Christliche Ethik auf lutherischer Grundlage/Die individuelle Ausprägung des göttlichen Ebenbildes in der Lehre von der individuellen Freiheit des einzelnen Christen und der Kirche

« Ausgestaltung und Durchbildung des göttlichen Ebenbildes in allen Lebensverhältnissen, sofern sie allen Christen gemein sind Friedrich Bauer
Christliche Ethik auf lutherischer Grundlage
Sittliche Ausgestaltung des göttlichen Ebenbildes im Kreuz und Leiden »
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VIII.
Die individuelle Ausprägung des göttlichen Ebenbildes in der Lehre von der individuellen Freiheit des einzelnen Christen und der Kirche.


§ 60.
Allgemeines.
 Dieser Hauptteil unterscheidet sich von den beiden vorhergehenden so: dort sind die allgemeinen Grundzüge der Neugestaltung und Durchbildung des christlichen Lebens gegeben worden, wie sie für jeden Christen passen und als allgemeines Gesetz der Notwendigkeit sich aufdrängen. Würde es weiter nichts geben, so würde das göttliche Ebenbild sich in allen Christen gleichmäßig darstellen. Aber es gilt nicht nur auf die notwendige Gleichheit im Wesen, sondern auch auf die Mannigfaltigkeit in der Erscheinung zu sehen. Wenn im Vorhergehenden| auch in die Mannigfaltigkeit der Erscheinung eingegangen ist, indem die verschiedenen Beziehungen des Menschen zu Gott, zu sich selber, zum Nächsten und die mannigfaltigen, gottgeordneten Gemeinschaftsformen, denen der Christ angehört, besprochen sind, so würde doch auf diesem Wege nur eine Uniformität der Zustände und des sittlichen Handelns herbeigeführt werden und sähe ein Christ wie der andre aus, wenn er die dort angegebenen allgemeinen Normen auf sein Leben anwendete.

 Es ist aber dem Christentum eigentümlich, und zwar ihm allein, der Individualität des Menschen ihr volles Recht angedeihen zu lassen, nicht zwar in verkehrter Weise, als ob die natürliche Individualität im Bereich der Ethik die Norm oder gar die alleinige Norm abgeben dürfte. Sie muß vielmehr unter die allgemeinen Normen des Christlich-Sittlichen gestellt und durch den Geist Gottes geläutert, gereinigt und geheiligt werden. Es gilt hier das Besondere im christlichen Leben mit dem Allgemeinen zu durchdringen, so daß auch das Individuelle das Gepräge des Göttlichen bekommt und die Individualität der einzelnen das Ebenbild Gottes in individueller Ausprägung, bei jedem Menschen anders und immer in seiner Eigentümlichkeit darstellt. Wie das Licht sich in verschieden Farben bricht und diese in hunderterlei und tausenderlei Übergängen und Mischungen eine ganze Farbenwelt darstellen, so ist es auch hier bei der ethischen Gestaltung des Menschenlebens. Je reicher, je mannigfaltiger und eigentümlicher die Gestaltung ist, desto mehr entspricht sie den Absichten Gottes, dessen ganze Schöpferthätigkeit auf die Ausprägung des Individuellen hingeht und der namentlich die Menschen so mannigfaltig an Art gemacht hat, daß man schon daraus als göttliche Bestimmung für sie entnehmen kann, daß sie die ihnen geschenkte Eigentümlichkeit mit allem Fleiß ausbilden. Nicht mit Unrecht – wenn man die Behauptung auf das Gebiet des natürlichen Lebens beschränkt – bezeichnet daher Steffens in seinem Buche „Die Karikaturen des Heiligsten“ die Eigentümlichkeit des Menschen, d. h. was er auf Grund seiner Naturbeschaffenheit werden kann und soll, als das Heiligste im Menschen und die Pflege desselben als die sittliche Hauptaufgabe des Menschen. Auch Schleiermacher hat das Verdienst, dem Individuellen und Eigentümlichen – wenn er es auch einseitig übertrieben gethan hat – zu seinem Recht verholfen zu haben. Es öffnet sich hier ein großes, weites, wenig oder gar nicht bebautes Feld für die Ethik. Das ist der Inhalt des oben genannten Teils.

 Es wird also bei diesem Teil die Rede sein von der individuellen,| persönlichen Freiheit oder von der freien Bewegung und dem Spielraum, den Gott dem Christen (der Kirche) läßt, ohne daß er (resp. die Kirche) jedoch auf dem Gebiet derselben einer Norm und göttlichen Leitung entbehrt. Das ist der Lehrinhalt dieser Abteilung.


§ 61.
Die individuelle Freiheit.

 Unter individueller Freiheit versteht man das Recht des Christen, zwischen verschiedenen Handlungsweisen auf dem Gebiete des Erlaubten, deren keine an sich Sünde sein kann, freie Wahl zu treffen. (Gegensatz: Abhängigkeit von Autoritäten.)

 Hier ist Spielraum für die individuelle Selbstbethätigung des Christen, für die Entfaltung seiner ihm von Gott gegebenen Eigentümlichkeiten, wie sie im Temperament, Alter, in den Gaben, inneren und äußeren Verhältnissen bestehen. Insofern drückt jeder Mensch von irgendwie ausgeprägter Individualität seinem Thun eine besondere Form auf, ein Siegel seiner Persönlichkeit. Das ist mit Ausnahme des Sündlichen, das sich daran hängt, Gottes Wille. Der Mensch muß einen Spielraum haben, wo er seine Persönlichkeit bethätigen kann ohne das Gängelband einer besonderen Vorschrift. Solche freie Bewegung ist nötig zur Bewährung des Menschen, um ihm Mündigkeit zu geben. Diese Freiheit ist Ziel der göttlichen Erziehung und muß es auch bei der menschlichen sein. Sie hilft zur freien Entfaltung des Guten, das Gott in den Menschen gelegt hat, wenn es auch nicht ohne Fehler, Straucheln und Fallen dabei abgeht. Die individuelle Freiheit des Christen ruht auf dem allgemeinen Freiheitsstand desselben.

 Unter der Freiheit, in welcher der Christ steht, versteht man im allgemeinen ein doppeltes:

 1. die evangelische Freiheit von Knechtschaft, Fluch und Strafe des Gesetzes, Freiheit von den äußeren Satzungen des Gesetzes, sonderlich des Zeremonialgesetzes, Gal. 5, 1; Augustana XXVIII Nr. 51–52;

 2. die sittliche Freiheit, nämlich die Kraft und das vom heiligen Geist wiederhergestellte sittliche Vermögen, das vom Gesetz Geforderte ohne Zwang, mit Lust und Liebe zu wollen und zu thun. Röm. 8,2; Jak. 1, 25; Form. Conc. Epit. IV, 5–8.

 Mit beiden hängt die individuelle Freiheit zusammen, mit der evangelischen wie mit der sittlichen Freiheit des Christen, indem jede eine notwendige Voraussetzung der individuellen Freiheit bildet.

|  Der Gebrauch der individuellen Freiheit setzt nämlich einen Spielraum für freie Bewegung voraus. Das alttestamentliche Gesetz hat die für das Gebiet der freien Handlungen bedeutsame Eigentümlichkeit, daß seinen sittlichen Forderungen auch äußerliche Satzungen beigemengt waren, welche dann durch das Evangelium aufgehoben wurden. Jene mosaischen Satzungen, welche dem Menschen gleichsam Schrittfesseln anlegten (in Nahrung, Kleidung, Berufswahl, Heirat; in den Gelübden eine gewisse Freiheit), ließen keinen Spielraum für volle freie Bethätigung. So ist für die individuelle Freiheit die evangelische Freiheit Voraussetzung.

 Der Gebrauch der individuellen Freiheit setzt ferner Selbstbeherrschung voraus. Wer sich nicht beherrschen kann, hat keinen Halt gegen die Versuchung; er kann seine Freiheit nicht gebrauchen. Mithin muß der Mensch, um sich in seiner Freiheit gottgefällig bewegen zu können, erst sittlich frei sein, sonst wird ihm die individuelle Freiheit ein Anlaß zur Sünde, 1. Petr. 2, 16. Insofern ist sowohl evangelische als sittliche Freiheit eine Voraussetzung für den Gebrauch der individuellen Freiheit.

 Wie unterscheidet sich aber die individuelle Freiheit von der sittlichen Freiheit? Insofern, als letztere sich beweist auf dem Gebiet des vom Gesetz Gebotenen, während die individuelle Freiheit sich bewegt auf dem Gebiet des Erlaubten.


§ 62.
Das Erlaubte das Gebiet der individuellen Freiheit.

 Hier haben wir es zu thun mit den frommen Handlungen, zu denen der Christ nicht durch Gebot verpflichtet ist, und mit den natürlichen Dingen, deren Gebrauch dem Christen gestattet ist, dem Erlaubten. A potiore fit denominatio.

 Unter dem Erlaubten verstehen die Römischen die Durchschnittsmoral für die große Masse, das minder Vollkommene, während die eigentliche Vollkommenheit in die Enthaltung von dem Erlaubten gesetzt wird.

 Schleiermacher versteht unter dem Erlaubten das sittlich Indifferente und spricht ihm einen Platz in der Ethik ab. – Sittlich indifferent ist, was weder sittlich gut noch sittlich böse ist. Es gibt ja sittlich indifferente Handlungen, nämlich die dem Gebiete des natürlichen, besonders leiblichen Lebens angehörenden Funktionen und Bethätigungen, die an sich keinen Zusammenhang mit der Sittlichkeit haben,| 1. Kor. 8, 8. Indessen bekommt das Indifferente eine sittliche Bestimmtheit durch das handelnde Subjekt; so ist z. B. eine sittlich indifferente Handlung das Essen; dies kann aber eine unsittliche Handlung werden 1. durch Gier, 2. durch Neid, 3. durch Unmaß, 4. durch Feinschmeckerei. Die Art und Weise der Übung, das Maß von Zeit oder Kraft, welches darauf verwendet wird, das Motiv, der verfolgte Zweck, auch die Umstände, unter denen sie vorgenommen werden, geben jenen indifferenten Handlungen mehr oder weniger im einzelnen Fall einen moralischen Charakter. Darum ist zu sagen, daß die Lehre von dem sittlich Indifferenten wohl in eine christliche Ethik gehört. Der Begriff des Erlaubten reicht aber wohl weiter als der des sittlich Indifferenten.

 Rothe sieht in dem Erlaubten „ein Gebiet des sittlich Zweifelhaften“. Diese Definition ist verfehlt; denn als sittlich zweifelhaft ist die erlaubte Handlung eben überhaupt keine sittliche Handlung mehr, ist nicht mehr erlaubt. „Was nicht aus dem Glauben geht, das ist Sünde,“ Röm. 14, 23. Glauben heißt hier nichts anderes, als die persönliche individuelle Gewißheit haben, daß man den Gebrauch oder Genuß eines Dinges sich erlauben darf. Auf dem Gebiet des Erlaubten kann ja der Christ in Zweifel stehen, weil ihm die bestimmt lautende Vorschrift des Gesetzes fehlt. In einem solchen Fall gilt dann: was nicht aus völliger Gewißheit und aus Überzeugung geschieht, das ist Sünde, wider das Gewissen.

 Stahl sagt: das Erlaubte liegt auf dem Gebiet der Erholung, des Genusses. Das ist richtig, insofern als Genuß und Erholung zu diesem Gebiet gehören. Es ist nicht schlechtweg so, wie manche sagen, daß Erholung und Genuß Pflichten seien. Der Genuß und die Erholung liegen auf dem Gebiet des Erlaubten; es herrscht hier nicht der strenge Pflichtbegriff. Es ist hier das Erlaubte im Gegensatz zum Gebotenen. Der Genuß an sich ist noch nicht etwas sittlich Gutes, aber auch nichts Sündliches. „Alle Kreatur Gottes ist gut und nichts verwerflich, das mit Danksagung empfangen wird.“ Er ist als Genuß eines bonum naturae selbst naturaliter bonum. Es ist ja gewiß, Genuß und Erholung hat sein Recht; aber „nur genießen wollen, macht“, wie Göthe sagt, „gemein“. Das sittlich Gute hängt mit dem Erlaubten, mit dem Genuß so zusammen, daß ein gewisses Maß von Erholung Pflicht, Übermaß aber Sünde ist. Der Pflichtbegriff steht, wie der Cherub an den Grenzen, innerhalb derer man| sich frei bewegen, über die man aber nicht hinausgehen darf, weder zur Rechten (in harter Haltung des Körpers) noch zur Linken (Übermaß des Genusses).
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 Die Ansicht Wuttkes ist: Erlaubt ist, was weder geboten noch verboten ist, dessen Begehung keine Sünde und dessen Unterlassung auch keine Sünde ist. Vgl. Apologie der Augustana, Müller pag. 275, 21: darin weder Sünde noch Gerechtigkeit zu suchen ist. Conc. Form. pag. 551, 2. 697. Die biblische Begründung liegt in Gen. 2, 16 und 17: Du sollst essen von allerlei Bäumen etc.; 1. Kor. 7, 27: Bist du los vom Weibe, so suche kein Weib, so du aber freist, so sündigst du auch nicht; Akt. 5, 4: Ananias konnte den Acker behalten, und da er ihn verkauft hatte, konnte er mit dem Gelde auch thun, was er wollte; 1. Kor. 9, 5: Paulus hat die Macht, eine Schwester zum Weibe mit herumzuführen und kann es lassen; 1. Kor. 9, 4: Wir haben Macht zu essen und zu trinken; 1. Kor. 9, 6: Paulus hat das Recht, sich von der Gemeinde erhalten zu lassen; Röm. 14: Der Christ kann in Speise, in Wertung von Tagen einen Unterschied machen oder auch keinen; ferner in Matth. 20, 15: Die Verwendung des Gutes ist frei. Von allen solchen Dingen gilt: es ist erlaubt; 1. Kor. 10, 23. Hier hat der Christ freie Wahl. Hier entscheiden persönliche Neigungen und persönliche Gründe. Diesen freien Spielraum innerhalb der 10 Gebote bedarf der Mensch, um seine persönliche Freiheit zu bethätigen und sich derselben bewußt und ihrer froh zu werden, also zu seiner sittlichen Entwickelung. Darum ist sie auch von Gott gewollt; ja man wird sagen dürfen: Gott freut sich, wenn er einen Menschen sieht, der seine Freiheit recht gebraucht. Auf diesem Wege bekommt jedes Leben eine eigentümliche Gestalt, die jeder auf andere Weise ausprägt. Daß der Christ diese Freiheit nicht mißbrauchen darf, um das Fleisch zu stärken, versteht sich von selber, Gal. 5, 13; 1. Petr. 2, 16. Je mehr ein Christ befestigt ist im Guten, desto mehr erweitert sich ihm das Gebiet des Erlaubten einerseits, aber andrerseits verengert sich ihm dasselbe, weil er der irdischen Freuden nicht mehr bedarf und auch nicht darnach Verlangen trägt. Der Unmündige braucht am meisten Beschränkung und deshalb ist auch im Neuen Testamente, im Zeitalter der Mündigkeit mehr Freiheit als im Alten unter dem Gesetz, Gal. 4, 3. (Die scheinbar größere Freiheit in manchen Dingen im A. T. ist nur eine Nachsicht, ein Übersehen, eine Konzession, Matth. 19, 8, das ist ein Mangel an sittlicher Vollkommenheit, der aus pädagogischen Gründen| geduldet wird.) Das Gebiet der Freiheit ist ein Stück der Machtvollkommenheit über die Natur, welche der Mensch anfänglich bekommen und teilweise behalten hat, Gen. 9, und als Christ wieder bekommt. Hier liegt das Erlaubte des Genusses in geistiger und leiblicher Hinsicht. „Dem Reinen ist alles rein,“ Tit. 1, 15. Dazu gehört auch das Gebiet der Erholung, im Gegensatz zur strengen Pflichterfüllung und Berufsarbeit (der heilige Johannes und sein Rebhuhn).

 Das Gebiet der individuellen Freiheit erstreckt sich von den unbedeutendsten Dingen bis zu den wichtigsten und höchsten Angelegenheiten des Lebens. Ein Spaziergang und die Schließung einer Ehe, die Wahl einer Person dafür, der Besuch einer Gesellschaft und der Anschluß an einen Verein, der die höchsten Angelegenheiten des Reiches Gottes verfolgt, der Kauf einer Ware und die Wahl eines Berufs, die Art und das Maß der Wohlthätigkeitsübung, 1. Kor. 7, 20. 21; Art und Zeit des Gebets: alles das liegt auf dem Gebiet der individuellen Freiheit. Das gilt aber nicht allein von einzelnen Personen, sondern auch von Gesellschaften, die von Gott geordnet sind und die sich frei zusammenschließen; auch diese haben einen freien Spielraum zur Bewegung und können eigentümliche Formen und Gestaltungen annehmen, denn hier bethätigt sich vor allem der menschliche Bildungstrieb, die schöpferische Thätigkeit auf dem Gebiet der Religion, Kunst, Wissenschaft, des Gewerbefleißes etc. Aus dem allen sieht man, wie außerordentlich groß, reich und mannigfaltig dies Gebiet ist. In allen diesen Dingen regiert kein göttliches Gesetz, kein Gebot, sondern die freiwaltende Persönlichkeit des Menschen.


§ 63.
Das relativ Gute, das Bessere, das Beste.
 Auf dem Gebiet des sittlich Bestimmten, soweit das göttliche Gebot und Verbot reicht, gibt es kein relativ Gutes; die Erfüllung des Gesetzes ist absolut gut, die Übertretung Sünde. Aber auf dem Gebiet der individuellen Freiheit ist es anders. Hier hat man ja das Recht und die Macht, zwischen diesem und jenem zu wählen. Hier gibt es ein gut und ein besser, 1. Kor. 7, 38. Es handelt sich aber hier nicht darum, was im allgemeinen gut ist, sondern was in der Anwendung auf den besonderen Fall gut ist, 1. Kor. 10, 23, oder, wenn ich die Wahl zwischen mehreren Handlungsweisen treffe, was besser und am besten für mich, nicht aber für| einen andern ist. „Duo si faciunt idem, non est idem.“ Wenn ich von dem Recht der freien Wahl Gebrauch mache, sündige ich nicht, 1. Kor. 7, 28. Aber es kann mir das eine, was ich wähle, weniger nützlich, dienlich, förderlich sein als ein anderes, ja sogar schädlich, durch die begleitenden Umstände, nicht an sich. Auf diesem Gebiet der Freiheit, wo der Mensch den Willen Gottes im einzelnen in der Anwendung auf seine speziellen Lebensverhältnisse studieren, wo er erst durch manches Mißlingen, durch manchen Fehler hindurchgehen muß, bis er das Rechte findet und es zu einiger Vollkommenheit im sittlichen Handeln bringt, gibt es verschiedene Grade und Stufen des Guten, eine mehr oder minder vollendete Darstellung desselben in den verschiedenen Christen. Zur Vollendung im Guten gehört auch die Form, das Edle und Schickliche (das sittlich Schöne), Phil. 4, 8. – Hier ist dem Christen eine Schule eröffnet, in der er Lebensweisheit und Lebensklugheit, die in allen Fällen möglichst das Rechte trifft, lernen kann. Hier ist ihm auch eine Bahn der Ehren eröffnet, wo er sich durch Gebrauch und Erweckung seiner Gaben auszeichnen und eine gute Stufe erwerben kann, 1. Kor. 9, 24. 25; 1. Tim. 3, 13. – Wie man auf diesem Gebiete das Rechte und damit Gottes Wille treffen kann, so kann man auch fehlen und eine Thorheit begehen, ja durch Umstände auch sündigen und schwer sündigen. Val. Löscher sieht auf dem Gebiet des Erlaubten im Mißbrauch desselben ein ἥττημα (1. Kor. 6, 7), einen Fehler (ἥττημα an jener Stelle: ein Mangel an christlicher Vollkommenheit, der eine Schädigung des Lebensstandes für die Betreffenden bedeutet), der unterschieden von ἁμαρτία und κατάκριμα ist, aber wohl beides werden kann.


