Christliche Ethik auf lutherischer Grundlage/Das göttliche Ebenbild verwirklicht in der Person Jesu Christi

« Das Gesetz als das vom Menschen zu verwirklichende Ebenbild Gottes Friedrich Bauer
Christliche Ethik auf lutherischer Grundlage
Die Wiedergeburt als die Hineinbildung des göttlichen Ebenbildes in den Menschen »
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V.
Das göttliche Ebenbild verwirklicht in der Person Jesu Christi.


§ 36.
Verwirklichung des göttlichen Ebenbildes und Voraussetzung derselben.
 Was dem Gesetz unmöglich war, nämlich das Ebenbild Gottes im Menschen wiederherzustellen, die gottgewollte Idee des Menschen zu verwirklichen, das that Gott, indem er seinen Sohn sandte und ihn menschliche Natur annehmen ließ. So ist in der Person Christi das| göttliche Ebenbild wiederhergestellt worden. Er, der nach Hebr. 1, 3 in absolutem Sinn der Abglanz der göttlichen Herrlichkeit und das Ebenbild des Vaters ist, bildet nun auch das göttliche Ebenbild der Menschheit ein, zunächst eben der von ihm angenommenen Menschheit. Er wird deshalb als der bezeichnet, in welchem die göttliche Idee der Menschheit, deren Verwirklichung in dem ersten Adam durch den Fall vereitelt wurde, wiederhergestellt ist, als der zweite Adam, als der Idealmensch, der Menschensohn, so z. B. Röm. 5, 14, wo der erste Adam genannt wird der τύπος τοῦ μέλλοντος, das Vorbild auf den zukünftigen zweiten Adam, 1. Kor. 15, 45. Wie Christus von Ewigkeit her das wesentliche Abbild des Vaters ist, so ist er auch in seiner angenommenen Menschheit das vollkommene Ebenbild des Vaters.

 Die Voraussetzung für die Wiederherstellung des göttlichen Ebenbildes in der Menschheit durch Christum ist:

  1. selbstverständlich die Menschwerdung; denn ethische Bedeutung kann das Leben Jesu nur haben, wenn er unsresgleichen geworden ist, sodann
  2. die vollkommene Gleichheit seiner menschlichen Natur mit der unsrigen, abgesehen von der Sünde,
  3. die Entäußerung, die äußerste Selbstbeschränkung der Gottheit, welche nötig war, um eine ethische, menschliche Entwicklung zu ermöglichen.

 1. Wenn das göttliche Ebenbild in Christo zunächst wieder hergestellt werden sollte, so mußte er Mensch werden, denn nur so ist ja gleichsam der Stoff vorhanden, in welchen das göttliche Ebenbild geprägt werden soll. Als Gott ist er ja freilich das Ebenbild Gottes, aber das wesentliche; soll er aber das göttliche Ebenbild im Menschen darstellen, so muß er menschliche Natur annehmen, und zwar eine der unsrigen gleichartige Natur, weswegen es nötig war, daß er auf dieselbe Weise Fleisches und Blutes teilhaftig wurde, wie die Kinder, nämlich durch die Geburt; denn nur so war es möglich, daß er eingefügt wurde in den Organismus der Menschheit (Hebr. 2, 14). Wäre er geschaffen durch unmittelbare Schöpferthat Gottes, so wäre er nicht unser Fleisch und Blut.

 2. Er hat einen uns wesensgleichen Leib und eine der unsrigen wesensgleiche Seele angenommen. Es werden ihm auch die geistigen Kräfte der Seele zugeschrieben, auch ein menschlicher Wille und alles, was zum geistigen Wesensbestand des Menschen gehört. Wir sehen| wirklich, daß der menschliche Wille sich in ihm bethätigt; man sieht, wie er z. B. in Gethsemane in Spannung tritt mit dem göttlichen Willen, aber es ordnet sich der menschliche dem göttlichen Willen unter und folgt ihm in allen Stücken. Nur insofern ist seine menschliche Natur von der unsern verschieden, als sie nicht mit der Erbsünde befleckt ist. Seine Empfängnis ist eine heilige und unbefleckte, daher der Engel sagt: „Das Heilige, das von dir geboren wird etc.“ Seine Zeugung ist anders als die auf dem Weg der Natur. Wenn auch vom Weibe geboren, so ist er doch nicht durch den Willen eines Mannes, sondern durch den heiligen Geist in dieses leibliche Dasein getreten, durch eine schöpferische Wirkung des heiligen Geistes, aber geboren von einer Jungfrau, also doch ein Glied in der Kette der Menschheit, aber ein reiner und tadelloser Mensch.

