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Befehlswort: „Lazare, komm heraus!“ und bewirkte so das Wunder. Der Evangelist Johannes hat uns auch ein Beispiel aufbewahrt, wie er betete, in dem hohepriesterlichen Gebete c. 17; das Gegenstück dazu ist das Gebetsringen in Gethsemane bei den Synoptikern; hier betet er in vollkommener Ergebung und Erniedrigung, dort in majestätischer Erhebung. Betend endlich kämpft er seinen Leidenskampf am Kreuz hindurch zum Sieg. Dies alles deutet auf einen fortgesetzten, unsere Begriffe weit übersteigenden Gebetsumgang mit Gott. Dieser innere Gebetsverkehr mit Gott, seinem Vater, ist derart, daß er in jedem Moment in ein lautes Gebet übergehen kann. Joh. 12, 27. 28. Das ist eben das Zeichen wahrhaft geistlichen Lebens. In dem Maß ist der Christ ein geistlicher Mensch, als jeder Moment seines Lebens zu einem Gebetsmoment gestaltet werden kann, je unmerklicher und leichter und leiser sich der Übergang jener betenden Stimmung, jenes Andenkens an Gott zu einem ausgesprochenen Gebet vollzieht. Ein Leben der Liebe, des Liebesgehorsames, des Gebets also ist sein Leben im Verhältnis zu seinem himmlischen Vater.

 Ebenso ist sein Leben ein Leben der Liebe gegen den Nächsten, gegen die Brüder; und zwar ist sein Leben ein Liebesleben einzig in seiner Art, so daß, wie der Apostel Johannes sagt, an ihm erst das Wesen der Liebe erkannt worden ist. 1. Joh. 3, 16; 4, 10. 19. Seine Liebe geht bis zur Selbstaufopferung im martervollsten Tode. Dieser ist der Gipfel und die höchste Erweisung seiner Liebe. Die Liebe, die barmherzige, zarte Mitempfindung regiert sein Herz, aus ihr fließen seine Werke der Barmherzigkeit. Matth. 9, 36; Mark. 8, 2; Matth. 11, 28; Luk. 7, 13; Joh. 11, 33–35; Joh. 13, 34. Er wird von dem Gefühl ergriffen bis zur Erschütterung. Er wird bis zu Thränen gerührt. Luk. 19, 41. Den Sündern, wenn sie Spuren von Reue zeigen, ist er mild und hold, Luk. 7, 37; 15, 1; 19, 2; wiewohl er auch versteht, die Geißel des strafenden Wortes zu schwingen, besonders in den Strafreden wider die Pharisäer. Matth. 23.

 Er erweist sich aber nicht bloß in dem allgemeinen Verhältnis des Menschen zum Menschen, sondern auch in den göttlichen Ordnungen des Lebens als Vorbild und heiliges Muster. Was zunächst sein Verhältnis zu der religiösen Gemeinschaft seines Volkes anbelangt, so sehen wir, wie er allen von Gott gegebenen Ordnungen sich willig fügt. Er ist ein regelmäßiger Besucher der Synagoge, Luk. 4, 16: „nach seiner Gewohnheit“. Er ist ein regelmäßiger Teilnehmer