§ 64.
Die Selbstbeschränkung der individuellen Freiheit im Erlaubten.

 Auf dem Gebiete des Erlaubten gibt es indessen Rücksichten, welche dem Christen eine Beschränkung im Gebrauch der Freiheit auferlegen. Es ist dies:

 1. Die Rücksicht auf sich selbst, und zwar zunächst die Wahrung seiner inneren Unabhängigkeit vom Genuß. Der Mensch soll nicht ein Sklave, auch nicht des an und für sich erlaubten Genusses sein, weil es des Christen unwürdig ist, wenn er sich von irgend einer Gewohnheit beherrschen läßt, daß er nicht auch einmal auf den erlaubten Genuß verzichten kann, 1. Kor. 6, 12; 7, 29–31.

|  2. Des Christen Hauptrücksicht aber ist die auf das eigene Seelenheil. Auch einen an sich erlaubten Genuß, auch eine an sich unsündliche Handlung muß der Christ unterlassen, wenn beides für ihn eine Gefahr zur Versuchung, mithin eine nächste Gelegenheit zur Sünde einschließt. Wenn also einer weiß, wo seine schwache Seite ist, seine Versuchbarkeit liegt, wenn er weiß, von woher ihm Gefahren drohen, so muß er die Gelegenheit zu der betreffenden Sünde doppelt meiden (Bileams Verlangen nach irdischem Gut; Dina in Sichem; dagegen Joseph in Potiphars Haus); denn die Freiheit darf nicht mißbraucht werden zu einem Anlaß und Ausgangspunkt für die Sünde (Gal. 5, 13; 1. Petr. 2, 16). Auch das an und für sich Erlaubte muß, wo es Gelegenheit zur Sünde gibt, pflichtmäßig unterlassen werden; z. B. das Tanzen ist an und für sich keine Sünde, aber in der Weise, wie es getrieben wird, ist es oft nächste Gelegenheit oder Reizung zur Sünde. Joseph hätte, da er über das ganze Haus gesetzt war, sich in allen Räumen aufhalten können; aber weil er wußte, was Potiphars Weib für Pläne hatte, beschränkte er seine Freiheit. Es gilt die göttlichen Warnungen beachten, was Salomo unterließ und fiel, 1. Kön. 11, 1–13. Hier also gilt das Wort des heiligen Apostels: „Ich habe es alles Macht, aber es frommt nicht alles.“ Oft täuscht sich der Mensch hierin selbst, absichtlich oder unabsichtlich; da wird dann der Gebrauch der Freiheit zum Mißbrauch.

 3. Es gilt auch Rücksicht auf den Nächsten zu üben, die da besteht in der sorgfältigen Vermeidung alles dessen, wodurch der Anstand, die Schicklichkeit und vor allem das Gewissen des Nächsten verletzt wird, was durch Handlungen geschieht, die der andere für ethisch verboten erachtet, so daß er irre wird an dem, der ihm das Beispiel gibt oder selbst, aber mit bösem Gewissen, die Sache nachmacht, 1. Kor. 8, 9–13; Röm. 14. Das enge Gewissen der Schwachen soll geschont werden, daß der Bruder nicht verloren gehe. – Die genannten Rücksichten fordern eine Beschränkung im Gebrauch der Freiheit. Es gibt auch solche, die sie empfehlen; da handelt es sich um Förderung der Zwecke des Reiches Gottes, 1. Kor. 9, 12; Matth. 19, 12, oder des eigenen geistlichen Lebens, 1. Kor. 7, 32–34.

 Die Königin aber, die auf diesem wie auf allen ethischen Gebieten herrscht, ist die Liebe zu Gott, zum Nächsten, zu sich selbst. Auch hier heißt es: „Die Liebe ist des Gesetzes Erfüllung“, Röm. 13, 10. Auch ein unwichtiges Ding, eine gleichgültige Handlung bekommt einen| sittlichen Wert, wenn man spricht: „Dir zulieb, o Herr, will ich das thun oder lassen“, und: „meinem Bruder zulieb will ich das so oder so machen“, oder: „um meinen Weg nicht zu beschweren, will ich das so oder so machen“. Wie leicht wird es da dem Menschen, sich dies oder jenes zu versagen, was er nach der Freiheit, die er hat, sich gewähren könnte! Denn die Liebe ist lebendiger Trieb zum Guten. Sie gibt Lust und Liebe dazu, und das gibt allem Thun erst seinen wahren Wert.

 Wir müssen hier einen Blick werfen auf den Streit zwischen Pietismus und Orthodoxismus über die Stellung des Christen zu dem Erlaubten.

 Über das rechte Verhalten des Christen auf diesem Gebiet war Streit zwischen Orthodoxen und Pietisten entstanden. Die Pietisten stellten den Grundsatz auf: „Alles was der Christ thut, soll zu Gottes Ehren, des Nächsten Nutz und zum Besten des eigenen Seelenheils geschehen.“ Sie beriefen sich auf Stellen wie Kol. 3, 17; 1. Kor. 10, 31; Röm. 12, 2; 1. Joh. 2, 15, und auf Grund dieser Stellen leugneten sie die Mitteldinge, d. h. eben die freie Bewegung auf dem Gebiet des Erlaubten, faktisch. Ihnen gegenüber machten die Orthodoxen den Satz geltend: Was nicht in der heiligen Schrift verboten ist, ist erlaubt. Sie vermischten dabei die individuelle Freiheit mit der evangelischen und behaupteten infolgedessen, die Pietisten wollten das kostbarste Kleinod der evangelischen Lehre, die Lehre von der evangelischen Freiheit, antasten. Der Irrtum der Pietisten war, daß sie das Recht des Erlaubten leugneten; sie dehnten den strengen Pflichtbegriff auf alle Handlungen aus; sie bedachten auch nicht, daß die Schrift auch eine Fürsorge für den Leib befiehlt, Röm. 13, 14; Kol. 2, 23. Aber die schlimmere Einseitigkeit war doch die der Orthodoxen. Der Streit dehnte sich hauptsächlich über drei Mitteldinge aus: Theater, Spiel und Tanz. Theoretisch wird man den Orthodoxen Recht geben können; allein praktisch wird der ernste Christ auf Seite der Pietisten stehen, jedoch ohne die pietistische Gesetzlichkeit. Damit sind die damals streitigen Punkte schon im Prinzipe entschieden.

 Soweit das Theater nichts sein will als idealisierende Nachbildung der Wirklichkeit, kann man nichts dagegen einwenden, sonst müßte man die ganze weltliche Poesie verwerfen. Ebenso läßt sich gegen das Spiel an sich nichts einwenden. Auch der Tanz als rhythmische| künstliche Bewegung und Ausdruck erhöhter Lebensfreude ist nicht zu verwehren (der Tanz in Silo; Tanz Davids und Mirjams, Richt. 21, 19 etc.; 2. Sam. 6,12 etc.; Exod. 15, 20). Die Teilnahme an Theater, Spiel und Tanz ist jedem Christen erlaubt, sofern sie an sich nichts Gottwidriges haben. Sobald aber das der Fall ist, verbietet sich nach dem oben Ausgeführten von vornherein die Teilnahme. Man kann also nicht absolut sagen: jeder Christ kann teilnehmen; denn es kommt darauf an, wie ein Christ innerlich gestellt ist. Zündet er leicht, wenn die Versuchung an ihn herantritt, so muß er diese Vergnügungen meiden, da er ja durch seine Teilnahme der Sünde entgegen käme. Weiter muß der Christ fragen, ob er nicht dadurch seinen Mitchristen Anstoß gibt. Besonders aber muß er sein eigenes Gewissen fragen. Wenn er in seinen Gefühlen benebelt wird, abgelenkt vom Gebet und von Gott, so daß ihm der Übergang zum Gebet schwer fällt, so heißt’s für ihn: „nicht mehr!“ Gerade in unserer Zeit ist es gefährlich, an diesen Vergnügungen teilzunehmen, da sie vom Teufel sichtlich zu dem Weg gemacht werden, auf dem er seine Kinder zu sich führt. So sind unsere neuen Tänze viel gefährlicher als die alten, bei denen die beiden Geschlechter nicht in so nahe Berührung mit einander kamen. Im übrigen gilt: je mehr der Christ sich in die Gemeinschaft mit seinem Heiland vertieft, desto mehr wird sich die Lust an den Vergnügungen der Welt, die nicht sündlich sein müssen, aber häufig das werden, verlieren. Durch die vielen Rücksichten, die es zu nehmen gibt, schränkt sich für den einzelnen die Möglichkeit der Teilnahme ein. – Doch kann der Seelsorger hier nur abraten, nicht verbieten.


§ 65.
Die Normen für das Handeln auf dem Gebiet der individuellen Freiheit.
 Die allgemeine Norm für das sittliche Handeln ist auch die Norm auf diesem Gebiet, nämlich das Wort Gottes, nur daß hier die richtige und geschickte Anwendung desselben auf den einzelnen Fall schwieriger ist. Es handelt sich auf diesem Gebiet ebenso wie auf dem Gebiet des Gebotenen darum, Gottes Willen zu thun, nur daß man ihn erst suchen, finden und treffen muß. Man muß sich gleichsam in den Sinn Gottes versetzen und studieren, welche Art und Weise des Thuns ihm am gefälligsten ist. „Daß ihr prüfen möget, welches da sei der gute, der Gott wohlgefällige und vollkommene Gotteswille,“ Röm. 12, 2. Das Gesetz bezeichnet die Grenzen des Erlaubten. Insoferne| man dieselben kennen muß, um richtig zu handeln, gehört das Gesetz hieher. Im Gesetz sind aber auch allgemeine Grundsätze (Liebe Gottes und des Nächsten) enthalten; desgleichen im Evangelium (himmlische Gesinnung, christliche Freiheit). So gehört denn das Wort Gottes in seinem ganzen Umfang hieher, besonders soweit es Beispiele des Handelns in der Geschichte (das Leben des HErrn, seiner Apostel) und Lebensweisheit in Aussprüchen (Sprichwörter) enthält.

 Die Vermittlung aber der Aussage, was in jedem einzelnen Fall zu thun und zu lassen sei, übernimmt das Gewissen, welches bei Christen durch Gottes Wort erleuchtet und gebunden ist und eine Norm abgibt, die ebenso universell ist, als sie für die einzelnen Fälle ausreicht (vgl. die Lehre vom Gewissen, § 23 u. s. w.). Hier hat, die Übereinstimmung mit dem göttlichen Wort im allgemeinen vorausgesetzt, jeder Christ sein eigenes Gewissen und muß nach demselben handeln, Röm. 14, 23: Was nicht aus dem Glauben (der Glaubensüberzeugung) kommt (oder dem Gewissen des einzelnen nicht entspricht), ist Sünde, vgl. v. 20 u. 5. „Ein jeglicher sei seiner Meinung gewiß.“ Es darf nichts mit Gewissensanstoß geschehen, Röm. 14, 14. Auch das als eng erkannte Gewissen muß man bei sich und andern schonen, 1. Kor. 8, 7. 9. 10. Für mich kann etwas Gewissenssache sein, was es für einen andern nicht ist; daher gibt es subjektive Gewissenspflichten auf dem Gebiete des Erlaubten. Ist man zweifelhaft, was zu thun ist, so ist die Regel, daß man das Sichere wähle, d. h. das, wo weniger Gefahr ist, daß man den Willen Gottes nicht treffe, als bei dem andern, das man auch thun könnte. (Umgekehrt ist der Standpunkt des Probabilismus.) Während man bei sich in solchen Fällen die größte Strenge anwenden muß, muß man in Beurteilung anderer, die auch in dem Falle sind, möglichst mild sein.

 Das Gewissen aber wird in solchen Fällen bestimmt durch Gründe. (Nicht bloß durch Gefühl: „Es ist mir so.“ Zinzendorf.) Es gilt also hier die Vernunft zu gebrauchen, und zwar die erleuchtete, und ist sorgfältig zu überlegen, was das Rechte und der Gott wohlgefällige Wille sei, cf. Röm. 14, 20; 12, 2. Bei der Überlegung kommt aber außer den göttlichen Geboten und deren Anwendung die spezielle Lebensführung und Lebensaufgabe in Betracht, und es ist zu erwägen, ob ein einzuschlagendes Verhalten zweckmäßig sei, oder ein andres zweckmäßiger und besser (1. Kor. 7, 38) für mich, d. h. ob ich dadurch an meiner Selbsterbauung arbeite, oder ob mir etwas hinderlich und störend sei.

|  In zweifelhaften Fällen, wofür weder das Wort Gottes etwas Spezielles enthält, noch die auf dasselbe gegründete Überlegung zum Ziele kommt und die Entscheidung eine wichtige Sache betrifft, ist auch das Los angewendet worden und anwendbar, Akt. 1, 26, unter Begleitung von Gebet, welches im Glauben geschehen muß.


Exkurs über das Los.

 Nach Akt. 1 kann das Los nicht verboten sein. Aber wir sehen: es handelte sich dort um einen ernsten Fall. Dem Losen war eine vernünftige Überlegung vorhergegangen. Das Werfen des Loses geschah unter Gebet. So war es kein blindes Hineingreifen in die Schicksalsurne. – Der Sinn des Loses ist, daß das, was man durch das Los erreichen will, nicht abhängig gemacht wird vom menschlichen Willen, sondern Gott überlassen. Der Mensch verzichtet da auf den Gebrauch seines Willens und seiner Überlegung und stellt unter Gebet alles Gott anheim. So geschah es dort, Akt. 1, wo es sich um die Einsetzung eines Apostels handelt, den nicht Menschen setzen können, sondern nur Gott.

 Aus dem Alten Testament kennen wir viele Beispiele für den Gebrauch des Loses, Jos. 7 in der Geschichte Achans; dann bei Austeilung des Landes, Jos. 14, 2, Königswahl, 1. Sam. 10, 17, Sündopferböcken, Lev. 16, 8, und an andern Stellen, z. B. Neh. 10, 34; 11, 1 (cf. auch Spr. 16, 33: hier drückt sich die Glaubensüberzeugung des alttestamentlichen Gläubigen aus). Das Los war im Alten Testament zum Teil direkt von Gott befohlen, zum Teil erscheint es als Herkommen geübt.

 Dürfen aber nun auch wir im Neuen Testament das Los anwenden, um zu einer Entscheidung zu kommen? In kleineren Dingen nicht, da wäre es ein Mißbrauch, denn es wird nicht mit Gebet geschehen, und so ist es da, kann man sagen, der Zufall, an den man sich bindet. Oft ist man zu bequem, um ernstlich nachzudenken, oder man sucht durch das Los einem Zugeständnis, das man machen müßte, auszuweichen. Aber in ernsten und schwierigen Fällen? Da muß man zunächst sagen: sich freiwillig dem Los unterwerfen, heißt auf den Gebrauch seiner Vernunft und Selbstbestimmung verzichten, als urteilende Persönlichkeit in einem bestimmten Falle abdanken. Ursache: man kann vielleicht nicht zu einer Entscheidung durchdringen oder möchte, was tadelnswert ist, die Verantwortung von sich abwälzen und wählt hiezu einen Weg, der fromm, eine besondere Stufe der Gottergebenheit zu sein scheint; aber es wird dadurch eine gewisse Passivität| des Charakters erzeugt, es wird die Pflicht der Ergebung ausgedehnt auch auf Fälle, wo Gott sie nicht fordert, sondern dem Menschen Spielraum läßt für seine freie Entscheidung. Es ist der Gebrauch des Loses ein „salto mortale“; wer ihn unternehmen will, unternehme ihn im Glauben; im übrigen ist zu bedenken: wo Gott uns unsern Verstand und freien Willen gibt, sollen wir ihn auch gebrauchen und nicht ablehnen, selbst zu entscheiden, sintemal er auch dem, welcher um die ihm mangelnde Weisheit bittet, solche zu geben verheißt, Jak. 1, 5. Immerhin aber wird man in gewissen Fällen die Anwendbarkeit des Loses, besonders auch nach Spr. 16, 33 u. 18, 18 (vgl. auch Ez. 45, 1; 47, 22), zugestehen müssen.

 Das Orakeln mit Bibelstellen gehört auch hieher und wiewohl es nicht unbedingt zu verwerfen ist, so werden die Fälle doch sehr vereinzelt sein, wo die Anwendung von Mißbrauch frei ist und nicht irre führt. Es tritt hier eine Art Theurgie ein. Auch in pietistischen Kreisen findet man häufig die Trägheit, welche Nachdenken und Überlegung scheut und eine möglichst unmittelbare Gewißheit für zweifelhafte Fälle von Gott haben will. Daraus entstehen gefährliche Täuschungen und Reden: „Dies hat mir der HErr eingegeben zu reden oder zu thun“, „Das ist eine göttliche Führung“, während es oft das Fleisch ist, das spricht, nicht der Geist, während der Mensch damit oft seine eignen Wege beschönigen will und Gott weit entfernt ist, seine Billigung zu solchem Thun zu geben. Dahin gehört auch die Neigung, sich bestimmte Zeichen zu setzen, wie 1. Mos. 24, 14. Wer es wagt, muß wissen, was er thut und Eliesers Zuversicht haben, sonst spielt er ein gefährliches Spiel und kann dafür bezahlt werden. Alle solchen Mittel, die Gott herausfordern zu einer unmittelbaren Antwort auf schwer lösbare Fragen, müssen in größter Ehrfurcht vor dem lebendigen Gott und mit großer Glaubenszuversicht gebraucht, auch als seltene Ausnahme, nie als Regel angesehen werden. – Es gibt aber unzählige kleinere Vorkommnisse im menschlichen Leben, die auch unter die göttliche Vorsehung gestellt sind, aber doch ganz in des Menschen Willkür und Belieben stehen, in welchen die bloße Neigung oder ein zufälliger Umstand, ein kleines, aber wohl zu beseitigendes Hindernis, fremdes Zureden etc. den Ausschlag gibt, z. B. einen Spaziergang da und dorthin zu unternehmen, wo das Wetter, das Zureden eines Freundes und andre kleine Umstände maßgebend sind, ob er auch ausgeführt wird oder nicht. Hier hat man sich solcher außerordentlichen Mittel ganz zu enthalten.

|  Man sieht also, an Normen und Weisungen auf dem Gebiet der individuellen Freiheit fehlt es durchaus nicht. Bei aller Freiheit der Bewegung kann der Christ seinen Weg getrost und sicher gehen. Er braucht nicht in peinlicher Ängstlichkeit wie auf Eiern zu gehen (dazu treibt nur gesetzliches Wesen), wenn er nur sein Ziel fest im Auge hat und seine Richtung im Ganzen einhält, womit aber der Unlauterkeit, die es im einzelnen mit ihrem Thun nicht genau nimmt (Eph. 5, 15: ἀκριβῶς), nicht das Wort geredet werden soll. Einfalt und Lauterkeit soll auch hier den Christen regieren. Jeder Christ ist für den Gebrauch seiner Freiheit dem HErrn verantwortlich. – Normen zweiten Ranges sind die von Menschen gemachten Lebensordnungen. Vgl. § 66.


§ 66.
Autonomie des Christen auf dem Gebiet der individuellen Freiheit.

 Für die oberflächliche Betrachtung sieht es aus, als ob für das Handeln auf dem Gebiet des Erlaubten die Willkür und das wechselnde Belieben maßgebend wäre. Es gibt auch Menschen, die soviel als möglich nach ihrem augenblicklichen Gefallen leben und thun, was sie eben gelüstet, und lassen, was ihnen nicht gefällt, so daß augenblickliche Lust oder Unlust das Hauptmotiv ihres Handelns ist. Solche Menschen der Willkür und Laune sind Zerrbilder der wahren Freiheit eines Christen, sind selbst unglücklich und machen auch andere unglücklich, sind auch unfähig, etwas Tüchtiges zu leisten. Sie sind der Spielball des Augenblicks, Knechte ihres selbstischen Gelüstens. Das Sichgehenlassen, Sichhingeben an den unmittelbaren natürlichen Trieb ist etwas Unsittliches (Wuttke).