 3. Weil er aber nun zugleich Gott war, so ist eine menschliche Entwicklung nicht denkbar, ohne daß die Gottheit zurücktritt, daß die Gottheit sich auf das äußerste beschränkt, d. h. daß er sich des Gebrauchs der göttlichen Eigenschaften entäußert, außer in einzelnen Fällen, wo er sich von seinem Vater berechtigt und bevollmächtigt wußte, seine göttliche Macht leuchten zu lassen und zu gebrauchen. Es würde keine intellektuelle Entwicklung möglich gewesen sein, wenn die Gottheit nicht zurückgetreten wäre; denn wenn er vermöge Wirkung seiner Gottheit auch als Mensch schon alles wußte, wie hätte er zunehmen können an Weisheit? Ebensowenig wäre eine ethische Entwicklung möglich gewesen, wenn die Gottheit für dieselbe nicht durch Zurücktreten Raum geschafft hätte; denn Gott ist der Heilige, der nicht sündigen kann, für den es keinen Kampf, keine Mühe und kein Streben nach Vollkommenheit gibt, weil die Vollkommenheit seine Natur ist, weil sie ihm als ewiger Besitz eignet. Namentlich wo es gilt, ethische Aufgaben zu leisten, sehen wir die Gottheit hinter der Menschheit zurücktreten. Da steht die menschliche Natur im Vordergrund (Versuchung und Gethsemane). Die größte sittliche Leistung ist der Ausspruch: „Nicht mein, sondern dein Wille geschehe.“ Diese willige Übernahme des Leidens ist Sache der menschlichen Natur, wobei die göttliche Natur freilich nicht ausgeschlossen ist, sie gibt dem Thun des HErrn den unendlichen Wert.


§ 37.
Das göttliche Ebenbild in Christo als sittliche Errungenschaft.
 Das Ebenbild Gottes erscheint in Christo Jesu nicht bloß wie bei Adam als schöpferisch gesetzte sittliche Anlage; sondern auch| zugleich als erreichtes Ziel, als Errungenschaft, als Resultat seines sittlichen Handelns und Strebens. So hätte es auch bei Adam sein sollen. Was in ihm gelegt war von Gottes wegen, das sollte er bewähren durch freie That, das sollte nicht blos Inhalt seines Willens, sondern auch Errungenschaft seines Handelns werden. Ebenso ist es auch bei Christo. Zu diesem Zweck muß der zweite Adam wie der erste in Versuchung eingehen. Ebr. 4, 15 heißt es: „Er ist versuchet allenthalben gleich wie wir, doch ohne Sünde.“ Der Satan hat ihn versucht und zwar heben sich zwei Versuchungen heraus: die in der Wüste und die in Gethsemane, sowie überhaupt in seinem ganzen Leiden. In der ersten Versuchung namentlich erscheint der HErr ganz als der zweite Adam, der in ähnliche Lage versetzt, gut machen sollte durch seinen heiligen Gehorsam und Sieg über die Versuchung, was der erste Adam durch seinen Ungehorsam und sein Unterliegen in der Versuchung verbrochen hat. Lust, Genuß, Ehre (1. Joh. 2, 16), das waren dort die Lockmittel des Satans, durch welche er ihn von dem Weg seines Erlöserberufs abbringen wollte; in Gethsemane war die Furcht vor dem Leiden und die Empfindung des Leidens selbst das Schreckmittel, durch welches er gleichfalls zum Ungehorsam gegen den Willen und den Ratschluß seines Vaters verführt werden sollte. Es sind ja das die zwei Haupterscheinungen und Gestalten der Versuchung. Die Versuchung ist entweder eine Lockung oder eine Abschreckung; entweder durch die Erregung der Lust nach einem verbotenen Genuß oder die Furcht vor dem Leiden, welches man auf dem Wege des Gehorsams der göttlichen Gebote erdulden muß, sucht der Teufel zur Sünde zu verführen. Luk. 4, 13; Joh. 14, 30. Der HErr aber hat die Versuchung in ihren beiden Formen, in welchen sie an einen Menschen heranzutreten pflegt, siegreich bestanden und sich dadurch als der Heilige bewährt.

 Ebenso wie der Teufel versucht ihn auch die Welt. Jener Spott z. B., der wie ein Hagel von Pfeilen um den Gekreuzigten herschwirrte und ihn zur Zielscheibe nahm, war ja doch auch nichts anderes, als eine Versuchung zur Ungeduld, zu eigenmächtiger Selbsthilfe, also auch zum Ungehorsam, ferner auch eine Versuchung zum Zorn und zur Rachsucht. Jes. 53; Psalm 22; 1. Petri 2, 21 etc.

