geschehn, Num. 15, 29–31. Der Schuldige soll ausgerottet werden aus seinem Volk. Vgl. z. B. Leviticus 24, 16 (die Steinigung des Fluchers); Jos. 7, 25 (Achan gesteinigt und verbrannt); Deut. 13, 10 (die Steinigung der falschen Lehrer und Propheten); Levit. 20, 2 (Steinigung derer, die ihre Kinder dem Moloch opfern); v. 27 (der Wahrsager und Zeichendeuter); Levit. 24, 14 v. 16 (der Flucher und Lästerer); Num. 15, 35. 36 (der Sabbathschänder); Deut. 21, 18–21 (der ungehorsamen Söhne); Deut. 22. 21 (der Dirnen, die bei der Ehe nicht als Jungfrauen erfunden sind); Lev. 20, 10 (der Ehebrecher). – Über den Ausdruck „ausrotten“ vgl. Lev. 20, 18; Exod. 31, 14; Levit. 20, 17; 18, 29. Israel ist ein heiliges Volk, Lev. 26, 12, darum sollen nicht Greuel bei ihm vorkommen, wie bei den Heiden; es ist aber auch ein halsstarrig Volk, Exod. 32, 9, darum muß, um sie zu erziehen, die Strenge des Gesetzes hervortreten, und die Furcht waltet vor. Ganz anders ist der Geist des Neuen Testaments, Luk. 9, 55. Andrerseits findet sich wieder, auch aus pädagogischen Gründen, ein Nachlaß der strengen sittlichen Forderungen. Es sind mehrere Weiber zugelassen, wie sich das nicht allein bei den Patriarchen, sondern selbst im Gesetz Mosis als nicht unzulässig findet, Deut. 21, 15. Ebenso ist die Scheidung von einem Weibe nur an ein gewisses formelles Verfahren, an einen Scheidebrief, gebunden. Das beseitigt JEsus im Neuen Testament und stellt die volle Strenge der sittlichen Idee wieder her, Matth. 19, 8.Soviel zur Charakterisierung des mosaischen Gesetzes, um seine Bedeutung in der Ethik möglichst allseitig würdigen zu können.
Der Gewinn, den die Offenbarung des Gesetzes bringt, geht zunächst auf die Erkenntnis und das Wissen um göttliche Dinge. Durch das geoffenbarte Gesetz wird es vor allem klar, daß es eine höhere Autorität sei, ein persönlicher Gotteswille, der fordernd an uns heran tritt, 5. Mos. 4, 2; Ps. 147, 19–20, während das Gewissen das nur ahnend erschließt. Ferner tritt im geoffenbarten Gesetz Gottes Wille formuliert und in bestimmten Sätzen, Geboten und Verboten, ausgesprochen, nach allen Seiten hin die Lebensverhältnisse regelnd, uns entgegen, also vollkommen klar und deutlich und unwandelbar, während das Gewissen weder allseitig, noch deutlich, noch sicher seine Verpflichtungen erkennen kann. Die Offenbarung des Gesetzes ist im innersten Grund eins mit der natürlichen Offenbarung im Gewissen; es gibt eine der andern Zeugnis von dem gleichen göttlichen Ursprung; aber die Erkenntnis, die aus dem Gewissen kommt, ist eine Dämmerung gegen das helle Licht, welches durch das geoffenbarte Gesetz uns scheint und das Gewissen erleuchtet. Der Hauptgewinn liegt also in der besseren Erkenntnis, welche nach Umfang und Tiefe, wie nach dem Grade der Gewißheit nicht zu vergleichen ist mit der Erkenntnis, die das Gewissen gibt. Man muß beachten, daß das alttestamentliche Gesetz wesentlich eins ist mit dem, was im Neuen Testament als Gesetzesbestimmung erscheint, wiewohl Christus die ideale Seite des alttestamentlichen Gesetzes erst recht ans Licht gestellt hat, namentlich das Gebot der Liebe zu Gott und dem Nächsten, worin das Gesetz sich summiert und gipfelt. Deut. c. 6, 4–5; 11, 1; Lev. 19, 18; Matth. 22, 35–40. Wenn also das Gesetz nach seiner Tiefe und nach seinem Umfang gefaßt wird, so tritt der Mensch auf die Höhe der Erkenntnis und erkennt im Spiegel des Gesetzes das, was er sein soll: seine gottebenbildliche Gestalt.