 Alles gesunde Leben verlangt Regeln und Ordnungen. Auf dem Gebiet der individuellen Freiheit, das nicht durch göttliche und menschliche Gesetze geregelt ist, muß sich der Mensch selbst Gesetz und Regel geben. Und es thut dies der einzelne, wie die freie Gemeinschaft, aus einem inneren Lebenstrieb mit innerer Notwendigkeit. Es gibt sich der einzelne Christ, wie die christliche Gemeinschaft, eine Lebensregel und handelt nach gewissen Maximen oder Grundsätzen, welche dem Sittengesetz gemäß sich aus der Erfahrung als etwas Feststehendes für besondere Verhältnisse und Personen ergeben und abheben, nach denen man sich als nach allgemeinen Normen in zweifelhaften Fällen richtet. Eine solche Lebensregel rücksichtlich des Ehelichwerdens| gibt St. Paulus im 1. Korintherbrief. Das Leben gibt eine Summe solcher Lebensregeln für jeden einzelnen und für jede Gemeinschaft, von allgemeinen Grundsätzen an bis auf die spezielle Ordnung, wodurch z. B. der Tageslauf geregelt wird. Es muß jeder Mensch eine gewisse Haus- und Lebensordnung haben, wie die Gemeinschaft. Diese ruht auf der individuellen Einsicht in die Zweckmäßigkeit solcher Bestimmungen und auf der individuellen Lebensanschauung und Erfahrung. Es sind selbstgemachte Regeln und Ordnungen, die mehr oder weniger zweckmäßig sind und auf einer inneren Notwendigkeit beruhen. Was für den einzelnen und für die, welche ein gemeinsames Leben führen, die Haus- und Lebensordnung ist, das sind für Vereine und Gesellschaften die Satzungen (Statuten), welche ihr Gemeinschaftsleben normieren, in der Kirche die Kirchen- und Gottesdienstordnungen, welche eine Stetigkeit in das bewegliche Leben bringen. Solchen Gesetzen verbindet sich der Mensch zu freiwilligem Gehorsam und hält sich gewissenhaft daran, doch mit dem Bewußtsein, daß es menschliche Satzungen sind, die Gott gefallen und sittlichen Wert haben.

 Sich ausnahmslos an solche Grundsätze und Ordnungen binden, ist Pedanterie. Unter Umständen, welche die Ausnahme rechtfertigen, muß der Christ auch zeigen, daß er Herr seiner Ordnung ist, und daß er nicht um der Ordnungen und Regeln willen da ist, sondern daß sie um seinetwillen da sind (Marc. 2, 27–28). Aus solchen Lebensregeln und ihrer Übung werden die Gewohnheiten, stehende Formen des individuellen Lebens, die, wenn sie dem höchsten Lebenszweck angemessen sind, mächtige Förderungsmittel des Guten sind. Doch soll der Christ auch Herr seiner Gewohnheiten bleiben, so daß er nicht unbedingt ihnen unterthan sein muß. In Staat und Kirche werden daraus Institutionen, Einrichtungen, Sitten und Gebräuche. Es gibt Menschen der Grundsätze, die nicht anders handeln können als nach Grundsätzen, und zwar so, daß sie dieselben ohne Prüfung der einzelnen Fälle auf alle Verhältnisse anwenden. Das gibt steife Moralisten und Rigoristen. Das Leben ist durch und durch kasuell und fordert eine freie, vernünftige Handhabung der Lebensregeln (St. Paulus, 2. Kor. 1.) Das Maßgebende ist in solchen Fällen das Sittengesetz, und die Aufgabe ist, die besonderen Fälle mit seinem Geist zu durchdringen und dem Sittengesetz gemäß zu gestalten, so daß das Besondere im Leben, vom christlichen Geist durchdrungen, ein Spiegel des allgemein Christlichen ist.


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§ 67.
Der störende Einfluß der Sünde auf diesem Gebiet.

 Wie auf allen Gebieten der Sittlichkeit die angeborne und großgezogene Sünde ihren mächtigen und störenden Einfluß übt, so auch auf dem Gebiet der individuellen Freiheit. Der alte Mensch sucht die von Gott gewährte Freiheit zu seinen Zwecken zu mißbrauchen und die oft schwer zu unterscheidenden Grenzen des Erlaubten zu überschreiten. Die böse Lust und die Trägheit zum Guten suchen oft ihren Vorteil unter dem Schein des Erlaubten. Die böse Lust mischt sich oft in die erlaubte Lust, und die Trägheit verbirgt sich hinter dem Mangel eines bestimmten Gebotes. Das Fleisch mißbraucht seine Freiheit zu seinen Zwecken, 1. Petr. 2, 16; Gal. 5, 13. 17. Es sucht die Gelegenheit zur Sünde überall, auch in erlaubten Dingen, und macht sie zur Sünde, wie bei erlaubten Vergnügungen und Erholungen geschieht. Es verkehrt die Ordnung des Lebens und macht den Genuß zum Lebenszweck und die Arbeit und Thätigkeit zur Nebensache, während der Genuß nur Mittel zum Zweck, Stärkung zu neuer Thätigkeit und Arbeit sein soll (Eudämonismus, feiner, grober), und während man auch in der Thätigkeit und Arbeit Lust und Genuß finden soll. Gerade auf diesem Gebiet findet das Fleisch viele Schlupfwinkel und bewirkt häufig Unlauterkeit der Gesinnung und des Handelns, da man meint, dem Geiste zu dienen, während man dem Fleische dient. Auch die ganze Eigentümlichkeit nimmt eine Mißgestalt an und wird zum Zerrbild, wenn man seinen verkehrten und einseitigen Neigungen nachgibt und sich gehen läßt, statt dieselben in Zucht zu nehmen und sie auf die rechte Bahn zu bringen.


§ 68.
Das Ziel des sittlichen Strebens auf dem Gebiet der individuellen Freiheit.
 Das Ziel ist die Sicherheit und Befestigung im Guten, die wahre Freiheit, nicht als ein Recht der freien Bewegung, sondern als ein sittlicher Zustand, da der Christ lernt, sich mit Sicherheit auch in schwierigeren Verhältnissen zu bewegen, daß er im Großen und Ganzen, Einzelheiten und kleinere Fehler ausgenommen, dem göttlichen Willen gemäß handelt. Damit ist auch das Ziel der göttlichen Erziehung erreicht: die christliche Vollkommenheit, Eph. 4, 13; 2. Tim. 3, 16. 17. Da ist aus dem freien Willen ein guter Wille| geworden, da hat der Mensch geübte Sinne, Weisheit und Verstand, zu unterscheiden das Gute und Böse, Hebr.  5, 14; 1. Kor. 14, 20, auch die Macht und die Herrschaft über sich selbst gewonnen, die Frucht langjährigen und ernsten Kampfes. Das ist ein Zustand der Entselbstung, da sich der Mensch hat selber verleugnen gelernt, Matth. 16, 24, da er sich selber Gesetze gibt und genau weiß, was er sich gewähren darf und was er sich versagen muß, ohne die gesetzliche Ängstlichkeit, die sich über allerlei ohne Not ein Gewissen macht, Kol. 2, 16. 21. Der Mensch, der sich selber und alle seine Verhältnisse ordnet, lernt auch die schwere Tugend des Maßhaltens (σωφροσύνη), 1. Tim. 2, 9; 2, 15; 2. Tim. 1, 7, welche das Zuviel und Zuwenig vermeidet und das rechte Maß trifft, welches den Umständen angemessen ist. Das gilt nicht bloß vom Genießen, sondern auch vom Reden, Arbeiten, Fasten etc. Die wahre Freiheit, kraft welcher der Mensch sich selber beherrscht, macht ihn auch möglichst unabhängig von den Dingen außer ihm und von ihren Einflüssen, ja zum Herrn aller Dinge, wie Luther sagt, und macht die Dinge und Verhältnisse ihm unterthänig, so daß annähernd die Herrschaft über die Kreaturen wieder errungen wird. Die wahre Freiheit bringt dem Menschen auch das rechte Glück: die Herrschaft des Guten, und das innere Maß bringt Einheit und Harmonie in seine Lebensbewegungen, und schon das macht ihn glücklich, daß er mit sich selbst eins ist; er erkennt und fühlt es als ein wahres Gut, freut sich dessen und genießt es. Der Mensch hat sich selbst gefunden auf diesem Wege und steht in der wahren, gereinigten und geheiligten Liebe zu sich selbst. Aber auch die anderen Kreaturen, Personen und Dinge genießt er in rechter Freiheit und freut sich derselben in Gott und liebt sie in Gott. Nicht bloß geistige Genüsse werden auf diesem Weg geheiligt, sondern im Gegensatz gegen den falschen Spiritualismus auch sinnliche Genüsse; und nicht bloß das Angenehme, sondern auch das Beschwerliche, die Mühe und Arbeit, besonders das Schaffen und Bilden, wird auf diesem Wege dem Menschen zur Lust. Sich ergötzen und erlustigen an den Kreaturen ist nicht Sünde, wenn Herz und Sinn gereinigt und geheiligt ist und wenn ihm seine Beziehung zu Gott gegeben, wenn es mit Danksagung empfangen wird, Kol. 3, 17; 1. Kor. 10, 30. 31; 1. Tim. 4, 3. 4. Es ist vielmehr Gottes Absicht, den Menschen zu erfreuen, Ps. 104, 15; 111, 2. Freude ist der Grundton des christlichen Lebens: „Meine| Traurigkeit nimmt täglich ab, meine Freude kann täglich vollkommener werden (Löhe), Joh. 16, 20; Phil. 4, 4; 3, 1. Freuet euch in dem Herrn allewege.


§ 69.
Die göttliche Leitung auf dem Gebiet der individuellen Freiheit für den einzelnen Christen.

 Daß der Mensch freien Spielraum hat nach Gottes Willen für seine Bewegung auf einem bestimmten, wohlbegrenzten Gebiet und doch von Gott dabei geleitet wird, widerspricht sich nicht. Die Leitung Gottes besteht eben nicht in beständigen Geboten und Verboten, welche die freie Wahl und Selbstbestimmung aufheben, sondern in Formen und Weisen, welche der gelassenen freien Entscheidung entsprechend sind. Wie die Eltern ihren erwachsenen und mündigen Kindern ihren Willen nicht gebietend kundthun, aber doch Wink und Weisung geben, was ihnen lieb und angenehm wäre, so gibt auch Gott seinen Kindern, zumal den mündigen, auf dem Gebiet der individuellen Freiheit nicht bestimmte Befehle und Verbote für die einzelnen Fälle, sondern überläßt ihnen die Anwendung seiner allgemeinen Anordnungen und Gebote, und wo sie unsicher und zweifelhaft sein könnten und einer Weisung und eines Rates bedürfen, da ist er zur Hand und erntet Liebe und Dank dafür. Denn es ist hier nicht von solchen Christen die Rede, die noch mit der Schärfe des Gesetzes müssen regiert werden, sondern von wiedergebornen und erneuerten Christen, in denen der Geist Gottes regiert, Röm. 8, 14, die von Gott mit seinen Augen geleitet werden können, Ps. 32, 8. Die andern sind wie Lasttiere, die man mit starker Hand und mit Gewaltmitteln lenken muß, Ps. 32, 9. – Die göttliche Leitung geschieht auf mancherlei Weise und ist ganz dem individuellen Bedürfnis angepaßt. Die Freien leitet Gott auf freie Weise.

 1. Die göttliche Leitung in den inneren und äußeren Lebensführungen.

 Gott gibt seinen Willen und seine Absichten, die er mit dem einzelnen hat, zu erkennen durch äußere und innere Lebensführung. Wo der Mensch nicht weiß, was ihm gut und heilsam ist auf dem Wege zum ewigen Leben und er oft aus Mangel an richtiger Erkenntnis seiner selbst und der Verhältnisse einen verkehrten Weg einzuschlagen im Begriff ist, stellt ihm Gott Hindernisse entgegen (Bileam, Num. 22, 24), um sein Nachdenken zu erwecken und ihn zur Prüfung seines Weges aufzufordern. Oft schickt Gott eine Menge günstiger Umstände,| die dem Menschen einen Wink geben, den Augenblick zu benützen, weil er Glück und Gelingen verheißt. Doch geben solche einzelne Erfahrungen selten so deutliche göttliche Winke, daß man sie sicher deuten kann.

 Sichere Weisung gibt der Zusammenhalt mit der gesamten Lebensführung, zunächst der äußeren. Aus ihr kann sich der Mensch seine äußere, besondere Lebensaufgabe, wenn er Verstand und Sinn dafür hat, schon zusammenbuchstabieren und kann daraus die Bedeutung der einzelnen Erlebnisse ziemlich sicher ermessen.

 Ebenso wichtig und bedeutsam, zum Teil noch wichtiger und bedeutsamer ist die innere Führung eines Menschen, sind die inneren und geistlichen Erfahrungen und Erlebnisse, die jedem seine besondere Glaubensstufe und seine gliedliche, mehr oder weniger bedeutsame Stellung in dem Gesamtorganismus der Kirche anweisen.

 Bei den inneren und äußeren Lebensführungen kommt immer doch das rechte Licht erst, wenn die Lebenserfahrungen in innigem und brünstigem Gebet verarbeitet werden mit Beziehung auf Gottes besondere Verheißungen, Ps. 32, 8; 73, 24; 31, 4; 27, 11; 139, 24. Dann erweist sich an ihm die Wahrheit von 1. Joh. 2, 20. 27: Ihr habt die Salbung. Wer sich leiten läßt, wird sicher geleitet, ohne daß man des eigenen Besinnens und der Verantwortlichkeit des eigenen Entschlusses überhoben ist. Denn nicht am Gängelband will Er seine mündigen Kinder führen, sonst würden sie keinen Schritt selbständig machen lernen. Aber schließlich dürfen sie nicht auf ihre Weisheit vertrauen, sondern sollen sich der höheren Leitung hingeben, die ihren Entschluß entweder bestätigt und befördert, oder aber hindert, wenn es nötig erscheint. Denn nicht immer greift Gott selber ein; er läßt auch manchmal einen Fehlgriff und Fehltritt, etwas Verkehrtes und Thörichtes, ja eine Sünde (wenn man sich nicht will sagen lassen Luk. 22, 31 etc.) zu, damit man, durch Erfahrung gewitzigt, ein andermal vorsichtiger ist. Das Leben des einzelnen Christen ist ein Produkt der menschlichen Freiheit und der göttlichen Leitung. Oft prüft Gott den Menschen und stellt sich, als ob er ganz wider ihn wäre und ihn ganz verlassen hätte. Da gilt es, ihn im Glauben an seine barmherzige Hilfe zu fassen und durch ihn zu ihm hindurchzudringen.

 2. Die göttliche Leitung durch die heilige Schrift (cf. § 65).

 Die göttliche Leitung auf dem Gebiet der individuellen Freiheit geschieht auch durch göttliche Beratung. Ein Rat ist die Empfehlung| einer Handlungsweise als gut und förderlich, welche dem andern frei läßt, ob er davon Gebrauch machen will. Diese Beratung geschieht durch die heilige Schrift, Akt. 20, 32; 2. Tim. 3, 16–17. Diese beleuchtet insbesondere einzelne schwierige Gebiete und Lebensfragen, die für jeden Menschen von besondrer Wichtigkeit sind.

 So ist für jeden Menschen, der in die dazu erforderliche äußere Lage gesetzt ist, eine wichtige Frage: Soll ich heiraten oder nicht? Bei den meisten ist diese Frage schon von vornherein entschieden, ohne daß sie eine Überlegung anstellen. Dem gegenüber steht 1. Kor. 7, v. 26–27; 35–38; 39–41, das auch erwogen sein will, und wenn es auch für die meisten nicht anwendbar erscheint, so gibt es doch eine Anzahl von Menschen, für die das Wort geschrieben ist, und grade von gereiften und geförderten Christen verlangt es Überlegung. Hier rät der Apostel Ehelosigkeit als das Bessere, v. 38 u. 40, ohne die Freiheit im mindesten zu beeinträchtigen, v. 35, und gibt auch seine Gründe an. Einmal: die damalige Not und vermehrte Sorge, auch größere Gefahr, dem Herrn untreu zu werden, v. 26. Das ist indes bloß ein temporärer Grund; er gibt aber zum andern auch einen allgemeinen an: der ehelose Stand ist weniger durch Verwicklung mit der Welt gehindert, für das zu sorgen, was dem HErrn angehört, für seine eigne Heiligung und – kann man wohl im Sinne des Apostels und der Geschichte hinzusetzen – für das, was der Förderung des Reiches Gottes dient (Vorbild Pauli, 1. Kor. 9, 5. 12). Bei diesem Rat ist die Gabe der Ehelosigkeit vorausgesetzt, 1. Kor. 7, 7. Darum hat sich jeder, der dem Reiche Gottes in besondrer Weise dienen will, zu prüfen, ob er nach seiner Natur die Kraft habe, unverehelicht zu bleiben, ohne in Sünden wider das 6. Gebot zu fallen, denn ein unreines Cölibat wäre etwas Verwerfliches. Es gibt viele leuchtende Vorbilder eines heiligen jungfräulichen Lebens von St. Paulo an; Christus selbst ist das vollendetste Vorbild der Jungfräulichkeit. Was St. Paulus lehrt, hat Christus geradeso gelehrt, Matth. 19, 12: „Es sind etliche Verschnittene, die sich selbst verschnitten haben um des Himmelreichs willen.“ Dies ist nichts anderes als die erwählte Jungfräulichkeit. „Wer es fassen kann, der fasse es.“ Daraus sieht man, daß der Rat nicht für die Masse ist, sondern für die Geförderten.

 Ein zweiter Rat dieser Art begegnet uns Matth. 19, 21.

 Dem reichen Jüngling, der sich seiner Ehrbarkeit und der Erfüllung aller Gebote rühmt, rät der HErr das eine, was ihm noch fehlt:| „Willst du vollkommen sein etc.“ Damit rät der HErr dem Jüngling die freiwillige, völlige Armut an, aber mit besonderer Rücksicht auf dessen Anhänglichkeit an Geld und Gut, die ihm das vorzüglichste Hindernis zum Himmelreich war. Es war ein seelsorgerlicher Rat für den reichen Jüngling, der aber auch anderweitig seine Anwendung fand und findet, Luk. 12, 33. Man denke an die erste Gemeinde in Jerusalem, wo die Wohlhabenden ihre Güter und Habe verkauften, um die Armen zu unterstützen, Akt. 2, 45; 4, 36–37; 5, 2. – In etwas anderer Weise erwählte Paulus die freiwillige Armut, da er keinen Sold von der Gemeinde nimmt, sich aufs äußerste beschränkt, und dies Äußerste, was er braucht, sich mit der Hände Arbeit verdient, Akt. 18, 3; 1. Kor. 4, 12; 2. Kor. 11, 27; 2. Kor. 6, 5; 1. Kor. 9, 15. 18.

 In der letzten Stelle verteidigt er sich und seine Freiheit gegenüber denen, die ihn darüber tadeln, 1. Kor. 9, 18. Die Idee ist die, daß der Mensch innerlich und äußerlich frei sein soll vom Besitz, wo er ihn an seiner Seligkeit oder am Dienst am Reiche Gottes hindert. Der letztere Rat wird seltener anzuwenden sein als der erstere, wiewohl beide in der Geschichte der christlichen Kirche eine große Rolle spielen.