 Er war für die Versuchung zugänglich, doch blieb er ohne Sünde, d. h. die Versuchung fand keinen Anknüpfungspunkt in ihm, – das ist der Unterschied zwischen ihm und uns. Das Herz des| Menschen ist wie eine Burg, die vom Feinde bedrängt wird, in der selbst ein Verräter sich befindet, der mit dem Feinde im Einverständnis ist. Aber bei ihm hat die Sünde auf keinem Punkte seines Wesens eine Anknüpfung gefunden. Dennoch ist die Versuchung für ihn eine Realität, nicht ein bloßes Schattenspiel, wie diejenigen es ansehen müssen, welche nicht Ernst machen mit der Betonung der wirklichen Menschheit Jesu. Sie ist ein wirklicher Kampf mit dem Fürsten dieser Welt. So stellt der Herr selber sie dar. Es kostet, wie wir das namentlich bei der Versuchung in Gethsemane sehen, einen Kampf, eine Anstrengung des Herrn. In diesem Kampf hält er aber Glauben und so besiegt er Satan und Welt. Diejenige Versuchung aber, die wir außerdem noch zu erdulden haben, nämlich von dem eigenen Fleisch – diese gab es für ihn nicht. So ist seine Heiligkeit sittliche Leistung (Verdienst) geworden, und so ist er unser Vorbild.

 Er ist nun aber unser Vorbild nach all den verschiedenen Beziehungen hin, in welchen sich das christliche Leben bethätigen kann und soll, in seinem Verhältnis zu Gott, in welchem sein Leben, ein Leben der Liebe, des Gehorsams und des Gebets war. Er ist auch Muster und Vorbild des rechten Verhaltens gegen den Nächsten und zu den sittlichen Ordnungen, in welchen nach Gottes Willen das Gemeinschaftsleben der Menschheit verfaßt ist, in seinem Verhältnis zur religiösen Gemeinschaft seines Volks, in seinem Verhältnis zur Familie, zur bürgerlichen Gemeinschaft und Obrigkeit, zur Menschheit als solcher, zur Welt überhaupt. Er ist einzigartig. So prägt sich auch das göttliche Ebenbild bei ihm nicht blos in origineller, sondern in einzigartiger Weise aus. Darum ist er nicht durchweg nachzuahmen, aber andererseits ist er wieder umsomehr Vorbild der Nachfolge in Demut, Geduld, Leiden, ja hierauf bezieht sich meist die Ermahnung der heiligen Schrift zur Nachfolge Jesu.


Schriftstellen von der Nachfolge Jesu.

Galat. 4, 19: „Meine lieben Kinder, die ich abermal mit Ängsten gebäre, bis daß Christus in euch Gestalt gewinne.“ Das Christenleben soll sich so entwickeln, daß der Christ immer mehr dem Bilde Jesu ähnlich werde.

Phil. 2, 5: Ein „jeglicher sei gesinnt wie Christus Jesus auch war.“ Nachfolge in der selbstverleugnenden Liebe, in der Demut und im Gehorsam; den Menschen gegenüber dienende Liebe, Gott gegenüber Gehorsam, Hebr. 12, 3.

Joh. 13, 15: „Ein Beispiel (ὑπόδειγμα) habe ich euch gegeben etc.“ Nachfolge in der dienenden Liebe. Hieher gehört Joh. 12, 26: „Wer mir dienen will etc.“; denn das διακονεῖν ist auch eine Nachfolge Jesu; cf. Matth. 20, 28: „Des| Menschen Sohn ist gekommen, daß er diene und gebe sein Leben zur Erlösung für viele.“

1. Petri 2, 21: „Christus hat uns ein Vorbild gelassen“ (ὑπογραμμός) Vorbild in der Geduld im Leiden; cf. Matth. 16, 24: „Wer mir nachfolgen will, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich und folge mir.“

 Sein Leben ist ein Leben der Liebe, des Liebesgehorsams gegen seinen himmlischen Vater, Joh. 8, 49. 55; 14, 31; 5, 30. 19. Er thut nichts von sich selber, er geht sozusagen ganz am Gängelbande seines Vaters, nur die Werke, die ihm sein Vater zeigt, thut er, sein Thun ist auf Schritt und Tritt reguliert von dem ihm allezeit bewußten Willen seines Vaters. Joh. 6, 38; 4, 34; den Beweis der Liebe gegen seinen himmlischen Vater erbringt er der Welt durch Erfüllung seines Gebotes, Joh. 14, 31, und was ihn bereitwillig sein Leiden auf sich nehmen läßt, ist der Gedanke, daß es der vom Vater ihm dargereichte Kelch sei, Joh. 18, 11. Die unmittelbarste Äußerung und Bethätigung dieses Liebesverhältnisses ist der immerwährende Gebetsumgang mit seinem Vater; denn das Gebet ist ja die Unterhaltung des geistlichen Verkehrs mit Gott, die Versenkung und Vertiefung in seine Gemeinschaft zugleich das Mittel zu erneuter Sammlung, zu geistlicher Konzentration. Es ist namentlich der Evangelist Lukas, der uns Blicke in das Gebetsleben des HErrn thun läßt, der uns die für Jesum bedeutsamen Ereignisse seines Lebens als Gebetserhörungen, thatsächliche Antworten seines himmlischen Vaters erscheinen läßt. Desgleichen kommt in Betracht der Evangelist Johannes.

