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ist die Gottesebenbildlichkeit des Menschen. Daß dies die zusammenfassende Absicht des Gesetzes ist, können wir beweisen aus Lev. 19, 2; 11, 45: „Ihr sollt heilig sein; denn ich bin heilig, der HErr, euer Gott“; cf. Matth. 5, 48.

 Das Gesetz zeigt dem Menschen, wie er von Gottes wegen sein soll. Es stellt also die Gottesebenbildlichkeit als ein außerhalb des Menschen liegendes, von ihm zu verwirklichendes, aber freilich von ihm nie verwirklichtes Ideal dar. Die zwischen dem Urzustande, dem status integritatis, und der Gesetzgebung liegende Thatsache des Sündenfalles bringt es mit sich, daß das Gesetz nur als ein außerhalb des Menschen liegendes Ideal erscheint, mit welchem sich die wirkliche Beschaffenheit des Menschenwesens nicht mehr deckt, welches vielmehr dazu bestimmt ist, die Abweichung des Menschen von dem ursprünglichen guten Zustand demselben zum Bewußtsein zu bringen. Dies ist die Bedeutung des Gesetzes in der Geschichte der sittlichen Entwicklung der Menschheit und jedes einzelnen Menschen. (Nicht als Heilmittel für das sittliche Verderben der Menschheit, was zu sein es gar nicht im Stande wäre, erscheint das Gesetz, sondern lediglich als ein Erziehungsmittel der Menschheit, als ein Zuchtmeister auf Christum, cf. Gal. 3, 15–24; Form. conc. VI.)

 Zunächst ist das Gesetz dem Volk Israel gegeben, und es entsteht die Frage, die nicht so leicht zu beantworten ist: Inwiefern gilt das Gesetz für die ganze Menschheit?

 Die Einleitung zu den zehn Geboten scheint die Gesetzgebung ganz und gar auf das Volk Israel zu beschränken; denn es heißt: „Ich bin der HErr dein Gott, der dich aus Egyptenland, aus dem Diensthaus, geführt hat.“ Ex. 20; aber es gilt doch für die ganze Menschheit. Das kann man beweisen:

 1. aus der einzigartigen Stellung des Volkes Israel. Das Volk Israel war das auserwählte Volk, der Träger der Gottesoffenbarung, dem sich Gott geoffenbart hat und durch welches die Offenbarung hinübergeleitet werden sollte auf die ganze Menschheit. Wie die neutestamentliche Offenbarung Jesu Christi nicht nur Israel galt, sondern der ganzen Menschheit, so auch die alttestamentliche (doch diese mehr in den allgemeinen Grundgedanken, wie sie hernach durch das Medium des Christentums den Völkern übermittelt worden sind, als in der Ausprägung derselben im Einzelnen). Das Volk Israel ist nur der Träger dieser Gottesoffenbarung. Röm. 3, 2.