 Diese Räte heißen evangelische. Von den älteren und neueren Theologen verwerfen sie viele; es gibt aber auch ältere und neuere Theologen, die sie als schriftgemäß anerkennen, z. B. Löhe. Der Rat ist im Neuen Testament mit γνώμη ausgedrückt, 2. Kor. 8, 10 (wo der Apostel die Wohlthätigkeit anrät); 1. Kor. 7, 25. 40. Die Fassung der evangelischen Ratschläge, wie sie die Katholiken als überverdienstlich ansehen, weil die Erfüllung derselben eine größere Vollkommenheit gewähre als die der zehn Gebote, ist widersinnig und schriftwidrig. Auf den evangelischen Räten der freien Armut, Ehelosigkeit (und des unbedingten Gehorsams gegen die Oberen) beruht das Mönchswesen. Gegen die Annahme von Überverdienstlichkeit ist Luk. 17, 10.

 Was will man aber geltend machen gegen eine Empfehlung des ehelosen Standes von seiten eines Apostels, der den Segen derselben in so außerordentlichem Maße erfahren hat, 1. Kor. 7, 7? Er empfiehlt ihn aber nicht allgemein, sondern unter gewissen Voraussetzungen und Umständen. Wer davon Gebrauch machen will und kann, der empfängt hier Licht und Stärkung des Gewissens. Er empfiehlt auch den ehelichen Stand, wenn außerhalb desselben für das sittliche Leben Gefahr droht, 1. Kor. 7, 2. Der eheliche Stand| braucht aber keine so starke Empfehlung als der ehelose, da ja jener im Zug der leiblichen Natur begründet ist, dieser aber eine Stärke des Geistes fordert, um die Natur zu überwinden. Ist es richtig, daß das, was der Apostel sagt, eine Lobrede auf den ehelosen Stand ist, eine Empfehlung desselben, so ist es hinwiederum in dem einzelnen Fall auch keine Verletzung einer Pflicht, keine Sünde, wenn ein Mensch das, was ihm am besten ist, nicht thut. Wohl kann es ein Fehler sein, eine Verkehrtheit, eine Thorheit, durch Umstände auch zur Sünde werden wie alles Erlaubte, aber an sich ist es keine Sünde, es müßten denn besondere Umstände eine Sünde daraus machen.

 War es des Apostels Pflicht, daß er das Evangelium umsonst verkündigte, wie Wuttke (I, 396) meint? Nein. Es war keine Pflicht, die ihm der HErr auferlegte, vgl. 1. Kor. 9, 6. Er hatte das Recht, es anders zu machen. Es ist eine Verbindlichkeit, eine Pflicht, ein Gesetz, das er sich aus freiester Wahl selbst auferlegt, und das ist sein Ruhm, sein Lohn, sein Voraus, nicht als wenn der Gebrauch seines Rechtes ein Mißbrauch seiner Freiheit gewesen wäre. Ihm für sich kam es so vor, da er nach seiner Individualität und unter seinen Umständen als Heidenapostel einen besseren Weg und besseren Gebrauch seiner Freiheit gefunden hat. Es erscheint ihm als eine innere Nötigung, so zu handeln, und doch ist er sich bewußt, daß er damit nur von seiner Freiheit, nach der anderen Seite, der des Verzichtes hin, Gebrauch macht und daß er dazu das volle Recht hat, wie zum Gebrauch nach der anderen Seite hin. Er würde nicht gesündigt haben, wenn er Gaben zu seinem Unterhalt angenommen hätte, er thut es ja auch nach Phil. 4, 10 ausnahmsweise und macht also nach Umständen von seinem Recht nach der entgegengesetzten Seite hin Gebrauch. Hat er da seine Freiheit mißbraucht, seine Pflicht verletzt? Nein, er wahrt sie nach beiden Seiten hin und bleibt doch seinem Vorsatz treu und sich selbst, er muß nicht so thun, er soll nicht so thun; er will so thun, weil er Herr seiner selbst ist. Und für solche Leute, die das zu fassen vermögen, gilt sein Rat. Es ist eine seelsorgerliche Belehrung und Aussprache.

 Die Empfehlung des ehelosen Standes muß vor allen aus pädagogischen Grundsätzen geschehen. Man muß die Jugend nicht für die Ehe, sondern für den ehelosen Stand erziehen; macht man es umgekehrt, so ist sie für den ehelosen Stand verdorben; ist sie nach paulinischen Grundsätzen erzogen, so paßt sie für beides, für den ehelosen| und den ehelichen Stand, für den ehelichen desto besser, wenn ihre Zeit kommt.

 Die gänzliche freiwillige Armut hat in unserer Kirche und in unseren Zeitverhältnissen kaum noch eine Anwendung, außer in den neu erstandenen Diakonissenanstalten, wo Beispiele gänzlicher Verzichtleistung auf eigenen Besitz heute noch vorkommen. Aber diese Lehre mit ihren Beispielen in der heiligen Schrift und im christlichen Altertum leistet doch einen trefflichen Dienst, die Liebe zu einem armen Leben zu erwecken, welches vieler Menschen, namentlich vieler Diener Christi, unvermeidliches Los ist. Der Zug der Welt geht nach der entgegengesetzten Seite hin, nach einem behaglichen, genußreichen, komfortablen Leben, da man alles, was man braucht, im Überfluß hat. Wie wichtig ist es hier, den Sinn für Bedürfnislosigkeit zu wecken und durch eine Lobrede auf den Vorzug der Armut die Seelen in die Verfassung zu bringen, daß sie nicht mit Seufzen, sondern mit fröhlichem Mut Christo und seinen Aposteln nach entbehren können und ein Gott geheiligtes, armes Leben führen!

 Wie schön und lieblich ist es, in so wichtigen Angelegenheiten des Lebens väterlich von Gott beraten zu sein in seinem Wort. So sehen es auch die symbolischen Bücher an: „Die Jungfrauschaft lobt Paulus, und als einen guten Rat predigt er sie denjenigen, welche dieselbe Gabe haben,“ Apol. Conf. Aug. p. 276. Demnach gibt es im Sinne der heiligen Schrift und nach den Symbolen evangelische Räte, doch im römischen Sinn sind sie zu verwerfen.

 3. Andre Anstalten Gottes zur Beratung der Seinen in wichtigen Angelegenheiten.

 Im Alten Testament war der Hohepriester mit dem Brustschildlein das Orakel, wodurch man den HErrn fragen konnte, resp. der Prophet, Deut. 18, 15; 2. Chron. 18, 6. Dies hat im Neuen Testament aufgehört. An die Stelle ist das Hirtenamt getreten, an welches der einzelne in wichtigen Lebensfragen, um Rat zu erholen, gewiesen ist, namentlich in solchen Sachen, die das geistliche Leben betreffen, Mal. 2, 7; Luk. 12, 42; Joh. 21, 17.

 Das unfehlbare Licht in allen schwierigen Lebensverhältnissen für alle, die Rat suchen, ist die heilige Schrift. Und wo sich keine passende Anweisung und kein passendes analoges Beispiel in der Schrift findet, da bietet sie den leitenden Grundsatz. Sie reicht also für alle Fälle aus. Nur gehört Sinn und Verstand und ein gewisser Grad der| Erleuchtung und Übung dazu, den einzelnen Kasus unter den richtigen allgemeinen Satz zu stellen, das treffende Wort und analoge Beispiel zu finden, das Licht verbreitet über den fraglichen Gegenstand. Dies wird im allgemeinen beim Hirtenamt sich finden.

 Jedoch kommt es hiefür im einzelnen Fall sehr auf die Persönlichkeit an, auf die größere oder geringere Gabe des Hirten für die seelsorgerliche Behandlung und Beratung. Doch ist das Gemeindeglied nicht gerade an seinen Hirten gebunden; es kann jeden andern, zu dem es Vertrauen hat, aufsuchen, und ein rechter Hirte weist seine Schafe selbst zu den Besserberatenden ohne Neid. Aber auch bei dem Befragen der erleuchtetsten Männer ist die eigne Prüfung und Beratung nicht zu erlassen und sie ist auch möglich, denn 1. Joh. 2, 27 gilt von allen Christen und der Fortgeschrittenere soll nur Handreichung thun dem Geringeren. Auch andre begabte Glieder der Gemeinschaft können in ihrem Maße dienen. Es liegt ein göttlicher Segen auf den gemeinsamen Beratungen wichtiger Fälle. – Von der Anwendung des Loses siehe oben.

 Die Kirche hat einen außerordentlichen Schatz der Erfahrung und der seelsorgerlichen Weisheit in den gesammelten Bedenken und Entscheidungen hocherleuchteter Männer, die sie in schwierigen Fällen gaben. Wenn auch bei weitem nicht alle Entscheidungen genügen, so dienen sie doch, das Urteil zu klären. Es ist jedem Seelsorger unentbehrlich, wenigstens einzelne derartige Schriften zu besitzen, um sie zu gebrauchen. Am erwünschtesten wäre freilich eine Bearbeitung der einzelnen Fälle. Die Wissenschaft, die sich damit abgibt, heißt Kasuistik (theologia conscientiaria). (Löhe: Der evangelische Geistliche, II.) Die größten und erleuchtetsten Beichtväter und Kasuisten der römischen Kirche sind Philipp von Neri und Carlo Borromeo, Franz von Sales. Die Jesuiten haben die Kasuistik in Verruf gebracht, und die jesuitische Kasuistik verdient es auch. Die lutherische Kasuistik und die Sammlungen von Bedenken bieten einen großen Reichtum und sind von großem Wert für alle Zeiten. Von besonderem Wert sind auch die Konzilbeschlüsse und die constitutiones apostolicae, wie das Kirchenrecht. Alle diese Studien sollen dazu dienen, namentlich bei einem praktischen Geistlichen, das ethische Urteil zu schärfen, und ihn zu befähigen, ein guter Seelenberater zu sein. Die Gemeindeglieder aber sollen auch angeleitet werden, solchen Rat zu suchen. Wenn gut beraten wird, dann finden sich die Leute schon selbst herzu. Begabte, treue und erleuchtete Seelsorger, deren es aber nicht viele gibt, sind| jederzeit angelaufen, und der Segen einer göttlichen Leitung durch die Hand des Seelsorgers gibt sich deutlich kund. Wer die ihm gebotenen Mittel der Leitung nicht benützt, der entbehrt zu seinem großen Schaden dieses Segens. Er wird desto öfter fehl gehen und statt in hellem Licht in einer Art Dämmerung sein Leben dahinbringen.


§ 70.
Die Askese.

 Die individuelle Freiheit des Christen ist nicht bloß die Erlaubnis und Berechtigung zum Genuß und Gebrauch des Erlaubten, sondern auch das Recht zur Enthaltung vom Genuß, zum Verzicht auf den Gebrauch, zur freiwilligen Enthaltung von irdischen Gütern und Dingen. Die individuelle Freiheit hat gewissermaßen zwei Provinzen: das Gebiet des Gebrauchs und das Gebiet der Verzichtleistung auf den Gebrauch. Von der Freiheit des Gebrauchs irdischer Dinge ist bereits im Vorigen gesprochen worden. Die Lehre von den evangelischen Ratschlägen bildet den Übergang von dem einen Lehrstück zum andern.

 a. Unter Askese versteht man die freiwillige Enthaltung von an und für sich erlaubten Genüssen und Gütern, zu dem Zweck, um sich in der Enthaltsamkeit und Unabhängigkeit von sinnlichen Genüssen und in der Gottseligkeit zu üben.

 Das Wort ἄσκησις selbst steht nicht in der Schrift. 1. Tim. 4, 7–8, wo man es erwarten könnte, heißt es γυμνασία.

 Nach der Conf. Aug. Art. XXVI hat die Askese den Zweck:

 1. Den Leib in Zucht und Zaum zu halten, daß das Fleisch nicht üppig und dadurch eine Reizung zur Sünde werde. Das ist Kasteiung im engern Sinne (castigatio, 1. Kor. 9, 27; castigo corpus meum). Daher gehört Fasten, Nachtwachen etc. etc.

 2. Die Herrschaft der Seele über den Leib, die Unabhängigkeit der Seele vom Leib und leiblichen Bedürfnissen zu erringen, so daß der Leib ein gefügiges Werkzeug der Seele wird (ut corpus habeat obnoxium, Aug. Conf. Art. XXVI, 38).

 3. Leib und Seele geschickt zu machen zu geistlichen Dingen (ad res spirituales), d. i. zur Andacht, Meditation, Gewissenserforschung, Gebet, Fürbitte, 1. Kor. 7, 5.

 In dem Wort selbst liegt schon die Regelmäßigkeit und Stetigkeit, die fleißige Wiederholung und methodische Betreibung einer und derselben Handlungsweise angedeutet; denn selbstverständlich gewinnt| man eine Fertigkeit nur durch Übung und Übung ist oftmalige methodische Betreibung einer und derselben Handlung. Nach 1. Tim. 4, 8 unterscheidet man leibliche Übung (σωματικὴ γυμνασία) und Übung der Gottseligkeit (εὐσεβείας γυμνασία), die sogenannte praxis pietatis. Die erste ist Mittel für die letztere.

 b. Falsche Grundsätze, wodurch sich das an sich erlaubte Gute in das Gegenteil verkehrt.

 Ein solcher falscher Grundsatz, der uns häufig in der Geschichte begegnet, ist die Ertötung des Leibes und seiner Glieder. Der gröbste Mißverstand der Ertötung des Fleisches (mortificatio carnis, Röm. 8, 13; Kol. 3, 5; Gal. 5, 24; Matth. 18, 8. 9) ist, daß der Leib für gleichbedeutend gehalten wird mit „Fleisch“, während doch der Leib ein Geschöpf Gottes ist, das Fleisch aber das sündliche Verderben, das am Menschen haftet, besonders die Lust und Liebe zur Sünde, die zu töten die Aufgabe des Christen ist. Aus diesem gröblichen Mißverstand sind solche Verirrungen im christlichen Altertum (die von großem Ernst zeugen, aber doch zu beklagen sind) hervorgegangen, wie die Entmannung (castratio) des Origenes. Im allgemeinen ist die Ansicht, daß der Leib ertötet, wenn auch nicht bis zum Sterben, so doch aufs äußerste gequält und mißhandelt werden müßte, weil er der Sitz der Sünde sei. Der Leib ist zwar vorzugsweise Organ der Sünde in dem erneuerten Menschen, weil die Sünde aus dem Mittelpunkt, der Seele, in die Peripherie zurückgedrängt ist; aber ohne die Seele vermöchte die Sünde im Leibe nichts, Röm. 7, 23. Diese Ansicht vom Leiblichen, Sinnlichen als dem Sündlichen findet sich im Heidentum, das auch seine Asketen hat – man denke an den indischen Fakir –, war aber auch viel verbreitet im christlichen Altertum, im Mittelalter und besteht in der römischen Kirche noch heute. Was Wahres an der Sache ist, davon nachher. Hier nur so viel: der Leib ist nicht nur ein Geschöpf Gottes, sondern auch durch Christi Blut erlöst und durch den heiligen Geist geheiligt, ein Tempel des heiligen Geistes, dazu bestimmt, mit der Seele an der ewigen Herrlichkeit teilzunehmen; daher muß derselbe geachtet werden und bedarf der liebenden Pflege wie der vernünftigen Zucht, Röm. 13, 14; 1. Kor. 9, 27; Kol. 2, 23.

 Ein weiterer verwerflicher Grundsatz, der besonders in der römischen Kirche herrschend ist, ist die Verdienstlichkeit von dergleichen selbsterwähltem Gottesdienst, als könnte man dadurch Gottes| Gnade, Vergebung der Sünden und ewiges Leben verdienen. Solchen verderblichen Wahnglauben zerstört zu haben, ist das Hauptverdienst der Reformation, cf. Aug. Art. XXVII M. S. 60, 36 mit Berufung auf Matth. 15, 9; Apol. Conf. N. pag. 208; Form. Conc. II M.. pag. 644, 20.

 Es ist zu beachten, daß nicht der selbsterwählte Gottesdienst verworfen ist, sondern der, der in der Meinung geschieht, daß man damit Gottes Gnade und Vergebung der Sünden verdienen wolle, zur Schmach des Leidens Christi. Es ist zwar der selbsterwählte Gottesdienst mit der falschen Askese verworfen, Kol. 2, 18. 23; es ist aber der Wahn gemeint, daß man durch selbsterwählte Übungen eine Stufe der Heiligkeit ersteige wie die Engel und dann unter der Maske der Demut in den abscheulichsten geistlichen Stolz verfällt. Damit ist der Mißbrauch derjenigen Askese gestraft, welche meint, dadurch Gottes Gnade zu verdienen und eine Stufe der Heiligkeit zu ersteigen, während man von dem Grund des Heils in Christo abkommt. Damit sind aber die in der Freiheit des Christenmenschen stehenden asketischen Übungen, die Mittel zum Zweck sind und die ja nicht geboten, sondern frei erwählt sind, nicht verworfen. Der Mißbrauch liegt nahe und Gefahr hat der Weg der Askese; aber damit ist die Sache selbst nicht verwerflich noch undienlich.


§ 71.
Die Formen der Askese resp. der praxis pietatis.

 1. Das Fasten. Fasten ist die teilweise oder gänzliche Enthaltung von Speise und Trank oder von besonders nahrhaften und üppigen Speisen auf bestimmte Zeit.

 а. Das Fasten erscheint in der heiligen Schrift oft als der natürliche, unwillkürliche Ausdruck trauriger Gemütsstimmung. Große Niedergeschlagenheit, schmerzliche Gemütsbewegung bringen naturgemäß einen Verzicht auf den Genuß leiblicher Nahrung mit sich. In diesem Sinn ist das Fasten ein halb freies, aber doch im Grunde mehr unwillkürliches Thun, keine Folge eines freien Entschlusses. In diesem Sinn spricht z. B. der HErr vom Fasten, Mark. 2, 19; Matth. 9, 14. Dieselbe Bedeutung, nur in vertiefter Weise, hat das Fasten, wenn es unwillkürliche Wirkung und Äußerung der Bußtrauer ist, Dan. 9, 3; 2. Sam. 12, 16.

 b. Hievon ist zu unterscheiden die freiwillige Übung des Fastens, z. B. in Verbindung mit der Buße; denn in diesem| Fall ist es ein vom Menschen sich selbst auferlegtes und von ihm gewolltes Mittel, die Seele zu bereiten und geschickter ad res spirituales zu machen, die Intensität des Gebets, den Ernst der Buße und der Reue über die Sünde zu steigern, eventuell: Gewalt der sündlichen Natur zu bekämpfen, Jon. 3, 6; Joel 2, 12. Hierher gehört auch das Fasten als Vorbereitung für wichtige und bedeutungsvolle Momente und Handlungen des Lebens, z. B. beim Empfang geistlicher Ämter, des heiligen Abendmahles, in schwierigen seelsorgerlichen Fällen, Akt. 13, 2. 3; 14, 23; Matth. 17, 21. Hierher gehört auch das Fasten beim Antritt eines wichtigen Amtes, z. B. beim HErrn Matth.  ; Moses und Elias, 2. Mos. 24, 18; 1. Kön. 19, 8, und vor großen Entscheidungen im Leben, Esth. 3, 1. 2; 4, 16. – Wie hier in Verbindung mit Buße und Gebet, so erscheint das Fasten anderwärts in Verbindung mit der Wohlthätigkeit, Jes. 58, 3–7. Auf diese Weise ist das Fasten bewahrt, in den Dienst des Geizes und der Habsucht zu treten. – Aus alledem ist ersichtlich, daß dem Fasten an und für sich keine religiöse Bedeutung zukommt. Es erhält nur einen religiösen Wert, sei es als Äußerung geistlicher Seelenzustände im Gebiet des leiblichen Lebens, also nur bei dem Vorhandensein einer Harmonie des inneren und äußeren Lebens, und andernteils als Mittel zur geistlichen Einwirkung auf die Seele und in Verbindung mit der Barmherzigkeit. Wenn man nun bedenkt, daß der HErr das Fasten zwar nicht befiehlt, aber es doch neben dem Gebet und Almosengeben als Äußerung christlicher Frömmigkeit (δικαιοσύνη) und damit doch wohl empfiehlt, es regelt, ihm einen Lohn verheißt, Matth. 6, 18, daß es ferner auch in der Apostelkirche in Übung war, Akt. 14, 23; 1. Kor. 7, 5, so wird man es nicht billigen können, daß das Fasten in den protestantischen Kirchen im allgemeinen so ganz dahingefallen ist und für die meisten eine fremde Sache ist und bleibt. Wenigstens die geförderten und gereiften Christen sollte man zur Askese anleiten, daß sie aber nicht eine Werkerei daraus machen und in falsche Geistlichkeit verfallen. – Aug. XXVI, 30.
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 Etwas anderes ist die erzwungene Übung, wie sie Gott durch Kreuz, Krankheit auferlegt, dadurch Gott den Menschen in aller Entsagung übt, Aug. XXVI, 30: „Diese ist die rechte ernstliche und nicht erdichtete Kasteiung. Daneben wird gelehrt, daß ein jeder schuldig sei, sich mit leiblichen Übungen, als Fasten und anderem, so zu halten, daß er nicht Ursache zur Sünde giebt, nicht daß er mit| solchen Werken Gnade verdiene. Diese leibliche Übung soll nicht allein etliche Tage, sondern stetig getrieben werden, cf. 33.“ Hier ist aber im Grunde nur die Pflicht der Mäßigkeit und Wachsamkeit gemeint, von besonderen Übungen ist keine Rede. (Kl. Katechism.)

 c. Auf gleicher Stufe mit dem Fasten steht das freiwillige Wachen zum Zweck der Arbeit, wie es St. Paulus geübt hat, um sich durch Arbeit den nötigen Unterhalt zu verdienen, damit das Evangelium besseren Eingang fände, 1. Kor. 9, 18; 2. Kor. 11, 28; 6, 5. In Verbindung mit Gebet und zu dem Zweck desselben erscheint es Ps. 134; Luk. 2, 37; 6, 12. Hanna. Der HErr. Auch des Schlafes Herr zu werden ist eine Macht, die der Mensch über seine Natur gewinnt. Eine Übung darin ist nützlich, aber sie ist nicht Askese, wenn sie nicht um Gottes willen geschieht. Manchen Menschen ist Wachen eine Sache des Berufs, wie bei den Diakonissen, und wiewohl dies Wachen kein freiwillig erwähltes ist, sondern Berufspflicht, so dienen doch Beispiele wie St. Pauli zur Stärkung und Ermutigung. Man kann sehen, was die schwache Kraft durch Gottes Beistand zu leisten im stande ist.