 Als Jesus getauft war, da betete er (3, 21) und da that sich der Himmel auf und es kam der Geist Gottes in Taubengestalt auf ihn herab. Es ist da recht deutlich der Gedanke vor Augen gestellt, daß das Gebet den Himmel öffnet, die Schleusen der Gnade Gottes und der Segnungen des Himmels aufthut. Der Wahl seiner Jünger (6, 12) geht ein ernstes Gebet des HErrn voraus. Er zog sich damals von seinen Jüngern zurück, er brachte eine ganze Nacht im Gebete zu und am Morgen darauf traf er dann die Wahl der Zwölfe. Bei der Verklärung wird von Lukas gleichfalls erwähnt, daß jene überirdische Klarheit sich über ihn ergossen habe, während er betete. Am Grabe des Lazarus sagte er: „Vater, ich danke dir, daß du mich erhöret hast; doch ich weiß, daß du mich allzeit hörest etc.“ Also auf Grund eines Gebetes ist ihm die Möglichkeit zu diesem höchsten Beweis seiner Herrlichkeit gegeben worden; dafür dankte er, sprach dann das| Befehlswort: „Lazare, komm heraus!“ und bewirkte so das Wunder. Der Evangelist Johannes hat uns auch ein Beispiel aufbewahrt, wie er betete, in dem hohepriesterlichen Gebete c. 17; das Gegenstück dazu ist das Gebetsringen in Gethsemane bei den Synoptikern; hier betet er in vollkommener Ergebung und Erniedrigung, dort in majestätischer Erhebung. Betend endlich kämpft er seinen Leidenskampf am Kreuz hindurch zum Sieg. Dies alles deutet auf einen fortgesetzten, unsere Begriffe weit übersteigenden Gebetsumgang mit Gott. Dieser innere Gebetsverkehr mit Gott, seinem Vater, ist derart, daß er in jedem Moment in ein lautes Gebet übergehen kann. Joh. 12, 27. 28. Das ist eben das Zeichen wahrhaft geistlichen Lebens. In dem Maß ist der Christ ein geistlicher Mensch, als jeder Moment seines Lebens zu einem Gebetsmoment gestaltet werden kann, je unmerklicher und leichter und leiser sich der Übergang jener betenden Stimmung, jenes Andenkens an Gott zu einem ausgesprochenen Gebet vollzieht. Ein Leben der Liebe, des Liebesgehorsames, des Gebets also ist sein Leben im Verhältnis zu seinem himmlischen Vater.

 Ebenso ist sein Leben ein Leben der Liebe gegen den Nächsten, gegen die Brüder; und zwar ist sein Leben ein Liebesleben einzig in seiner Art, so daß, wie der Apostel Johannes sagt, an ihm erst das Wesen der Liebe erkannt worden ist. 1. Joh. 3, 16; 4, 10. 19. Seine Liebe geht bis zur Selbstaufopferung im martervollsten Tode. Dieser ist der Gipfel und die höchste Erweisung seiner Liebe. Die Liebe, die barmherzige, zarte Mitempfindung regiert sein Herz, aus ihr fließen seine Werke der Barmherzigkeit. Matth. 9, 36; Mark. 8, 2; Matth. 11, 28; Luk. 7, 13; Joh. 11, 33–35; Joh. 13, 34. Er wird von dem Gefühl ergriffen bis zur Erschütterung. Er wird bis zu Thränen gerührt. Luk. 19, 41. Den Sündern, wenn sie Spuren von Reue zeigen, ist er mild und hold, Luk. 7, 37; 15, 1; 19, 2; wiewohl er auch versteht, die Geißel des strafenden Wortes zu schwingen, besonders in den Strafreden wider die Pharisäer. Matth. 23.