Für die sittliche Erkenntnis läßt sich also aus dem Gesetz ein großer Gewinn holen. Ganz anders steht es, wenn auf den Menschen nichts anderes wirkt, als das Licht des Gesetzes, mit der Erfüllung des Gesetzes; dazu gibt das Gesetz keine Kraft, die muß anderwoher kommen, Gal. 3, 21. Zwar kann der Mensch mit natürlichen Kräften einigermaßen das Gesetz erfüllen (Conf. Aug. XVIII) namentlich einzelne Gebote, Röm. 2, 14; ja er kann es durch Übung zur Fertigkeit in einzelnen Seiten der Pflichterfüllung bringen, in einem gewissen Sinn sogar alle Gebote erfüllen wie der reiche Jüngling, Matth. 19, 18–20. Er kann eine gewisse Untadeligkeit erlangen, Phil. 3, 6. Es gibt also eine justitia civilis und sie hat vortreffliche Erscheinungen hervorgebracht, man kann in Melanchthons Lob einstimmen, der sie „schön findet wie den Morgenstern“. Aber das gilt alles nur von der Peripherie des Gesetzes und ist eine Gleichförmigkeit der äußeren Handlungen (teilweise auch selbst der Gesinnung) mit dem Gesetz. Aber die höchste Anforderung des Gesetzes, der Geist desselben, die Seele desselben: die Liebe zu Gott und Menschen, muß dabei außer Ansatz bleiben. Dahin reicht die menschliche Kraft nicht. Und weil das göttliche Gesetz ein Ganzes ist, so ist eine teilweise Erfüllung keine, und eine unvollkommene auch keine, Jak. 2, 10. 11; Röm. 2, 13; Gal. 3, 10; Deut. 27, 26. Der Gehorsam, die Gerechtigkeit, die Tugend, die dem natürlichen Menschen erreichbar ist, muß als eine gesetzliche bezeichnet werden, und die Werke, die er thut, bezeichnet die Schrift als Werke des Gesetzes Röm. 3, 20, weil er sie nur äußerlich thut, gezwungen und gedrungen, ausgepreßt vom Gesetz, aus Furcht vor Strafe oder um des Lohnes willen, während die innerste Herzensneigung dem Guten und Gott abgeneigt und feind ist; daher die Ohnmacht und Kraftlosigkeit zum Guten, ja die Unmöglichkeit etwas wahrhaft Gutes und Gottwohlgefälliges zu thun, Röm. 8, 3. 7; cf. die Reformationslieder: „Nun freut euch lieben Christen gemein etc.“ oder: „Es ist das Heil uns kommen her etc.“ Diese Ohnmacht kann das Gesetz nicht heben, es kann nicht lebendig machen, nicht den Geist geben, Gal. 3, 21. Darum heißt das Gesetz in der Schrift ein Buchstabe (eine dem Menschen äußerlich gegenüberstehende Forderung bei innerlicher Entfremdung), 2. Kor. 3, 6. 9.
Die falsche Wirkung des Gesetzes ist die Gesetzlichkeit des fleischlichen Judentums, der Pharisäismus. Die rechte Wirkung ist Erkenntnis der Sünden, Buße.
Die Wirkung des Gesetzes ist, wo es falsch, d. h. in fleischlicher Weise bloß äußerlich und oberflächlich nach dem Buchstaben, nicht nach dem Geist, nicht in seiner Höhe und Tiefe, verstanden wird, eine falsche, nicht von Gott beabsichtigte, ja sie ist ein Bollwerk wider Gott. Gegen eine solche fleischliche Auffassung des Gesetzes eifert der HErr, Matth. 5, 20 ff. Solche wirkt die Einbildung einer vorhandenen eigenen Gerechtigkeit, wie sich das zeigt in vollem Maß in der bei den Juden ausgebildeten falschen Gesetzlichkeit, dem Pharisäismus. Dieser Richtung kann richtige Erkenntnis des Gesetzes (Mark. 12, 32. 33), Festhalten an Gottes Wort (Joh. 5, 39), Eifer in guten Werken (Röm. 10, 2) nicht abgesprochen werden, und doch bezeichnet der HErr die Pharisäer als Heuchler, Matth. 23, 13, Blinde und Thoren, v. 19, weil sie gewissenhaft im Unbedeutenden, gewissenlos im Großen (Matth. 23, 23. 24) nur von außen scheinen (v. 25), innen aber umgekehrt voller Unreinigkeit (v. 27), voller Hochmut und Eitelkeit seien (v. 5 ff.), voll Selbstruhms (Luk. 18, 12), also solche, die sich und andere hinderten, ins Reich Gottes zu kommen trotz allem Bekehrungseifer, Matth. 23, 15, indem sie den Weg Gottes verkehren und statt Gottes Gerechtigkeit ihre eigene Gerechtigkeit aufrichten (Röm. 10, 3). Ja, er bezeichnet sie als die ärgsten Feinde seiner Person und seiner Lehre, Matth. 23, 29 ff., wie denn diese Gesinnung der hauptsächlichste Grund der Feindschaft war, in der sie ihn ans Kreuz brachten.
- Anm. Ehrliche Pharisäer? Gab es solche? cf. 2. Tim. 1, 3. Man kann auch von ehrlichen Mönchen reden, obwohl die Richtung eine verkehrte und zu Luthers Zeit das Mönchtum entartet war. Doch ist es schon Heuchelei, wenn einer an der Behauptung von der Herrlichkeit an einer Sache festhält, während er sie doch als anders beschaffen erkannt hat. Es kann dies aber geschehen, indem einer dabei unter einem Zwang steht: er kennt das Bessere noch nicht: so befindet er sich in einer unglücklichen Lage; aber er kann auch aus dem Schein einen Vorteil für sich ziehen wollen; das ist dann die eigentliche Heuchelei, die das Mißverhältnis zwischen Sein und Schein nicht bedauert.
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