 Eine andere Art Wachen, die in keiner Weise frei übernommen, sondern erzwungen ist, ist das von Gott auferlegte Wachen in Krankheit, Not und Anfechtung, eigner und fremder Art, Ps. 130, 6; 77, – auch eine Übung, die ins Kapitel vom Kreuz gehört. Man kann aber auch aus dem obigen Beispiel für diesen Fall Kraft und Licht nehmen.

 d. Hier muß auch noch erwähnt werden die zeitweilige Enthaltung vom ehelichen Umgang zum Zwecke der Askese, 1. Kor. 7, 5.

 2. Die freiwillige Enthaltung vom selbstsüchtigen Besitz zeitlicher Güter durch stete Übung im barmherzigen Geben.

 Eine der größten Gefahren für die Seligkeit des Menschen ist der Besitz von Reichtum und die Anhänglichkeit daran, Matth. 19, 23. 24; Luk. 12, 15–21. Es hängt aber auch der wenig Begüterte oft krampfhaft an seiner Habe und trachtet nach Reichtum, 1. Tim. 6, 9. Diese beharrlich sich geltend machende Sinnesrichtung ist entsprechend zu bekämpfen. Darum ist nicht genug, daß man den Armen, die sich an uns wenden, hie und da etwas gibt, sondern es muß regelmäßig geschehen, und das nicht kärglich, sondern reichlich, nach Umständen und Verhältnissen, 1. Tim. 6, 18; Luk. 6, 36. 38. Man muß sich im Geben üben, nicht bloß zufällig, sondern beständig, methodisch geben, eine Ordnung daraus machen. Etwas derartiges ist| die Gewohnheit des Pharisäers Luk. 18, 12 gewesen, den Zehnten von allem, was er hatte zu geben, und es ist nicht dieses, sondern die pharisäische Gesinnung verwerflich. Auch der Apostel leitet zum methodischen Geben an, 1. Kor. 16, 2; die von ihm gesammelten Kollekten gehören ebenfalls hieher, Röm. 15, 26; 1. Kor. 16, 1. 2. Auch der HErr gibt den Armen, obwohl er selbst ein Gottesarmer ist, der von Wohlthaten lebt, Joh. 12, 5. 6; Tabea ist voller Almosen, Akt. 9, 36; Kornelius gibt reichlich, so daß es Gott bemerkte, Akt. 10, 2; die Gläubigen in Jerusalem, Akt. 4, 32 etc.; Tob. 2, 22; 4, 11; 12, 18; Sirach 3, 33, Stellen, die man sich erst zurecht legen muß wegen des übertriebenen Preisens und Lobens der Barmherzigkeit; Jes. 58, 6; Dan. 4, 24; Almosengeben erscheint verbunden mit der Erwählung der freiwilligen Armut durch Hingabe des Vermögens zu diesem Zweck. Empfohlen: Matth. 19, 21; Luk. 12, 33: „Verkauft, was ihr habt und gebt Almosen.“ Es ist dem Geben an die Armen ein großer Lohn verheißen, Luk. 16, 9 und andre Stellen; Luk. 19, 8 etc. ist es ein Beweis der Buße und zugleich Erstattung Unrechten Gutes. Auch ein zeitlicher Segen ist verheißen, Luk. 6, 38. Ein Sprichwort sagt: „Almosengeben armet nicht!“ Das Bemerkenswerte ist aber, daß die Almosen ein Kapital sind, das im Himmel angelegt ist und dort beständig Zinsen trägt. Übung ist nötig. Übung bringt auch hier selige Erfahrung.

 3. Hingabe an Gott durch fleißige freie Übung im Gebet.

 „Betet ohne Unterlaß“ sagt der Apostel 1. Thess. 5, 17; Eph. 6, 18; Luk. 18, 1 etc. Der Christ soll immer in betender Stimmung zu bleiben bemüht sein, auch unter den irdischen Berufsgeschäften. Aber das Gebet verlangt auch einen eigentlichen Ausdruck, geregelte Gebetszeiten, Gebetsstunden, Akt. 3, 1; 16, 25; Ps. 119, 164 u. 42, 9, und Bettage, Joel 1, 14; Jon. 3, 8; Dan. 6, 10, auch stehende Gebetsformeln, wie das Vaterunser, die Litanei, Psalter etc., neben freien Gebeten. Wer eine Formel nicht anerkennen will, wird selber unwillkürlich auf eine solche kommen. Das Gebet verlangt auch eine besondere Örtlichkeit, Matth. 6, 6. Mit einem Wort: es muß Methode in diese Bethätigung der Frömmigkeit kommen. Das Ziel ist, daß man mit Andacht beten lernt. Dazu ist Vorbereitung und Übung nötig; cf. Löhe, Sabbath und Vorsabbath. Das verlangt, daß man Zeit und Kraft darauf verwendet. Jesus betete die Nächte hindurch auf den Bergen, Luk. 6, 12; 9, 28; 11, 1; Hanna, Luk. 2, 37; Kornelius,| Akt. 10, 30. Die Asketen, Anachoreten, Mönche machten einen Lebensberuf daraus (St. Antonius) zu beten für sich und andere. Zulässig unter Umständen; cf. Hanna. (Die Prophetenschulen).
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 Das Gebet im Namen Jesu. Hiefür kommen in Betracht die Stellen in den letzten Reden bei St. Johannes, Kap. 14, 13 u. 16, 23; in der letzteren Stelle wird es als das besondere Gebet des Neuen Testamentes bezeichnet. Was heißt im Namen Jesu beten? „Nichts anderes, denn daß wir vor Gott kommen im Glauben Christi und trösten uns mit guter Zuversicht, daß er unser Mittler sei, durch welchen uns alle Dinge gegeben sind, ohne welchen wir nichts denn Zorn und Ungnade verdienen, wie Paulus sagt zu den Römern 5, 2: Durch welchen wir auch einen Zugang haben im Glauben zu dieser Gnade. Das heißt recht in Christi Namen bitten, wenn wir uns also auf ihn verlassen, daß wir um seinetwillen werden angenommen und erhöret, nicht um unsertwillen.“ (Luther.) Also ein Beten im Glauben an das Verdienst Christi. Wenn der HErr seine Jünger auffordert in seinem Namen den Vater zu bitten, so gibt er ihnen damit zu verstehen, daß er in diesem Fall auf sie alle seine Würdigkeit, sein Verdienst, seine hohepriesterliche Herrlichkeit legen wolle und gibt ihnen die Versicherung, der Vater im Himmel werde sie ebenso ansehen, als käme er selbst, der wahre, ewige Hohepriester, der Sohn Gottes und des Menschen, er werde auch ihre Gebete als eitel Gebete seines eigenen Mundes, als hohepriesterliche ansehen. Dies Gebet im Namen Jesu war nicht möglich vor seinem Hingang zum Vater, nicht vor der Darbringung seines ewig gültigen Selbstopfers und dessen Annahme seitens des himmlischen Vaters. Mit seiner Himmelfahrt trat er die durch sein Opfer erworbene Ehre an, kam er in den Besitz des großen Namens, vor dem sich Erd’ und Himmel neigt und den auch der allerhöchste Vater ehrt. In dieser seiner Größe mußte er aber auch erkannt und gepredigt werden, wenn die Menschen dasjenige Vertrauen auf ihn sollten setzen können, in welchem allein man es wagen kann, Seines Namens Nennung als Beweggrund der Erhörung unserer Gebete vor Gott und Menschen anzuführen und betend zu gebrauchen. Nachdem er daher hingegangen und in seiner Herrlichkeit offenbar geworden war, bekannte Petrus: es ist in keinem andern Heil, ist auch kein anderer Name den Menschen gegeben, darinnen sie sollen selig werden. Da beteten die Jünger im Namen Jesu. (Löhe.) – Das Gebet im Namen Jesu ist das eigentliche neutestamentliche Gebet, das Gebet des Christen, kein besonderes| neben anderen, sondern eben das dem Christenstand entsprechende. Durch Christum mit Gott versöhnt kann der Christ nicht anders, als im Namen Christi beten: Alles, was ihr thut, in Worten und in Werken, das thut alles in dem Namen des HErrn Jesu, und danksaget Gott und dem Vater durch ihn, Kol. 2, 17. Durch ihn soll Gott dargebracht werden das Lobopfer, nämlich die Frucht der Lippen, die seinen Namen bekennen, Hebr. 13, 15; überhaupt die geistlichen Opfer im geistlichen Hause, 1. Petri 2, 5. – Es ist ein Unterschied zwischen den Gebeten des Alten und Neuen Testamentes. Dort war der Abstand des Beters von seinem Gott ein größerer, als er hier ist, der Abstand des Geschöpfes von seinem Schöpfer; denn noch war nicht Immanuel erschienen, in dem Gott und Mensch, Schöpfer und Geschöpf sich geeinigt zur Einheit einer wunderbaren gottmenschlichen Person; noch war Gott der ferne, der im Himmel wohnende, nicht war er, wie jetzt in Christo, für uns ein naher, ein Menschen naher, Menschen freundlicher, zu Menschen sich herablassender Gott; jetzt sind wir ihm in Christo näher, und er ist uns näher in seinem lieben Sohn. Und zum andern: die Kluft war noch nicht überbrückt im Alten Testament, welche infolge der Sünde Gott und Menschen von einander scheidet. Die Sühne-Anstalt des Alten Testamentes konnte ja die Sühnung nur vorbilden, nicht geben, die Vergebung nur verheißen, höchstens vorausnehmen, nicht die vollbrachte Versöhnung und vorhandene Vergebung verkündigen. Nun aber ist die Versöhnung geschehen. Im Neuen Testament ist daher das Nahen zu Gott ein zuversichtlicheres, die Gewißheit der Erhörung eine freudigere; wir bitten Gott als die lieben Kinder ihren lieben Vater. – Es ist nicht so, wie wenn das Gebet im Namen Jesu erhörungskräftiger als ein anderes wäre, daß man in besonders dringenden Fällen zu ihm seine Zuflucht nehmen müßte; sondern der Christ betet immer auf Grund der Versöhnung, wie er denn auch an jeder Erhörung eine Bestätigung der geschehenen Versöhnung, eine Besiegelung des Evangeliums hat. Wie man in der Zeit der Verheißung Anrufung that im Namen Jehovahs, des Gottes der Verheißung, 1. Mose 12, 8, so betet man jetzt im Namen dessen, in welchem alle Gottesverheißungen Ja und Amen sind, Jes. 65, 16; 2. Kor. 1, 20. – Im Namen Jesu können und sollen wir um alles bitten, nicht bloß um Geistliches, sondern auch um Leibliches. Wir sollen ja auch alles, was wir nach dem Lauf des natürlichen Lebens zu thun haben oder thun dürfen, im Namen Jesu thun. Die Erlaubnis| in Joh. 16, 23 ist eine uneingeschränkte, und uneingeschränkt ist auch die Erhörungszusage. Doch darf die Bitte nicht ein Erzeugnis des natürlichen fleischlichen Wesens sein, sondern der geistliche Mensch, der wiedergeborne und erneuerte, muß es sein, der darin ein Bedürfnis seines geistlichen oder irdischen Lebens kundthut; denn der HErr gibt ja seine Verheißung seinen Jüngern. Über das, was ihm wahrhaft gut und heilsam, kann auch ein erfahrener Christ, selbst ein Apostel, 2. Kor. 12, 7–9, zeitweise im Unklaren sein. Er wird aber schließlich einsehen, daß die Nichterhörung seines Gebetes nicht gleichbedeutend mit dem Ausbleiben der Verheißung war. Es gibt Gebete mit Vorbehalt, bei welchen der Christ die Worte des HErrn hinzusetzen muß: Doch nicht mein Wille, sondern dein Wille geschehe. So frei wie der HErr darf der Christ seinen persönlichen Willen im Gebet kund werden lassen, wenn ihm nur auch andererseits das Verlangen im Grund des Herzens wohnt, daß der Wille des Vaters geschehe. Es gibt aber auch Gebete, welche als dem Willen Gottes gemäße von vornherein erkannt werden, 1. Joh. 5, 14–15. Hier hat jene oben angegebene Klausel keinen Platz. Da weiß dann der Christ, daß er die Erhörung seines Gebetes hat. Phil. 1, 19–25. – Die Verheißung der Erhörung des Gebetes im Namen Jesu darf betrachtet werden als die neutestamentliche Erfüllung eines alttestamentlichen Vorbildes: 1. Könige 9, 3 (vgl. 8, 52). Die im Tempel oder in der Richtung zur Stätte des Tempels geschehenden Gebete sollten demnach erhört werden (Dan. 9). Die Menschheit Jesu Christi ist der wahre Tempel Gottes, Joh. 1, 14; 2, 19; 10, 30; 14, 11. – Zum Gebet im Namen Jesu gehört übrigens das Anrufen Jesu selber. Joh. 14, 13–14: Das will „Ich“ thun; vgl. Akt. 7, 58 das Gebet des sterbenden Stephanus; Joh. 20, 28 des Apostels Thomas Anbetung; im 1. Brief an die Korinther wünscht der Apostel 1, 2–3 Gnade und Friede allen denen, die den Namen Jesu anrufen an allen ihren und unsern Orten. Zum Gebet im Namen Jesu in dieser Form wird der Christ seine Zuflucht nehmen besonders in Sündennot und in Todesnot. – In den Kollekten der Kirche heißt der Schluß des Gebetes meist: Durch Jesum Christum. Für die Anrufung Jesu selber vergleiche besonders die Passions- und die Sterbelieder der Kirche. (Über Gebetsheilung und die sogenannten Gebetsheilanstalten vgl. die Lehre vom Kreuz.)
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 4. Zur Übung in der Gottseligkeit gehört auch die anhaltende, regelmäßige Beschäftigung mit der heiligen Schrift. Die alte| Kirche führte in die Schrift ein durch die zusammenhängende öffentliche Verlesung derselben in der Kirche. So hatte der heilige Antonius seine Kenntnis der Schrift und der Psalmen insonderheit lediglich dieser kirchlichen Einrichtung zu danken. Auf sie bezieht sich des Apostels Weisung 1. Tim. 4, 13. Die Reformation gab die Bibel auch dem christlichen Haus und durch den Pietismus (Baron von Cansteins Bibelanstalt in Halle) und noch mehr durch die Bibelgesellschaften (1804 die erste in London) wurde die heilige Schrift Gemeingut der christlichen Gemeinde in weitestem Maß. – Die heilige Schrift kann entweder in der einmal festgesetzten Reihenfolge der einzelnen Bücher durchgelesen werden oder aber nach einer im Anschluß an das Kirchenjahr getroffenen, besonderen Ordnung, wie sie dem römischen Brevier nach uraltem kirchlichen Vorgang zu Grunde liegt (cf. Löhe, Haus-, Schul- und Kirchenbuch II pag. 52). Als Ziel der Lesung wird neben der Kenntnis des Inhalts (Bibelkenntnis, Bibelfestigkeit) Einsicht in den Zusammenhang des Schriftganzen und zunehmendes Vermögen des Eindringens in die Schriftgedanken und Anwendung auf das christliche Leben und Verwendung in demselben zu bezeichnen sein. Es empfiehlt sich, größere Abschnitte auf einmal zu lesen, wenigstens an Sonntagen. Es gibt viele Beispiele von fleißigen Bibellesern in der lutherischen Kirche (auch solche bei den Reformierten, welche übrigens mehr das Alte Testament bevorzugen). Wie sehr Luther selber auf das Lesen der heiligen Schrift über dem aller anderen Bücher gedrungen hat, ist bekannt. Nur bei regelmäßigem treuem Lesen wird der Christ eindringen in das Wort Gottes, seine Kraft, das geistliche Leben zu nähren und zu fördern, erfahren und einen guten Schatz in seinem Herzen sammeln. Das regelmäßige Lesen der Schrift läßt den Christen in ihr zu Haus werden und hilft ihm zu geistlicher Reife und Selbständigkeit. Doch hat das segensreiche Lesen der Schrift vorhergegangenen christlichen Unterricht zur Voraussetzung und begleitenden Unterricht des kirchlichen Amtes, zum mindesten des kirchlichen Bekenntnisses, Röm. 12, 7, als gottgegebenes und nicht zu vernachlässigendes Hilfsmittel, Akt. 8, 31. Verachtung oder Nichtachtung desselben in der Meinung, alle Lehre selber unmittelbar aus der Schrift finden zu müssen (Biblizismus), wird sich in der einen oder andern Weise rächen. Etwas anderes ist die selbständige Prüfung der Kirchenlehre an der Schrift; dieselbe ist sogar geboten und hat an den Beröensern ein schönes Vorbild, Akt. 17, 11. Das Forschen in der Schrift kann über den dermaligen Stand der klaren| kirchlichen Erkenntnis hinausführen, cf. Luthers Erkenntnis der Rechtfertigung, an Röm. 1, 17 gewonnen; doch muß der Christ wohl zusehen, daß er nicht seinem eigenen Kopf folge, in diesem Fall wird der Gebrauch des Guten, weil es in falscher Weise geschieht, zum Schaden ausschlagen; es gilt der Leitung Gottes folgen, Phil. 3, 15. Im übrigen bildet 2. Tim. 3, 15–17 für alle Christen eine ernste Aufforderung, die heilige Schrift zu lesen und in ihr zu leben. Doch soll das Lesen als ein Gottesdienst betrachtet und mit Gebet begonnen werden (intrantibus pulsandum!); man soll das Gelesene überdenken, im Herzen bewegen und von dem Lesen etwas mit fortnehmen. – Vgl. A. H. Franckes kurzen Unterricht, wie man die heilige Schrift zu seiner rechten Erbauung lesen soll. –

 5. Die Betrachtung, meditatio, contemplatio, Luk. 2, 19 (Maria bewegte alle diese Worte in ihrem Herzen); Ps. 1, 2 (Er sinnt über seinem Gesetz Tag und Nacht). Gegenstände der Betrachtung sind: „Gott und göttliche Dinge, die Heilsgeschichte und die Heilsthatsachen, namentlich aber Gottes Wort, in das man sinnend sich vertieft, um die göttliche Kraft, die in ihm ist, zu schmecken. Viele Psalmen sind meditationes et contemplationes. Die meditatio ist die nachsinnende Betrachtung des Geistes, der die Dinge von allen Seiten betrachtet, um in ihr Wesen einzudringen. Die contemplatio ist mehr die in einen Gegenstand versunkene, ruhige Beschauung, die den Gegenstand in seiner Ganzheit auf sich wirken läßt, weshalb ein Leben, das sich diesen Zweck gesetzt hat, ein beschauliches heißt. Ausgezeichnete Schriften dieser Art sind die meditationes von Augustin und Johann Gerhard. Der Zweck aller Betrachtung ist die Versenkung in Gott, tiefinnerlicher Verkehr mit ihm, was ja das Ziel aller Religion ist. Eine Seele, die das kann, hat eine hohe Stufe religiösen Lebens erreicht und hat den Gewinn, daß ihr geistliches Leben eine Stetigkeit erreicht hat, während auf den niedrigen Stufen das geistliche Leben vielfach unterbrochen wird und der Faden immer von neuem angeknüpft werden muß. Ein stetiges „in und mit Gott leben“ gibt der Seele eine besondere Weihe und Verklärung in sein Bild.