 Er erweist sich aber nicht bloß in dem allgemeinen Verhältnis des Menschen zum Menschen, sondern auch in den göttlichen Ordnungen des Lebens als Vorbild und heiliges Muster. Was zunächst sein Verhältnis zu der religiösen Gemeinschaft seines Volkes anbelangt, so sehen wir, wie er allen von Gott gegebenen Ordnungen sich willig fügt. Er ist ein regelmäßiger Besucher der Synagoge, Luk. 4, 16: „nach seiner Gewohnheit“. Er ist ein regelmäßiger Teilnehmer| an den großen Festen seines Volks, an den Wallfahrten nach Jerusalem, so daß, wenn er einmal nicht erscheint, seine Abwesenheit als ein Ereignis bemerkt und besprochen wird. Joh. 7, 11 ff. Er beobachtet den Sabbath. Er hält mit Schonung, mit Pietät diese bereits veralteten und überlebten Formen, diese alten Schläuche, die der neue Most des Christentums sprengen sollte, noch fest, wiewohl er ja weiß, daß mit ihm ein Neues kommt. Er sendet die Aussätzigen zu den Priestern, und erkennt damit die Stellung und göttliche Prärogative derselben an. Er feiert noch am letzten Tage seines irdischen Lebens mit seinen Jüngern das Passah. In diesem Anschluß an die religiöse Gemeinschaft ist er uns ein Vorbild unseres kirchlichen Verhaltens; ebenso aber auch in dem, was er thut, um die religiöse Gemeinschaft aus ihrem Verfall zu erheben, reformatorisch in ihrer Mitte aufzutreten (Tempelreinigung). – Es kann übrigens die ganze öffentliche Thätigkeit des HErrn auch vom Standpunkt des Patrioten betrachtet werden: sein Verhalten ist das eines wahren Vaterlandsfreundes und Volksgenossen, der das wahre Wohl seines Volkes in der vollkommensten Weise sucht. Matth. 23, 37–39; Joh. 11, 51 und 52; Luk. 19, 41. Er vergaß aber über dem eigenen Volk die andern Völker nicht. Joh. 12, 32.

 Was sein Verhältnis zu der ersten natürlichen Gottesordnung der Familie anbelangt, so erscheint er zunächst in dem Verhältnis des Kindes zu den Eltern. Die Haupttugend, die in diesem Verhältnis erzeigt werden kann, die Tugend des Gehorsams, wird von ihm ausdrücklich gerühmt. „Er ging mit seinen Eltern hinab nach Nazareth und war ihnen unterthan“ – ein einziges Wort über seine ganze Jugend bis zum dreißigsten Jahr, aber dies eine Wort verklärt die ganze Zeit und gibt uns eine Ahnung und Vorstellung von der Heiligkeit seiner Jugend, Luk. 2, 51. Er ist ein liebender Sohn seiner Mutter, er vergißt und verläßt sie auch im Sterben nicht, er sorgt für sie, indem er sie seinem Jünger Johannes empfiehlt, Joh. 19, 27.

 Wir sehen ihn auch bei verschiedenen Gelegenheiten in einer Art geschwisterlichem Verhältnis. Es werden ja Brüder des Herrn genannt, und wenn es auch wahrscheinlich ist, daß dies nur Vettern (?) sind, so leben sie doch mit ihm und seiner Mutter näher zusammen und geben ihm gar manches zu tragen, durch Ansprüche, die sie an ihn machen, durch die thörichten irdischen Messiaserwartungen, die sie gern durch ihn verwirklicht sehen möchten. Aber er verhält sich auch ihnen| gegenüber untadelig. Joh. 7, 3 ff. Die Blutsverwandtschaft ist aber für ihn nicht die höchste noch entscheidende: „Wer ist meine Mutter und wer sind meine Brüder?“ „Wer den Willen thut meines Vaters im Himmel, derselbige ist mein Bruder, Schwester und Mutter.“ Matth. 12, 48 und 50; cf. Luk. 2, 49; Joh. 2, 4. – Die Ehe war nicht für ihn da; er führte ein jungfräuliches Leben. Er heiligt den ehelosen Stand und damit ja freilich auch den ehelichen Stand. Sein Verhältnis zum anderen Geschlecht ist von untadelhafter Zartheit und Reinheit. Für die Ehe konnte er kein Vorbild geben. Er sollte einen Samen nicht aus Fleisch und Blut haben, sondern sollte sich durch geistliche Geburt fortpflanzen. Anderenteils fehlt es auch nicht an vorbildlichen Bedeutungen für das eheliche Leben. Sein Verhältnis zu seiner Kirche, seiner sündigen, aber von ihm erlösten Braut, ist der Urtypus der Stellung, welche der Mann gegenüber dem Weibe einzunehmen hat. So ist er auch für diese Seite des menschlichen Lebens ein Vorbild. Joh. 3, 29; Eph. 5, 23–32; Matth. 9, 15.

