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 Sein Verhältnis als Mensch zu den Menschen. Hieher gehört sein zartes Mitgefühl, die leichte Erregbarkeit seines Gemütes, das Zartbesaitete seines Wesens, welches wie eine Äolsharfe bei dem leisesten Windhauch erzittert, auch von jedem Gefühl ergriffen wird, ohne sich an ein Gefühl zu verlieren, das Mitgefühl, welches sich im Anblick des menschlichen Elendes steigert bis zur innerlichen Teilnahme am Wohl und Wehe der Menschheit. Er seufzt bei dem Anblick des Taubstummen, Mark. 7, 34. Er weint am Grabe des Lazarus. Er verschmäht auch nicht an den Freuden teilzunehmen, an den Freuden des Mahles und der Geselligkeit, er freut sich mit den Fröhlichen. – Hieher gehört auch sein Berufsleben. Es ist klar, daß der HErr nicht in der Besonderheit seines Berufes Vorbild sein kann. Aber der äußere Beruf gehört ja auch nicht zum innersten ethischen Wesen des Menschen. Es ist nicht so, als ob der sittliche Wert eines Menschen von der Art des Berufes abhinge. Für die wahre Sittlichkeit ist es gleich, in welchem Beruf man dient; es soll jeder zu einem Gottesdienst erhoben werden. Darin nun ist der HErr ein Vorbild. Der HErr lebte ganz seinem Beruf: die Ausrichtung desselben war seine Speise; er ist ihm Wille und Gebot seines himmlischen Vaters, das richtet er aus mit und in seinem Beruf. – Die Schranken seines Berufes hält er ein, Matth. 15, 21. Seine Lebensaufgabe ist eine geistliche, er hat einen Beruf für das Innerste des Menschen, er ist der Seelenarzt. Von diesem seinen Mittelpunkt aus hat der HErr aber doch einen Blick für alle Gestaltungen des Lebens. Vierzig Jahre vorher hat er, wie kein Staatsmann es kann, die Folgen des inneren Verfalls Jerusalems vorausgesehen. Er sieht das Gericht über die Stadt hereinbrechen und die römischen Adler sich sammeln.

 Es war aber dem HErrn nichts wahrhaft Menschliches fremd. Wie keinem Künstler hat sich ihm intuitiv das Reich der Schönheit aufgeschlossen. Was er gesagt und geredet hat, ist von einer Popularität und Klassizität, daß seine Reden in einer Mustersammlung aller Litteraturen zu stehen ein Recht hätten, ganz abgesehen davon, daß sie göttlichen Inhalt haben.

 Er hatte einen wunderbar offenen Sinn für alles Natürliche. Wir brauchen nur an das Wort denken von den Vögeln, die nicht säen noch ernten und in die Scheuern sammeln, an das von den Lilien auf dem Felde, die ohne sich zu mühen dennoch in einem Kleide prangen, vor welchem alle Herrlichkeit Salomos erbleicht, um seinen