 Betrachtung und Gebet sind häufig miteinander verbunden und gehen ineinander über. Das Gebet nimmt häufig seine Nahrung aus der Betrachtung. Zu dieser gehört auch die Einkehr bei sich selbst, um seine eignen Seelenzustände kennen zu lernen und sich darüber Rechenschaft geben zu können. Zur Betrachtung gehört auch| die innere Übung der Buße, des Glaubens, der Liebe gegen Gott, welche in einer inneren Aussprache über die eigene Verderbtheit, über die großen Heilsthaten Gottes, die man immer von neuem sich aneignet und in einer Bewunderung der Größe und Tiefe der göttlichen Liebe besteht; cf. Löhe, Sabbath und Vorsabbath.

 6. Der möglichst häufige Gebrauch der Gottesdienste, Gnadenmittel, Beichte, Absolution, heiliges Abendmahl (heilige Taufe).

 Der regelmäßige Besuch der Gottesdienste an Sonntagen, womöglich auch an einem oder etlichen Wochentagen, die täglichen Hausandachten, Morgen-, Abend- und Tischgebet ist Pflicht eines jeden Christen, sowie auch, wie oben gesagt, das Lesen der heiligen Schrift, soviel es geschehen kann. Unter günstigen Umständen ist es auch möglich, täglich gemeinsamen Gottesdienst herzustellen, wie in Anstalten. Auch dies ist unter das Kapitel der Askese zu stellen. Es hat dies seine Gefahren, denen man möglichst entgegenarbeiten muß, aber auch seinen entschiedenen Segen. Es ist eine heilige Gewohnheit, die, wenn die Seele einigermaßen auf dieselbe eingeht, ihre Macht auf sie ausübt. – Der fleißige Gebrauch der Absolution und des heiligen Abendmahls ist jedes Christen Pflicht, aber es ist in seine Freiheit gestellt, wie oft er’s gebrauchen will. Nicht bei allen ist der oftmalige Gebrauch der Absolution und des heiligen Abendmahls ratsam. Mancher muß um seines Seelenzustandes willen zurückgehalten werden, wenn Mißbrauch vorliegt. Bei gereiften Christen, die im richtigen Seelenzustand sich befinden, ist ein oftmaliger Gebrauch der Beichte und des heiligen Abendmahls, wo man Gelegenheit dazu hat, als das Richtige und Normale anzuraten. Der tägliche Abendmahlsgenuß (wie er z. B. in der alten Kirche in Übung war) setzt eine Höhe des individuellen geistlichen Lebensstandes wie desjenigen der Gemeinschaft voraus, welche in den Gemeinden, wie sie geworden sind, im allgemeinen überhaupt nicht, in einzelnen Fällen selten zu finden ist. Es gibt nicht viele Christen, denen man so regelmäßigen und häufigen Gebrauch raten kann. Alle drei bis vier Wochen aber, den richtigen Stand vorausgesetzt, ist nicht zu viel.

 Der Haupteinwand gegen den zu häufigen Gebrauch ist, daß man sich nicht lange und ernst genug vorbereiten könne. Aber es scheint fast, als ob dem Einwand der Irrtum zu Grunde liege, daß auf die Vorbereitung mehr Gewicht zu legen sei als auf den Genuß| selber. Ein anderer Einwand ist der, als ob durch den zu häufigen Genuß des heiligen Abendmahls der Mensch gleichgültig und dafür abgestumpft werde. Wiewohl eine Wachsamkeit über sich nötig ist, so zeigt die Erfahrung einmal, daß eine kürzere Vorbereitung hinreiche und daß man durch Übung die Fähigkeit bekomme, sich schneller in die nötige Verfassung zu setzen, ferner, daß man bei einem gesammelten und asketischen Leben nicht nötig habe, sich mit großen Anstrengungen von der Welt und ihren Umarmungen loszureißen, sondern daß man mehr in steter Bereitschaft bleibt. Die Erfahrung zeigt auch, was man bei der göttlichen Natur des Sakraments voraussetzen muß, daß sich dasselbe nicht abnütze durch häufigen Gebrauch, sondern daß man je länger je mehr die Majestät und Größe dieses göttlichen Geheimnisses anbetend gebrauchen lerne und wahrnehme, wie jedesmal durch die Himmelsspeise eine neue Fülle von Kraft in Leib und Seele einziehe, die der entbehrt, der selten zum Sakramente kommt. Auf diese Weise wird man heimisch im himmlischen Heiligtum, lernt seine Sinne und Kräfte konzentrieren aufs Göttliche und bekommt dadurch Stärke genug für den Kampf mit Sünde, Welt und Teufel. Es ist ja die Natur der Speise, daß sie regelmäßig und oft genommen wird. Die Seele braucht immer neue Nahrung und Stärke zur Förderung des geistlichen Lebens. Außer dem Wort gibt der Seele nichts solche Kraft und Nahrung als das Sakrament des Altars. Der oftmalige Gebrauch ist der rechte und muß als Ziel aller Christen angesehen werden.

 Was macht man aber mit der oftmaligen Beichte, wenn man so oft zum heiligen Abendmahl geht? Die Hauptsache bei der Beichte ist die Absolution. Diese sich oft gläubig aneignen ist eine geistliche Übung, und es entspricht einem Bedürfnis der Seele. Die Füße werden dem Christen immer staubig vom Wandel über die Erde, und darum bedarf man der beständigen Reinigung und der wachsenden Gewißheit der Vergebung, des Friedens und der Freude im heiligen Geist, die aus dem gereinigten, gestillten, getrösteten und immerdar erneuerten Gewissen entspringt.

 Aber auch die Beichte hat ihren großen Segen, wenn sie oft wiederholt wird, und insonderheit die Privatbeichte. Man wird beim häufigen Genuß des heiligen Abendmahls begreiflicherweise mehr die allgemeine Beichte als die Privatbeichte brauchen. Aber durch fleißigen Gebrauch und durch passende Abwechslung beider wird das geistliche Leben sehr gefördert. Nicht nur daß man eine beständige Aufforderung| zur Demütigung hat und zur Selbstprüfung, und nicht leicht, außer bei Leichtsinn, die vorliegenden Steine im Wege liegen läßt, sondern sie zu beseitigen sucht. – Die Privatbeichte bringt die Nötigung, sein inneres und äußeres Leben nach allen Seiten hin zu durchforschen und zu durchsuchen und sich darüber auszusprechen. Man hat nicht immer grobe Sünden zu bekennen; aber die sündige Art hat die mannigfachsten Erscheinungsformen, und je öfter man das Geschäft der Selbstprüfung treibt, je ernster und gründlicher man es vornimmt (und mit der Übung wächst die Fähigkeit und wird zur Fertigkeit), desto weniger fehlt es an Stoff zum Beichten. Auf diesem Wege wird man erst ein rechtes Beichtkind, bekommt Erfahrung und eine Fülle des Segens. – Nirgends kommt die Heilsordnung so handgreiflich zur Erscheinung als in der Beichte und Absolution und im Sakrament des Altars. Da hat Buße und Glaube eine stetige Übung wie nirgends sonst. Auf diesem Wege wächst man und wird stark in beiden. Der Mißbrauch ist freilich auch auf dem Wege nicht allzuselten. Es gibt Menschen, die diese Gnadenmittel fleißig brauchen und bei denen die sittliche Wirkung ausbleibt und bei denen es nie zu einem rechten lauteren Christenwandel kommt, oder die in ihrem sittlichen Leben rückwärts kommen. In solchem Fall ist Aufsehen not, weil sonst Gottes Gericht, namentlich Krankheit und früher Tod eintritt, 1. Kor. 11, 30. Der HErr übt hier unmittelbar seine Zucht, schont nicht den sträflichen Leichtsinn und die Profanation des Allerheiligsten.

 Es handelt sich nun noch um die Taufe. Kann man diese zu geistlichen Übungen brauchen, da sie ja doch ihrer Natur nach nicht wiederholt werden kann? Ja, eben dadurch entfaltet sie ihre Wirkung, die durch das ganze Leben hindurch geht, bis in den Tod hinein, da der Christ zum ewigen Leben wiedergeboren ist. Die heilige Taufe ist eine Quelle des Trostes und göttlicher Kraft; wenn sie recht gebraucht wird und wenn man durch fleißige Betrachtung sich recht ihres Wesens und ihrer Wirkung bewußt wird.

 Die Taufe ist eine Quelle des Trostes wider die Sünde. Sie ist ein Heilbrunnen, durch welchen alle Sünden des ganzen Lebens abgewaschen sind und in dem man sich täglich waschen kann; wenn man, um mit Luther zu reden, immer wieder von neuem in die Taufgnade kriecht. Hebr. 10, 22. Die Taufe ist ein Bund mit Gott, der ewig feststeht, auch wenn der Mensch untreu wird, 1. Petr. 3, 21; Jes. 54, 10, indem die Rückkehr durch Buße und Absolution immer wieder| möglich ist. Die Taufe ist ein Siegel der Erwählung, Eph. 4, 30; 1, 13; 2. Kor. 1, 21. Wer deshalb angefochten ist, findet darin den sichersten Trost.

 Die Taufe ist auch ein Trost wider den Tod. Der Christ wird im Tode kraft seiner Taufe völlig frei von der Sünde; denn es ist in ihr die Seele, und in Hoffnung auch der Leib, wiedergeboren zu einem himmlischen Leben, wie denn auch der Leib durch die Taufe zu einem Tempel des heiligen Geistes geheiligt ist. Die Taufe ist ein Jungbad für den ganzen Menschen.

 Die heilige Taufe ist auch eine Quelle neuer Kraft, ja der täglichen Erneuerung, Röm. 6, 4; Luthers kleiner Katechismus. Was in der Taufe angefangen ist, die Tötung des alten Menschen, wird kraft der Taufe in der täglichen Buße fortgesetzt, so daß der alte Mensch von Tag zu Tag abnimmt, und der neue Mensch von Tag zu Tag erneuert wird, 2. Kor. 4, 16, alles kraft der heiligen Taufe, die unterstützt wird durch die andern Gnadenmittel.

 Darin liegt die weitgehende sittliche Verpflichtung der Taufe, dem Teufel und allem seinem Wesen (pompa) und allen seinen Werken zu entsagen und sich dem dreieinigen Gott zuzusagen. Das ist das Tauf- und gleicherweise das Konfirmationsgelübde, das der Christ fleißig, ja womöglich täglich oder wenigstens bei jedem wichtigeren Anlaß im geistlichen Leben, z. B. beim Sakramentsgenuß wiederholen soll (Erneuerung des Taufbundes), daß das Andenken an die heilige Taufe stets frisch im Gedächtnis grüne. So lebt sich der Mensch so recht in die Grundlagen seines geistlichen Lebens hinein und macht sie zur Segensquelle für die Gegenwart und Zukunft.

 Aus alledem erhellt, wie wichtig die heilige Übung in göttlichen Dingen ist; ohne sie bleibt man ein Stümper in diesen Dingen, ein Kind, und kommt nie zur Mannheit in Christo. Das Heiligtum ist dem Menschen in die Hände gegeben; wie er es benützt, das ist seine Sache. Aber alles ist nur Mittel zum Zweck. Wehe dem, der die Sache anders ansieht!

 7. Das Gelübde. Es gehört auch zur Askese und ist eine gottesdienstliche Handlung, aber verschieden von den vorausgehenden Arten, weil es ausschließlich auf Freiwilligkeit beruht. Es wird das Gelübde von vielen Ethikern (Harleß), außer dem Tauf- und Konfirmationsgelübde, welche eigentlich nur unter den Begriff Bundesschließung gehören und die menschliche Seite derselben bezeichnet, also nicht hieher| gehört, ganz verworfen. Man hat daher zu fragen: Was ist ein Gelübde und ist es von Gott zugelassen, ja ihm wohlgefällig?

 Ein Gelübde ist ein ganz freiwilliges Versprechen, etwas Gott zuliebe zu thun oder zu lassen, entweder ohne entsprechende Gegenleistung von Gott oder mit einer solchen. Man kann ein Gelübde thun zu einer besonderen Bethätigung der Hingabe an Gott, z. B. nach empfangenen Wohlthaten, oder als Motiv für eine zu erlangende Gebetserhörung. Ps. 66, 13–15; 22, 26; 116, 12–19. Mit dem Gelübde bindet sich der Christ in gesetzlicher Weise. Das Gesetzliche ist aber hier kein Hindernis der evangelischen Freiheit, weil etwas Selbstauferlegtes.

 Im Alten Testament haben wir Beispiele genug, daß das Gelübde Gott wohlgefällig ist. Ein alttestamentliches Institut ist das Nasiräat. Es hatte das Nasiräatsgelübde (Enthaltung vom Wein und von allem, was vom Weinstock kommt, und Wachsenlassen des Haupthaares) zur Voraussetzung, Num. 6, 3 etc. Es galt entweder für die ganze Lebensdauer, Richt. 13, 5; 1. Sam. 1, 11, oder für eine bestimmte Zeit, Num. 6, 5.

 Andere Gelübde: Ein solches thut Jakob, Gen. 28, 20; 31, 13; Hanna, 1. Sam. 1, 11; Jona 2, 10; die heidnischen Schiffsleute, Jona 1, 16. (Die Rechabiten, Jerem. 35, 6, enthielten sich des Weins im Gehorsam gegen das Gebot ihres Vaters. Verwandt ist Sauls Beschwörung, 1. Sam. 14, 24.) Jephtha thut ein unbesonnenes Gelübde, Richt. 11, 30. Im Neuen Testament thut St. Paulus, der Apostel der evangelischen Freiheit, ein Gelübde und zeigt damit, daß es in der Freiheit eines Christenmenschen stehe, Gelübde zu thun, Akt. 18, 18; 21, 24. Es war kein Nasiräatsgelübde, obwohl ein demselben ähnliches, aber ein Privatgelübde.

 Im Alten Testament gibt es Gelübdeopfer, neben den freiwilligen Opfern genannt, aber auf die Zukunft bezüglich, was man erst zu thun gedenkt. Gelübde braucht man nicht zu thun; sie nicht thun ist nicht Sünde; aber die man gethan hat, muß man halten, Lev. 22, 17 etc.; Deut. 23, 21; Num. 30, 3; Ps. 50, 14; 116, 14; Pred. 5, 3.

 Gelübde sind erlaubt auch nach den Symbolen der lutherischen Kirche mit der nötigen Vorsicht und Einschränkung. Sie sollen in möglichen Sachen geschehen, d. h. die der Mensch in seiner Hand hat, willig, ungezwungen, wohlbedacht (Conf. Aug. XXVII, pag. 60, 28 etc.). Den Klostergelübden fehlen fast durchweg diese| Erfordernisse, darum sind sie für solche, bei welchen ein solcher Mangel vorhanden ist, unverbindlich, wenn die bessere Erkenntnis kommt. Was Verkehrtheit war zu geloben, bleibt Verkehrtheit, wenn man es hält. Ein sündliches Gelübde darf man nicht halten, so wenig wie einen sündlichen Eid. Damit wäre jedoch in der Reformationszeit keineswegs für alle Klosterleute die Erlaubnis gegeben gewesen, ihr Gelübde zu brechen, wenn nicht der falsche Gottesdienst in den Klöstern diejenigen, die die bessere Erkenntnis aus dem Evangelium gewonnen hatten, herausgetrieben hätte.

 Die drei Klostergelübde sind: 1. ewige Keuschheit, 2. freiwillige, gänzliche Armut, 3. unbedingter Gehorsam gegen die Oberen des Klosters.

 Unter Umständen ist es thunlich, aber mit großer Vorsicht, zu geloben, immer unverehelicht zu bleiben, Matth. 19, 11–12; 1. Kor. 7, 34. 40. Der Mensch muß sich in diesem Falle ganz genau kennen und seiner sicher sein. Ein Gelübde der Ehelosigkeit anderen, z. B. Diakonissen, abzunehmen, scheint zwar fast eine Sache der Notwendigkeit zu sein, wenigstens auf eine gewisse kürzere Zeit, aber es ist doch viel richtiger und evangelischer, dies nicht zu thun und die Gewissen nicht zu binden. Ein Gelübde der Aufrichtigkeit abzunehmen, demgemäß jeder nahende Vorschlag der Heirat den Vorstehern solcher Anstalten anzuzeigen ist, ist durchaus unverfänglich und richtig gehandelt. Das Gelübde der Armut ist da leicht abzunehmen, wo man für Lebenszeit versorgt ist, wie in den Klöstern, und wo man meist alles in Hülle und Fülle hat, was man braucht. Unevangelisch ist solch ein Vornehmen an sich nicht.

 Es sind aber noch etliche ganz unevangelische Formen der Askese in Erinnerung zu bringen. Von der Ehelosigkeit, insofern das Gelübde unevangelisch ist, ist schon geredet. Ganz unevangelisch ist der unbedingte Gehorsam gegen den Vorgesetzten des Klosters. Es steht wohl in der Freiheit eines Christen, das Zölibat zu wählen und die freiwillige Armut, wie St. Paulus. Es kann gewiß auch den Christen das Recht nicht genommen werden, zu kirchlichen Zwecken eine Gemeinschaft zu bilden und nach einer gemeinsamen Regel und Ordnung zu leben. Es ist natürlich und selbstverständlich, daß man durch seinen Eintritt in eine freie Gemeinschaft den Gehorsam gegen die bestehenden Ordnungen und die Vorgesetzten der Gemeinschaft verspricht und gewissenhaft zu halten verbunden ist. Aber unbedingten Gehorsam einem Menschen| zu leisten, ist Sünde, weil man damit den unbedingten Gehorsam gegen Gott aufgibt, beide aber nicht nebeneinander bestehen können, und es gibt kein Mittel, dem Konflikt auszuweichen als durch freiwilligen Austritt. Es ist ein knechtisches Joch, welches ein solches Gelübde gegen die evangelische Freiheit auflegt, Gal. 5, 1. Wie verderblich dieser Gehorsam in der römischen Kirche überhaupt ist, ist in bemerkenswerter Weise hervorgetreten in dem Verhalten, welches an den Bischöfen der römischen Kirche gegen das auf dem Vaticanum promulgierte Dogma der päpstlichen Unfehlbarkeit beobachtet wurde, denen dieser Gehorsam gegen den Papst über ihre Gewissensüberzeugung und die Einheit der Kirche, also der Nutzen, über die Wahrheit ging und nach römischen Grundsätzen gehen mußte.