 Im Verhältnis zu Kindern ist er nicht gestanden, aber er hat, wenn Kinder zu ihm gebracht wurden, sie mit herzgewinnender Freundlichkeit empfangen, sie auf seine Arme genommen, gesegnet, geherzt und diese Unmündigen für berechtigt und berufen erklärt zur Aufnahme in sein Reich. Damit hat er auch alle geistliche Fürsorge, die von der Taufe an den Kindern gewidmet wird, ins Leben gerufen, Joh. 21, 15.

 Unter seinen Jüngern steht er ganz wie der Hausvater, so daß auch alle Familienverhältnisse durch ihn geheiligt sind; vgl. die Speisung der fünftausend; das letzte Passahmahl.

 Auch das Verhältnis der Freundschaft ist ihm nicht fremd. Mit Johannes verbindet ihn eine besondere Zuneigung, Joh. 13, 23–25; 15, 13–15.

 Der Obrigkeit gegenüber ist er trotz der Hoheit seiner Person und seiner Bestimmung dennoch ein gehorsamer Unterthan; er ist ja ein geistlich Reich aufzurichten gekommen und mischt sich deswegen in weltliche Händel nicht. Er ermahnt nicht nur Matth. 22 zum Gehorsam auch gegen den römischen Zwingherrn, den Kaiser; er ordnet sich thatsächlich der obrigkeitlichen Gewalt unter und erkennt dieselbe in ihrer göttlichen Berechtigung auch da an, wo sie ihre Machtbefugnis mißbraucht. „Du hättest keine Macht über mich, wenn sie dir nicht von oben gegeben wäre,“ Joh. 19, 11, sagt er zu Pilatus; aber er steht ihm Rede und erkennt seine ihm von oben gegebene Macht an.

|  Sein Verhältnis als Mensch zu den Menschen. Hieher gehört sein zartes Mitgefühl, die leichte Erregbarkeit seines Gemütes, das Zartbesaitete seines Wesens, welches wie eine Äolsharfe bei dem leisesten Windhauch erzittert, auch von jedem Gefühl ergriffen wird, ohne sich an ein Gefühl zu verlieren, das Mitgefühl, welches sich im Anblick des menschlichen Elendes steigert bis zur innerlichen Teilnahme am Wohl und Wehe der Menschheit. Er seufzt bei dem Anblick des Taubstummen, Mark. 7, 34. Er weint am Grabe des Lazarus. Er verschmäht auch nicht an den Freuden teilzunehmen, an den Freuden des Mahles und der Geselligkeit, er freut sich mit den Fröhlichen. – Hieher gehört auch sein Berufsleben. Es ist klar, daß der HErr nicht in der Besonderheit seines Berufes Vorbild sein kann. Aber der äußere Beruf gehört ja auch nicht zum innersten ethischen Wesen des Menschen. Es ist nicht so, als ob der sittliche Wert eines Menschen von der Art des Berufes abhinge. Für die wahre Sittlichkeit ist es gleich, in welchem Beruf man dient; es soll jeder zu einem Gottesdienst erhoben werden. Darin nun ist der HErr ein Vorbild. Der HErr lebte ganz seinem Beruf: die Ausrichtung desselben war seine Speise; er ist ihm Wille und Gebot seines himmlischen Vaters, das richtet er aus mit und in seinem Beruf. – Die Schranken seines Berufes hält er ein, Matth. 15, 21. Seine Lebensaufgabe ist eine geistliche, er hat einen Beruf für das Innerste des Menschen, er ist der Seelenarzt. Von diesem seinen Mittelpunkt aus hat der HErr aber doch einen Blick für alle Gestaltungen des Lebens. Vierzig Jahre vorher hat er, wie kein Staatsmann es kann, die Folgen des inneren Verfalls Jerusalems vorausgesehen. Er sieht das Gericht über die Stadt hereinbrechen und die römischen Adler sich sammeln.

 Es war aber dem HErrn nichts wahrhaft Menschliches fremd. Wie keinem Künstler hat sich ihm intuitiv das Reich der Schönheit aufgeschlossen. Was er gesagt und geredet hat, ist von einer Popularität und Klassizität, daß seine Reden in einer Mustersammlung aller Litteraturen zu stehen ein Recht hätten, ganz abgesehen davon, daß sie göttlichen Inhalt haben.

 Er hatte einen wunderbar offenen Sinn für alles Natürliche. Wir brauchen nur an das Wort denken von den Vögeln, die nicht säen noch ernten und in die Scheuern sammeln, an das von den Lilien auf dem Felde, die ohne sich zu mühen dennoch in einem Kleide prangen, vor welchem alle Herrlichkeit Salomos erbleicht, um seinen| offenen, aufgeschlossenen Sinn zu erkennen, wie er in dem Natürlichen einen Spiegel göttlicher Dinge sieht. Kurz, er ist und bleibt das ewige Urbild.