 Aber nicht allein dies Stück ist verwerflich an den Klostergelübden, sondern sie selbst, indem der Wahn dabei ist, daß die Erfüllung derselben nicht allein gerecht mache, sondern auch eine Vollkommenheit und ein Überverdienst gebe, von dessen Überfluß man den andern mitteilen könne. (Dagegen Luk. 17, 10; 1. Kor. 4, 3–4; 9, 17–23.) Das ist ein ganz ungöttliches Wesen, und es ist eine große Gnade Gottes, daß dieser Wahn durch die Reformation getilgt wurde. So hat sich die vermeintliche größte Frömmigkeit verkehrt in elenden Pharisäismus, der für das Reich Gottes das größte Hindernis ist und zu einer tief innerlichen Feindschaft gegen Christo wird.


Wert der Gelübde.
 Was den Wert der Gelübde anlangt, so hat man dabei auf die Veranlassung Rücksicht zu nehmen. Nehmen wir den Fall, daß ein Christ in großer und augenscheinlicher Gefahr Gott ein Gelübde thut: Wenn du mich errettest, will ich das und das als Dankopfer bringen, so ist hier recht deutlich zu sehen, was der Wert und Zweck des Gelübdes ist. Der Zweck ist offenbar, den Ernst der Bitte zu steigern, ihr größere Kraft zu geben. In der Verbindung des Gebetes mit Fasten haben wir etwas Analoges. Das Gelübde ist hier auch zugleich ein Zeichen des Ernstes im Gebet seitens dessen, der es ablegt. Ein Gelübde kann auch abgelegt werden unter dem starken Eindruck einer göttlichen Wohlthat (erfahrene Hilfe). Hier ist es ein Beweis, wie tief der Betreffende die empfangene Wohlthat empfinde. Etwas anders verhält sich die Sache mit einem Gelübde beim Beginn einer Unternehmung, irgend eine Gabe Gott als Dankopfer| beim Gelingen bringen zu wollen. Es mag ja freilich auch in diesem Fall das Obengesagte zutreffen: es wird aber im allgemeinen ein zweites Moment das hervortretende sein, das pädagogische; damit kommt zugleich etwas Gesetzliches in das Christenleben. An und für sich würde ein Christ, mit dem es recht steht, sich Gott, der sein Gebet erhört hat, schon von selber zu Dank verpflichtet fühlen, auch ohne Gelübde. Und dann würde in sein Verhältnis zu Gott noch kein gesetzliches Moment treten, denn der Dank würde ganz dem ethischen Verhältnis entsprechen von Gnade und Liebe und Gegenliebe. Weil aber die Erfahrung den Christen lehrt, daß die Bitte zwar heiß und innig ist in der Not, daß aber der Dank sehr oft vergessen und übersehen wird, so fixiert nun der Christ die ihm vorschwebende Dankeserweisung in Form eines Gelübdes. Er will sich selbst vor Vergeßlichkeit und Undank, vor Abschwächung und Minderung der Dankbarkeit bewahren.

 Der pädagogische Charakter zeigt sich auch bei gewissen Enthaltungsgelübden. Es kann nämlich beim Christen von seinem früheren natürlichen Zustande her, aus seiner Vergangenheit außer und vor Christo, eine besondere Versuchung hereinragen in seinen gegenwärtigen Christenstand, die ihm immer und immer wieder gefährlich und ein Anlaß zur Sünde werden kann. Aber weil es sich um an und für sich erlaubte Dinge handelt, kann der alte Mensch immer wieder die Freiheit zum Deckmantel der Bosheit brauchen. Da entschließt sich der Christ, mit jenen Versuchungen zu brechen. Er thut es dadurch, daß er sich entschließt und durch ein Gelübde selbst bindet, auf jene an und für sich erlaubten Genüsse zu verzichten, welche für ihn, nach seiner besonderen Individualität, versuchlich geworden sind. Es ist dies zwar ein gesetzliches Moment, aber doch mit der Freiheit nicht unverträglich, weil es kein an und für sich notwendiger Verzicht ist, den der Christ sich auferlegt. Verwandt damit ist, was Matth. 18, 8–9 vom HErrn empfohlen wird.

 Es ist also auch unter diesem Gesichtspunkt der Selbstzucht, die der Christ sich auferlegt zum Zweck seiner sittlichen Förderung, das Gelübde auch innerhalb der christlichen Freiheit möglich. Das hat pädagogischen Wert und ist unverwerflich und zwar das Gelübde nach der doppelten Seite des Versprechens einer Leistung oder einer Enthaltung von einem Genuß, zu der man auch nicht verpflichtet ist. – Man darf nun aber die Kraft des Gelübdes in diesem Sinn auch nicht überschätzen. Es ist eine unter Umständen heilsame Bindung des Willens| und Selbstzucht. Aber vergessen darf nicht werden, daß die Kraft zur Erfüllung nicht das Gesetz gibt, sondern der heilige Geist. Als Stab und Stecken, als heilsames Band, als Barriere auf dem Lebensweg, die vor Abwegen warnt, mag das Gelübde gebraucht werden; aber der täuscht sich selbst, welcher im Gelübde das selbsterwählte Mittel der Selbstüberwindung und Heiligung sieht.

 Bei der ganzen Frage nach dem Wert der Gelübde ist nicht aus den Augen zu lassen, daß im Alten Testament nie und nirgends das Gelübde befohlen oder auch nur angeraten ist, wogegen allerdings die Haltung des einmal Gelobten als Pflicht stark betont wird. Eine Sache vollkommener Freiheit, auch nach alttestamentlicher Anschauung, ist das Gelübde, solange es sich um die Frage handelt: Soll es abgelegt werden oder nicht? Aber sobald es abgelegt ist, bindet es; Pred. 5, 3–5. Im Neuen Testament erscheint das Gelübde nur ganz vereinzelt und ohne daß ein sonderliches Gewicht darauf gelegt wird, woraus man mit Recht geschlossen hat, daß das Gelübde mehr der alttestamentlichen Frömmigkeit entspreche. In der Apostelgeschichte kommt es ein paar Mal vor. Kap. 21 läßt sich der Apostel Paulus, um dem Vorwurf, von der alten Lehre abfällig zu sein, zu entgehen, zu einem Gelübde gläubiger Juden herbei. Etwas anderer Art ist der Fall Akt. 18, 18, wo er auch ein Gelübde auf sich genommen und durch Scheren seines Hauptes gelöst hat. Außer diesen beiden Fällen begegnet uns kein Gelübde dieser Art im Neuen Testament, was also ein Beweis ist, daß das Gelübde mehr der gesetzlichen Pädagogik als dem Stand des Christen entspricht.

 Damit ist dann die Frage gelöst, ob die Gelübde (cf. oben) ein Stand höherer Vollkommenheit sind. Man wird es nach dem eben Bemerkten nicht sagen. Vollkommen wäre der Christ, wenn er kein Gelübde brauchte, sondern der Wille an und für sich ohne ein gesetzliches Band stark und energisch genug wäre, das Gute zu thun. Aber bei der Unvollkommenheit der menschlichen Natur auch beim Christen muß man sagen, es handle der weiser und vollkommener, der, um Versuchungen zur Sünde zu entgehen, gelobt, auf den Genuß zu verzichten.

 Auch ein anderer Umstand trägt dazu bei, das Gelübde auf seinen richtigen Wert herabzusetzen, daß nämlich bei demselben gar zu leicht in das Verhältnis des Christen zu Gott ein, wenn man so sagen darf, rechnerisches Element eingetragen wird. Es ist gleichsam eine| Art Handel mit Gott: für eine kleine Gabe des Menschen soll Gott eine große Wohlthat geben.

 Drittens sind die Gelübde nicht für vollkommener zu achten, weil dadurch vom Christen die Erhörung des Gebets in sehr bestimmter Richtung fixiert wird, während es dem Charakter des christlichen Gebetes entspricht, Zeit, Art und Weise Gott zu überlassen. Doch kann in dieser Fixierung der Erhörung der Bitte andernteils in bestimmten Fällen ein besonders starker Glaube (cf. oben) sich aussprechen. Darum hebt sich vielleicht das eine gegen das andere gegenseitig auf.


 8. Die Heiligen.

 Diejenigen Personen, die sich in der Übung der Gottseligkeit und überhaupt aller christlichen Tugenden in solchem Maße ausgezeichnet haben, daß sie das gewöhnliche Maß überschritten (heroische Tugend) und infolgedessen nicht nur die allgemeine Anerkennung der Christen ihrer Zeit gefunden, sondern auch dem Gedächtnis der Kirche für alle Zeit eingeprägt sind, nennt man Heilige. Zwar sind alle Gläubigen Heilige; aber hier ist das Wort im eminenten Sinn von solchen gebraucht, die eine besonders hohe Stufe der Heiligung hier auf Erden erreicht haben und ebendeshalb im Andenken der christlichen Nachwelt fortzuleben gewürdigt sind (Conf. Aug. XXI), die wie Sterne erster Größe am Himmel leuchten. Hieher gehören nächst den Aposteln in erster Linie die Märtyrer und Bekenner der ersten Jahrhunderte, des christlichen Heroenzeitalters, ein Heldengeschlecht, welches seine Größe im Leiden und Dulden erwiesen und unterliegend den Sieg des Christentums vorbereitet hat. Ihnen reihen sich an die großen heiligen Lehrer der Kirche und außerdem noch eine Zahl von solchen, die sich in der Nachfolge Jesu ausgezeichnet haben. Ein Verzeichnis derselben bietet der Heiligenkalender, dessen altüberlieferte und auch von der lutherischen Kirche herübergenommene Namenreihe ein Stück der Einheit über den Konfessionen bildet und der Ausdruck eines gewissen Glaubens an die communio sanctorum ist. Meistenteils sind diese Heiligen, die ja, sofern sie der ganzen Kirche gemeinsam sind, alle vor der Reformation gelebt haben, in der Form der Weltentsagung und einer oft bis zum Übermaß und zur Unnatur gesteigerten Askese aufgetreten. Diese asketische Form, diese „heiligmäßige“ Gestalt des äußeren Lebens, geht den Heiligen des Protestantismus, dem es ja auch nicht an solchen hervorragenden Erscheinungen fehlt, ab.| Die Heiligen des Protestantismus sind schlichter, einfacher, dem gewöhnlichen menschlichen Leben näher, weil der Protestantismus seine Anhänger lehrt, ihr Christentum in der Erfüllung des individuellen Berufes zu beweisen. So viel uns aber auch nach unserem Urteil an jenen Heiligengestalten, sonderlich denen des Mittelalters, abstoßend auffällt, so kann man ihnen doch eine gewisse Größe nicht absprechen, und es ist kein unwahres Wort, wenn man gesagt hat, für uns seien nicht nur die Tugenden, sondern auch die Fehler jener Heiligen zu groß. Sie wollen natürlich am Maßstab des göttlichen Worts gemessen und geprüft sein, und in allem, worin sie uns ein gutes Beispiel eines apostolischen Wandels hinterlassen haben, können und sollen wir uns zur Nachfolge ihres Wandels begeistern lassen. Beides, das öffentliche Gedächtnis der Heiligen in der Kirche und die Nachfolge in ihrem Wandel, ist nach Conf. Aug. XXI die rechte evangelische Weise der Heiligenverehrung. Der HErr stiftet ja jenem Weibe, welches ihn in Bethanien salbte, ein mit seinem Evangelium gleich ewiges Gedächtnis in seiner Kirche. Die Stellen Sir. 44–49 und Hebr. 11 haben der Kirche die Idee des Heiligenkalenders gegeben. Luther selbst empfahl die Beschäftigung mit dem Heiligenkalender zum Zwecke der Erbauung und war selbst gewissen Heiligen sehr zugethan, z. B. der heiligen Agnes. Georg Major hat vitae patrum herausgegeben.


§ 72.
Göttliche Direktiven auf dem Gebiet der individuellen Freiheit der christlichen Gemeinschaft (Kirche).
 Die göttliche Lebensführung geht ins einzelne und einzelnste, und es fehlt dabei, wie wir oben gesehen haben, nicht an Normen für die Christen, und auf besondern wichtigen Provinzen dieses Gebiets der individuellen Freiheit hat Gott in seinem Wort auch für bestimmte Weisungen gesorgt und göttliche Ratschläge gegeben; die Ausgestaltung des Lebens im einzelnen ist dem persönlichen Ermessen des Christen überlassen. Ähnlich verhält es sich mit der Kirche. Auch ihr ist ein Spielraum zu freier Entfaltung und individueller Ausgestaltung ihres Wesens gegeben. Aber die Gemeinschaft der Gläubigen, von denen jeweilen die Kirche im allgemeinen und einzelnen gebildet wird, ist dabei nicht völlig autonom; das Wort Gottes enthält für die verschiedenen Gebiete des kirchlichen Lebens (des Kultus, der kirchlichen Zucht, der Verfassung, der Amtsbestellung, der Seelen-,| Armen-, Krankenpflege, der allgemeinen christlichen Sitte) gewisse Grundlagen, an denen festzuhalten ist und die daher als Direktiven für die individuelle Gestaltung des Lebens dienen können und dienen sollen. Man könnte diese Grundlagen eine göttliche Kirchenordnung nennen (Löhe, Neue Aphorismen § 6 u. ff.) im Unterschied von den durch Menschen festgesetzten eigentlichen Kirchenordnungen. Die Kirchenordnung hat den Zweck, das äußere Leben der Kirche zu ordnen, wie die Heilsordnung das innere Leben der einzelnen Glieder und des Ganzen regelt. Von der Einhaltung der letzteren hängt das ewige Heil der Seele ab, von der größeren oder geringeren Vollkommenheit und Güte der Kirchenordnung hängt das Wohlbefinden und die Förderung der Gemeinschaft in ihren äußeren Lebensfunktionen ab. Alles Leben, also auch das äußere Leben der Kirche, hat in sich ein Gesetz, das die Willkür und Regellosigkeit ausschließt. Das ist das Gesetz der inneren Notwendigkeit oder, was dasselbe ist, der Zweckmäßigkeit, und darin liegt das ordnende und gestaltende Prinzip. Die Freiheit kann der Ordnung nicht entbehren.
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 Da die Kirche Heilsanstalt ist und auch ihr äußeres Leben von der größten Bedeutung ist für ihr inneres Leben, da Gott die Kirche selbst geschaffen hat nach ihrer äußeren und inneren Seite, nach Leib und Seele, so hat er auch dafür gesorgt, daß der Vorgang ihrer Organisation von Männern geleitet wurde, welche nicht nur auf dem Gebiet der Heilslehre (Glaubens- und Sittenlehre), sondern auch in ihren der Organisation der Kirche dienenden Anordnungen vom heiligen Geist geleitet waren; sie, die ersten, vornehmsten und erleuchtetsten Glieder, sind auch die weiteren Baumeister und Leiter der Kirche, 1. Kor. 7, 40; 3, 10; 4, 1; denn den Grund der Kirche hat Christus der HErr in der Erwählung der Apostel selber gelegt. Ihre Anordnungen und Einrichtungen erweisen sich als die zweckmäßigsten, so daß man bessere nicht erfinden kann. Ihrer Herkunft nach sind es teils unmittelbare Gebote des HErrn, 1. Kor. 14, 37, teils sind es von den Aposteln aus der ihnen mitgeteilten besonderen Erleuchtung heraus getroffene Verfügungen, wie z. B. die über Einsetzung der Amtsträger. – Richtpunkte für das kirchliche Leben sind auch zu entnehmen dem kirchlichen Handeln der Apostel. Es ist maßgebend, weil es eine besondere göttliche Sanktion für sich hat. Hieher gehört die Einrichtung des Kultus, der kirchlichen Armenpflege. Die Apostel sind Autorität, und die Kirche aller Zeiten hat die apostolischen Ordnungen als verbindend| erachtet und sie befolgt und hat Gehorsam gegen dieselben gefordert.

 Das Verlassen dieser Ordnungen ist nicht in allen Fällen Übertretung direkter göttlicher Gebote, aber wohl in den meisten Fällen eine Versündigung an der Kirche oder eine Beeinträchtigung ihres Wohls; denn nicht ohne Schaden können sie verlassen werden. Es ist eine Thorheit und Anmaßung, wenn eine an Gaben und Weisheit ärmere Zeit über die apostolische Autorität sich erhebt, und eine Impietät gegen Gott und seine Apostel und beider Anordnungen und zugleich gegen die Kirche. Der Wesensbestand der Kirche wird indes nicht in allen Fällen verletzt, wenn solche Ordnungen aufgehoben werden.

 Bei den apostolischen Ordnungen muß man lokale und temporäre Anordnungen von den allgemeinen, für alle Zeiten und Verhältnisse der Kirche passenden, auf gleichbleibende Bedürfnisse gegründeten Ordnungen unterscheiden. Die ersteren werden hinfällig ihrer Natur nach, wenn die lokalen und temporären Umstände aufhören. Solche sind nach Augustana XXVIII, 65 z. B. die Akt. 15, 20 getroffenen: die Forderung der Enthaltung von Götzenopferfleisch, vom Genuß des Erstickten und des Blutes (was im Alten Testament verboten war); 1. Kor. 11, 10: die Forderung der Kopfbedeckung, die das Weib beim Beten haben soll, nach der damaligen Sitte (vgl. v. Hofmann, Die hl. Schrift N. T.s, II. Teil, pag. 232).

 Allgemeine, bleibende apostolische Ordnungen sind:

 a) Die Gottesdienstordnung, aber nur in den vier liturgischen Grundsteinen, Akt. 2, 42, welche die Wesensbestandteile des Hauptgottesdienstes enthalten:

1. die apostolische Lehre (das gelesene und gepredigte Wort),
2. die Gemeinschaft (die Darbringung von Liebesgaben),
3. das Brotbrechen, (Sakrament des Altars) und
4. das Gebet.
 Die Formen der weiteren Ausgestaltung des Gottesdienstes sind freigegeben. Die Kultusformen sind ein Produkt christlicher Freiheit; ihre Norm ist die Heilsordnung, die sie äußerlich abspiegeln. Zu den objektiv gegebenen Gnadenmitteln, Wort und Sakrament, kommt das subjektive, das Gnadenerwerbungsmittel, das Gebet. Sonst kommt zu Ausdruck das Bekenntnis der Sünden und des Glaubens, wie das thatsächliche Bekenntnis der Liebe: die wesentlichen Züge des Christentums.| Der Zweck ist hier die bestimmende Macht, aus ihm erzeugt sich mit innerer Notwendigkeit eine Form des Gottesdienstes, die nichts ist als eine freie Entfaltung der apostolischen Ordnung, die Akt. 2 erscheint als selbstverständliche Weise des gottesdienstlichen Lebens der christlichen Gemeinde.

 b) Die Sonntagsfeier erscheint als christliche Sitte in der apostolischen Zeit. Der Tag des HErrn wird als bestehende Einrichtung erwähnt (Off. 1, 10). Der Sonntag ist nirgends in der Schrift geboten. Die Anschauung, daß der Sabbath von der Kirche in den Sonntag verwandelt sei, ist eine Erfindung, conf. Aug. XXVII, pag. 65, 33. Der Sabbath ist abgethan; 2. Kol. 17, 18. Die christliche Kirche hat den Sonntag frei geordnet. Anders die römische und reformierte Kirche, die in diesem Punkte nicht das volle Verständnis des Evangeliums haben, sondern etwas Gesetzliches. Nichtsdestoweniger ist der Sonntag aber nicht eine willkürliche menschliche Erfindung, die man nach Gefallen auch wieder beseitigen könnte. Er ist vielmehr eine uralte kirchliche Ordnung, die sich einesteils wieder auf eine allgemeine göttliche Ordnung gründet, einen siebenten Tag nach sechs Werktagen zur Ruhe von der leiblichen Arbeit und zur Beschäftigung mit göttlichen Dingen zu haben (das Allgemeine der Sabbathsidee mit Abstreifung alles speziell Jüdischen), teils auf einen unverkennbaren Wink Gottes, der den Sonntag mit den größten Thatsachen des Heils ausgezeichnet hat und ihm offenbar einen Vorzug vor dem Tag der Schöpfungsfeier gegeben hat. Auch das providentielle Walten Gottes über der Feier dieses Tages durch alle Jahrhunderte zeugt dafür, daß er eine dem Willen Gottes entsprechende Ordnung sei auf dem Gebiet der evangelischen Freiheit, welche die letztere nicht beeinträchtigt, sondern sanft und unvermerkt sich ihr anschmiegt. Doch steht der Christ dieser Ordnung freier gegenüber, sintemal ja die Gemeinde in Jerusalem, wenigstens in der ersten Zeit, alle Tage gleich hielt.