§ 38.
Bedeutung der Erlösung für Wiederherstellung des göttlichen Ebenbilds.

 Was Christus in seiner Person gewesen ist, nämlich das wiederhergestellte Ebenbild Gottes im Menschen, das soll nun auch die Menschheit werden. Die Wiederherstellung des göttlichen Ebenbildes in der Menschheit setzt die Erlösung voraus, die Vergebung der Sünden, das Werk Christi. Dieses Werk bestand darin, daß Christus als der Gottmensch unser Stellvertreter wurde und für uns Genugthuung – satisfactio – leistete. Die Genugthuung leistete er in Form der Sühne – ἱλασμός –, welche eine freiwillig übernommene Leistung von Seite eines Unschuldigen, der sich für andere zum Opfer gibt, ist und deswegen auch zur Wirkung die καταλλαγή hat, die Wiederherstellung des Friedens- und Freundschaftsverhältnisses mit Gott, die Versöhnung. Gott kann sich auch eine Genugthuung nehmen, wenn er den Menschen straft. Aber wenn Gott den Menschen straft, so bleibt er ewig unter seinem Zorn und es kommt zu keiner καταλλαγή. Aus der καταλλαγή fließt die ἀπολύτρωσις im engeren Sinn, die Erlösung von der Macht und Herrschaft der Sünde, die sittliche Wirkung des Erlösungswerks. Das Wort ἀπολύτρωσις ist aber sehr umfassend; es kann auch das ganze Werk Christi einschließen: 1. die Befreiung des Menschen von der Schuld und 2. von der Herrschaft der Sünde. Die Sünde ist für den Menschen auch ein Joch, unter dem er seufzt. Das Joch kann er nicht selber von sich abschütteln, mithin muß er auch erlöst werden von der Macht der Sünde, und die heilige Schrift schreibt der Erlösung die sittliche Wirkung zu: Befreiung von der Macht der Sünde, 1. Petr. 1, 18.

 Diese Seite des Erlösungswerks ist es namentlich, welche in der Ethik in Betracht gezogen werden muß, weil der Mensch dadurch wieder zum sittlich guten Handeln befähigt wird. Die Schrift hebt diese sittlich befreiende Wirkung des Opfers Christi an einigen Stellen sehr entschieden hervor, 1. Petr. 1, 18. Hier wird deutlich gesagt, daß die Erlösung Christi nicht bloß in der Aufhebung der Straffolgen, der Schuld der Sünde besteht, sondern daß sie auch besteht in einer sittlichen Befreiung. Wir sind erlöst von dem eitlen, von unsern Vätern her überlieferten Wandel, von dem bösen Wandeln, das sich| als eine schlechte Tradition und böse Gewohnheit, gleichsam als die konkrete Ausgestaltung der Erbsünde von einem Geschlecht zum andern fortpflanzt, cf. 1. Petr. 2, 24; Röm. 6, 14; Tit. 2, 14; 1. Kor. 1, 30; Gal. 1, 4; αἰών bedeutet in der letztangeführten Stelle nicht die gottfeindliche Menschheit, sondern eine gottfeindliche sittliche Beschaffenheit, eine gottfeindliche Sinnesweise, Denkungsart. Und von dieser Denkungsart sind wir erlöst. Wenn man mit Einem Wort die Frucht der Erlösung nach dieser Seite hin bezeichnen wollte, so könnte man sie bezeichnen als Befreiung oder Freiheit. Die Wirkung seiner hohepriesterlichen Thätigkeit war zunächst die Vergebung der Sünde oder mit Einem Wort die Gnade, dagegen die andere Wirkung, die aus der ersten hervorgeht, ist die Befreiung von der Macht und Herrschaft der Sünde, oder als Thatbestand: die sittliche Freiheit.
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  Nun entsteht freilich die Frage: Inwiefern kann denn das Opfer Christi eine solche sittliche Wirkung für uns haben, wie werden wir dieser Wirkung teilhaftig? Wir werden dieser sittlichen Wirkung teilhaftig, indem wir die Gnade der Vergebung im Glauben annehmen. Von der im Glauben angenommenen Gnade geht eine Veränderung, Erneuerung und Reinigung unseres Herzens aus, vgl. Schmalk. Art. pars III, Art. 13; 1. Art. 3, 40; Apologie XII (V) 35–47. Indem wir im Glauben einen objektiven Thatbestand annehmen und in denselben versetzt werden, erfahren wir zugleich eine subjektive Veränderung. Es ist ein Unterschied zu machen zwischen der sündenvergebenden und der sittlich befreienden Wirkung. Die erste Wirkung geht zurück auf die Versöhnung; diese ist eine objektive, ist in objektiver Wirklichkeit vorhanden, seitdem der göttlichen Gerechtigkeit genug gethan ist und der HErr gesprochen hat: „es ist vollbracht“. Natürlich nützt sie uns nicht, wenn wir sie uns nicht mit dem Glauben aneignen. Aber die Thatsache ist vorhanden. Bei Gott gilt Christi Opfer als eine äquivalente Leistung, als eine vollkommene Zahlung für die Schuld des menschlichen Geschlechts. Dagegen die andere Wirkung geht darauf zurück, daß uns Christus durch sein Opfer erworben hat die Gabe des heiligen Geistes, damit hat er uns die Möglichkeit dieser sittlichen Freiheit erworben und diese wird in uns wirklich, wenn wir erneuert werden durch den heiligen Geist, durch den die sittlich befreiende Wirkung des Opfers Christi uns zu teil wird. Luther sagt: Christus hat uns nicht bloß das meritum erworben, sondern auch das donum, nicht bloß die| Sündenvergebung, sondern auch die Gabe des heiligen Geistes und damit die Möglichkeit eines neuen sittlichen Verhaltens und Kraft zu einem neuen, heiligen Leben. Er ist ebenso uns zur Gerechtigkeit gemacht, wie zur Heiligung, 1. Kor. 1, 30. Die Sendung des heiligen Geistes ist zwar eine That des zu Gott Erhöhten, aber zugleich die Frucht seines Leidens und Sterbens. So stellt es der HErr selber dar in seinen letzten Reden, Joh. 16, 7: „So ich nicht hingehe, so kommt der Tröster nicht zu euch; so ich aber hingehe, will ich ihn zu euch senden.“ Da muß man denn freilich wissen, was der Begriff „Hingang“ für einen umfassenden Sinn im Evangelium Johannis hat. Es ist sein Gang in das Leiden gemeint, sein Gang in den Tod, sein Gang durch den Tod zur Auferstehung, ja als Abschluß auch die Himmelfahrt, sein hohenpriesterlicher Eingang ins obere Heiligtum. Und als Frucht dieses seines Leidens, Sterbens und Eingehens zu Gott wird dort die Sendung des heiligen Geistes bezeichnet, so daß man sagen kann, daß Christus durch sein Leiden und Sterben uns auch den heiligen Geist erworben hat und damit die Freiheit von der Macht der Sünden, die Möglichkeit eines sittlichen Verhaltens, die Kraft zu einem neuen, heiligen, Gott wohlgefälligen Leben; vgl. Joh. 14, 23–30. Es ist damit nicht bloß das Rechtsverhältnis wiederhergestellt, sondern auch das Machtverhältnis. Wir sind nicht bloß bei Gott in Gnaden und haben Gottes Urteil für uns, sondern wir haben auch Macht, der Sünde abzusterben, das Fleisch mit seinen Geschäften zu töten und Gotte zu leben. Es ist dasselbe, wie wenn der Apostel im Römerbrief davon redet, wie es beim Christen dazu kommt, daß er befreit wird von Sünde und Tod, Röm. 8, 2. Eine andere Befreiung von der Sünde, nämlich von ihrer Macht und Herrschaft, gibt es nicht, als daß Gott seinen Geist uns gibt; nur die Einwohnung des Geistes Christi in uns bringt diese Wirkung hervor. Wiederum der heilige Geist wird nicht ohne Mittel gegeben, sondern durch die Gnadenmittel, durch Wort und Sakrament. In diesen wird der Geist, das Verdienst Christi, Christus selber als das Heilsgut mitteilbar, übertragbar. In den Gnadenmitteln verobjektiviert sich das Heilsgut und stellt sich in konkreter Wirklichkeit uns dar. Gott selber als das höchste Gut wird hier in den Gnadenmitteln in konkreter Weise uns vor die Augen gestellt, ja mitgeteilt, Joh. 6: „Das Brot des Lebens“. So wird es möglich, daß wir, wie Petrus sagt, teilhaftig werden göttlicher Natur, 2. Petr. 1, 4. Dadurch erst kommt es zu| einer Wiederherstellung des göttlichen Ebenbildes in der Menschheit. Das ist der Zusammenhang des zweiten und dritten Artikels, des Werkes Jesu und des Werkes des heiligen Geistes. Sonderlich kommt hier in Betracht die Taufe; denn die Hineinprägung des göttlichen Ebenbildes in den einzelnen Christen geschieht durch die Taufe. Da wird die neue Kreatur geschaffen, die nach dem Ebenbilde dessen gemacht ist, der den Menschen am Anfang nach seinem Bilde schuf, dessen Siegel der Mensch trug, dem er ähnlich war an Heiligkeit und Gerechtigkeit, die er aber durch die Sünde verlor.



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