 Mit dem richtig verstandenen Sonntag als Gedenktag der größten Heilsthaten Gottes ist auch die Notwendigkeit der christlichen Hauptfeste gegeben: Weihnachten, Karfreitag, Ostern, Himmelfahrt, Pfingsten. Ihre Feier ist ein Produkt der christlichen Freiheit, und wenn sich die Feste in ihrer gegenwärtigen Gestalt auch erst in der nachapostolischen Zeit entwickelt haben, so sind sie doch nichts weiter als eine Entfaltung der Sonntagsidee nach ihrer einen Seite und darum wie der Sonntag göttlich gestiftet, wenn auch nicht durch Wort und Befehl| so doch durch die lauter als beide redenden Thatsachen, und darum ihre Feier eine Gott wohlgefällige Ordnung auf dem Gebiet der individuellen Freiheit. Ihre Bedeutung: ein wiederholtes Mitdurchleben der Heilsgeschichte in der Betrachtung zum Zweck der gläubigen Aneignung des Segens der Heilsthatsachen und zum Zweck des Lobes Gottes für seine Heilswohlthaten, Anlehnung an das Alte Testament und etwas dem Menschen Natürliches.
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 c) Die brüderliche und Gemeinde-Zucht (in Leben und Lehre) ist nicht allein apostolische Ordnung, 1. Kor. 5, 1 ff.; 2. Thess. 3, 6. 14. 15; Tit. 3, 10; 2. Joh. 10, 11, sondern besonders nach der ersteren Seite eine vom HErrn selbst gegebene Ordnung, Matth. 18, 15. Es sind die Grundzüge einer Gemeindeordnung, wodurch die Sorge für die Bekämpfung des Bösen, namentlich der Ärgernisse, jedem Glied der Gemeinde zur Pflicht gemacht wird, unter Umständen die Gemeinde selbst (die organisierte natürlich, die unter der Führung des Pfarrers steht) zum Einschreiten ermächtigt und ihr das Recht und die Vollmacht gegeben, aber auch die Pflicht auferlegt wird, die nicht zu bewältigenden schlimmen Elemente aus der Gemeinde auszustoßen, aber nicht bloß im Interesse der Gemeinde, sondern des sündigenden Bruders selber, der die Macht der Liebe bis zur äußersten Strenge erfahren soll. Auch die Form der Zucht ist diktiert von der Liebe und von der zuwartenden Barmherzigkeit. Es ist bei diesen Worten des HErrn Matth. 18 zweierlei zu unterscheiden. Einmal haben wir den Zuchtbefehl, darin der Grundsatz der Zucht, der Sittenstrenge, der notwendigen Reaktion der Gemeinde gegen die Sünde und der Geist der Zucht, die aus der rettenden Liebe geboren wird und dieselbe bis an die äußerste Grenze der Strenge bewahren muß, ausgesprochen ist; sodann die äußere Ordnung, in der die Zucht ausgeführt werden soll. Das ist ein unwandelbares Gebot des HErrn, auch dem Sittengesetz angehörend, unbedingt gewissensbindend. Welche Gemeinden diesen Grundsatz leugnen würden, die würden ihren christlichen Charakter verlieren und es wäre eine Häresie auf dem sittlichen Gebiet. Die Kirche kann und darf, ohne sich selbst aufzuheben, diesen Grundsatz nicht verleugnen und hat ihn nie verleugnet, wenn auch in der Praxis Laxheit eingerissen ist, welche jedoch nie eine Häresie darstellt, also auch eine Kirchenspaltung nicht rechtfertigt. Darin fehlte der von der Kirche mit Recht verworfene Donatismus und in der Reformationszeit Schwenkfeld, welcher behauptet, daß keine rechte christliche Gemeinde| sei, da kein öffentlicher Ausschluß oder ordentlicher Prozeß des Bannes gehalten werde (Conc. Form. Epitome XII, 560, 26). Schwenkfeld und die Donatisten (wie die Novatianer) machen die Reinheit der Kirche, welche durch Ausschluß der ärgerlichen Elemente erzielt wird, zu einem Wesensmerkmal der Kirche; darin liegt der Irrtum. Der sittlich schlechte Zustand einer Gemeinde macht dieselbe noch nicht des Charakters der rechten Kirche verlustig. Es ist ein schlechter Zustand, der aber den Wesensbestand nicht aufhebt, der ja wechselt und wieder besser werden kann. Luther beklagt den Mangel des Zuchtprozesses und ist ernstlich gewillt, ihn einzuführen, muß sich aber überzeugen, daß er nicht auszuführen ist. Grund: in den Massenkirchen tritt unvermeidlich in dieser Beziehung eine Veränderung ein. Die Gemeindezucht, soweit sie auf dem Mehrheitsbeschluß der Gemeinde ruht, ist unausführbar geworden. Die Zahl der unreifen und Namenchristen ist überwiegend. Die Kirche ist Missions- und Völkerkirche geworden, auch durch Gottes Zulassung. Da kann die Kirche nur den Mangel dieser Zucht beklagen, wie ihn alle treue Lehrer der lutherischen Kirche beseufzt und beklagt haben; cf. Daniel Schneider, Unparteiische Prüfung des Kaspar Schwenkfeld, 1708; Augustin verweist gegen die Donatisten auf Hesekiel 9. Aber sie kann die Zuchtordnung, wie sie in der apostolischen Zeit gehandhabt wurde, nicht wieder herstellen. Genannter Schneider führt auch die Zeugnisse Luthers und anderer Lehrer über die Notwendigkeit der Kirchenzucht an und weist auch nach, daß die Augsburger Konfession und die Apologie die Kirchenzucht ernstlich wollen in der einzig möglichen Weise für die Massenkirchen, nämlich der Abendmahlszucht; conf. Aug. XXV: „nulli admittuntur nisi antea explorati et absoluti“; Apol. XXIV, v. der Messe, p. 248. 259. Das Verhör vertritt die Stelle der Gemeindezucht, noch mehr die Privatbeichte, Art. XI, die auch die Augsburger Konfession nicht fallen lassen will, Art. XXV.
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 An die Stelle der apostolischen Gemeindezucht, die nur in Gemeinden mit freier Bildung und leichterem Zu- und Abgang der Glieder möglich ist, trat in der Staatskirche, namentlich in der mittelalterlichen Zeit im Abendland, das Beichtinstitut, welches die Stelle der Gemeindezucht vertrat, und einen mächtigen Einfluß auf die Massen übte, nur daß der Bann vielfach mißbraucht wurde. Auch jetzt ist in der lutherischen Staatskirche nichts anderes möglich, als durch Zurückweisung vom heiligen Abendmahl Zucht zu üben, weshalb| die Anmeldung unumgänglich nötig ist. Wo es angeht, dient noch mehr die Privatbeichte. In den lutherischen Freikirchen oder Volkskirchen, die frei von dem Einfluß des Staates sind, kann und soll die Ordnung der Zucht nach Christi Worten, der ganze Prozeß des Bannes geübt werden. Das ist einer der größten Vorzüge dieser Kirchengestaltung. Während hier die Ordnung Christi und der Apostel zu ihrem vollen Recht kommt, kommt sie in der Staatskirche nur verkümmert zur Erscheinung. Was dort die Gesamtgemeinde mit ihrem Hirten übt, muß hier der Hirte allein üben, natürlich mit größter Beschwerlichkeit und minderem Erfolg. Es läßt sich aber bei besseren kirchlichen Zuständen auch in der Staatskirche und in einzelnen besseren Gemeinden ein gewisses Maß von Zucht üben oder wenigstens gegen die größten Ärgernisse einschreiten, und das ist die Pflicht des Hirten.

 Das sind die allgemeinen Grundzüge, welche nicht in die Freiheit des einzelnen gestellt sind. Nur das Maß heiligen Ernstes und die Weisheit in der Ausführung und die Art und Weise, wie man es anfängt, ist der individuellen Freiheit anheimgestellt, und hier hat die Ausübung dieser Zuchtordnung, soweit sie von den einzelnen abhängt (für Gesamtzustände ist der einzelne meistens nur in sehr geringem Maß verantwortlich), einen ziemlich großen, freien Spielraum. Auch in den einzelnen christlichen Kreisen und Gemeinschaften kann und soll in gewissem Maße Zucht geübt werden (cf. Löhe, Vorschlag zur Vereinigung etc.). Auch Beispiele üben eine mächtige Wirkung. Der Geist der Zucht und der öffentlichen Sittlichkeit, gleich dem heiligen Gemeingeist, der das sittliche Wohl des Ganzen im Auge hat, ist der Gradmesser des geistlichen Lebens einer Gemeinde oder einer größeren Gemeinschaft. – Die Zucht durch die Gemeinde bleibt immer Ziel und Maßstab, auch wo sie unerreichbar ist. Die Ausübung des Bannes bei vorkommenden Ärgernissen ist unter allen Umständen notwendig, auch wenn man es nicht zu förmlicher und feierlicher Ausschließung aus der Gemeinde bringen kann, sondern wenn sich der Geistliche mit der Zurückstellung vom heiligen Abendmahl begnügen muß. Ohne den rechten Zeugengeist, der den Haß der Welt nicht scheut, und ohne die rechte Weisheit, welche das richtige Verfahren trifft und wohl zu unterscheiden weiß, wo man nachgeben kann und darf, und wo nicht, wird auf diesem Gebiet nicht viel erzielt. Die Übung der Zucht und Pflege des Sinnes dafür liegt in unsern Verhältnissen in der Hand des Geistlichen, unter Umständen ganz allein.

|  d) Das Beichtinstitut ist nicht ein Gebot Gottes, sondern ein Institut, welches die Kirche eingesetzt hat. Die Apologie pag. 166, 65 (vergleiche Augustana XXV. XII) zählt es zu den Menschensatzungen (traditiones) und sagt, sie seien nicht ein Gottesdienst, der nötig zur Seligkeit, doch soll man die Beichte nicht fallen lassen, conf. Aug. XI und XXV und zwar ist hier die Privatbeichte gemeint. Eine andere gab es damals nicht. Die sogenannte „allgemeine Beichte“ ist neueren Ursprungs. Was die Reformation an dem Institut der Beichte beseitigt hat, ist das Römische daran, der Beichtzwang, die Forderung, alle wissentlichen Sünden aufzuzählen und die aufgelegte Genugthuung zu leisten (satisfactio). Das ganze Beichtinstitut, das ältere und das gereinigte in der lutherischen Kirche, ist eine freie Bildung der Kirche, die aber mit einer gewissen inneren Notwendigkeit aus der großen Veränderung hervorgegangen ist, wodurch die Kirche aufhörte, Bruderkirche zu sein (s. u.).
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 Die Symbole weisen aber weiter auf einen göttlichen Grund hin, nämlich auf die privatam absolutionem, die festgehalten werden soll, conf. Aug. XI, und um deretwillen auch die Beichte beibehalten wird, Apol. 6, pag. 185. „Die Absolution ist schlecht der Befehl loszusprechen.“ „Gott hat den Aposteln die Gnadenexekution befohlen, diejenigen loszusprechen, die es begehren etc.“ Es ist also ohne Zweifel die Absolution ein göttliches Institut, Joh. 20, 22: „Nehmet hin den heiligen Geist (der im Amt, speziell im Schlüsselamt, wirksam ist, denn die allgemeine Ausgießung folgt später), welchen ihr die Sünden vergebt etc.“ Es ist den Aposteln und Dienern Christi befohlen, die Bußfertigen, die es begehren, zu absolvieren. Damit ist keinem Christen geboten, sich absolvieren zu lassen; das ist ein freier, offener, fließender Brunn des Heils, zu dem jeder Christ Zutritt hat. Wiederum ist den Dienern Christi auch Macht gegeben, die Sünde zu behalten, was zugleich ihre Pflicht ist. Binden und Lösen, das ist das göttliche Amt, das Christus zum Segen seiner Gemeinde gestiftet hat. Nun kann wohl möglicherweise die Ausschließung auch ohne Beichte geübt werden, aber die Absolution ist ohne Beichte nicht möglich. Daher kann man sagen, indirekt ist die Beichte mitgestiftet als die Voraussetzung der Absolution. Die Absolution ist die verkörperte Rechtfertigung; so, kann man sagen, ist die Beichte die verkörperte Buße. Keine kann ohne die andere bestehen. Ohne Aussprache der Buße kann auch keine Zusprache der Vergebung erfolgen, wenn sie auch nicht notwendig in der gebräuchlichen| kirchlichen Form im Beichtstuhl erfolgt. Man kann sagen, die Absolution ist göttliche Einsetzung und Stiftung; die Beichte ist eine gottgewollte Sache, die notwendige Bedingung des Empfangs, entsprechend der Heilsordnung. Aber die Form und Weise, wie Beichte und Absolution gehalten werden, die Beichte als kirchliches Institut ist eine freie menschliche Bildung. Es ist keine bestimmte Form der Beichte und Absolution göttlich eingesetzt; es ist jede recht, die Privatbeichte und die allgemeine. Es reicht sogar das seelsorgerliche Gespräch hin und kann auch außerhalb des Beichtstuhles absolviert werden. Doch erfüllt die Beichte ihren eigentlichen Zweck nur in der Privatbeichte, welche deshalb neben der allgemeinen eine besondere Pflege verdient, weil der Trost nur in der applicatio auf den einzelnen Menschen und die einzelne Sünde und in der Handlung mit dem einzelnen recht haftet (vgl. übrigens auch Jak. 5, 16).

 e) Die Verfassung der Kirche und deren Leitung. Bei der Verfassung der Kirche hat man zu unterscheiden die Verfassung der Einzelgemeinde und die eines Kirchenkörpers, der entweder durch Abzweigung einzelner Gemeinden von einer Muttergemeinde oder durch Zusammenschluß einzelner selbständigen Gemeinden zu einem Ganzen entstehen kann.

 Die Grundlagen der Verfassung der Einzelgemeinde sind göttlich gegeben, nämlich in der Zweiheit von Amt und Gemeinde, Hirt und Herde, Haushalter und Hausgesinde (Matth. 16, 18; Joh. 21, 15 –17; Luk. 12, 42 etc.), welche nicht bloß bei der Diakonenwahl Akt. 6, sondern auch bei der ersten Missionsaussendung Akt. 13, 1–4 u. 14, 26–27, sowie auch bei der ersten Lehrentscheidung auf dem Apostelkonzil hervortritt, Akt. 15, 22.

 Die Verfassung der Kirche als einer Gesamtheit von Gemeinden ist hingegen eine Sache der christlichen Freiheit, aber es ist nicht gleichgültig für das Wohl der Kirche, welche Verfassung sie hat. Es ist eine Verfassung wie die andere aus einer inneren Notwendigkeit und Folgerichtigkeit der Umstände hervorgegangen, nicht ohne göttliche Zulassung. Man kann sich auch nicht beliebig eine Verfassung machen oder wählen. Aber wo man in dem Fall ist, oder auch sonst um der richtigen Beurteilung willen, muß man wissen, welche Verfassung der Schrift, dem göttlichen Willen am angemessensten, der Kirche am förderlichsten und der evangelischen Anschauung am gemäßesten sei. Man sieht sich billig außer der Erfahrung, welche die Geschichte| an die Hand gibt, auch nach einem göttlichen Wink und einer göttlichen Ordnung um. Man kann im voraus gewiß sein, daß Gott seine Gemeinde nicht ohne eine bestimmte Weisung werde gelassen haben.

 Man kann nicht leugnen, daß die erste Verfassung, welche die Kirche unter den Aposteln hatte, eine Art göttlicher Hierarchie war. Christus setzte seine Apostel, diese ihre Legaten und Bevollmächtigten, diese die Wächter und Hirten ein, in der Muttergemeinde zu Jerusalem haben wir einen Mittelpunkt der einzelnen Gemeinden, in dem Apostel-Kollegium eine entscheidende Autorität für die Gesamtheit, Gal. 2. Diese erste Bildung erlischt mit dem Hingang der Apostel. In der nachapostolischen Kirche sind die Verhältnisse teilweise die gleichen geblieben, aber nicht durchaus: für Jerusalem traten andere Mittelpunkte ein und an Stelle der gottgesetzten überwaltenden Autorität der Apostel tritt ein Produkt der freien geschichtlichen Entwicklung, die Autorität der Bischöfe, d. h. der persönlichen Spitzen der Presbyter-Kollegien. Siehe Anhang zu den schmalkaldischen Artikeln. Diese Bildung eines die Kirche regierenden Episkopats hat sich noch unter den Augen des letzten Apostels vollzogen. Die Engel der Gemeinden in der Offenbarung, c. 1, 20; c. 2, u. 3, sind nichts anderes als die sonst Bischöfe genannten Vorsteher derselben. Die Episkopalverfassung ist somit göttlich anerkannt und sanktioniert und ist die eigentliche Verfassung der Kirche geworden. Sie hat sich in der Verfolgungszeit und später auf das Beste bewährt.

 Im weiteren Verlauf der Entwicklung trat indes eine Mißbildung ein, die Episkopalverfassung entwickelte sich zu derjenigen Gestalt, welche man tadelnd Hierarchie nennt. Diese entstand dadurch, daß aus den Haushaltern Regenten wurden, aus dem Amt ein bevorzugter Stand in der Kirche. In der Hierarchie wird das Amt einseitig betont, so daß der andere Faktor, die Gemeinde, nur als ein Annexum erscheint. Die Hierarchie hält sich gemäß des historischen Zusammenhangs mit den Aposteln als Rechtsnachfolger derselben in ihren Entscheidungen für unfehlbar. Die Kirche gewinnt unter ihr das Aussehen und die Art eines menschlichen Staates. Das Hauptbestreben der Hierarchie ist das Festhalten und die Erweiterung ihres irdischen Besitzstandes; die Hauptsünde in ihren Augen das Zerreißen der Kircheneinheit; die Haupttugend die Unterwerfung unter die Kirchenautorität. Die wichtigste Form der Hierarchie ist das römische Papsttum. Ging in den Anfängen der Hierarchie der Begriff der Kirche auf in dem der Geistlichkeit, so geht im Papsttum der Begriff des Episkopats auf in dem einen „Nachfolger St. Peters“ in Rom.

|  In der Entwicklung der Kirche kommt auch in Betracht das Verhältnis zum Staat. Seit Konstantin ist die Kirche Staatskirche geworden. Die Hierarchie stellt an den Staat die Forderung, daß er ihren Zwecken diene, sei es, daß sie die Unterwerfung des irdischen Gemeinwesens verlangt, wie die römische Kirche thut, sei es, daß sie mit demselben zu einem untrennbaren Ganzen verschmilzt, so daß sie ihre Selbständigkeit dem Staat gegenüber verliert, der Staat aber andrerseits kirchlichen Charakter bekommt.

 Die Reformation hat, soweit sie durchdrang, der Hierarchie ein Ende gemacht, die Selbständigkeit der beiden Gemeinschaften wenigstens theoretisch sichergestellt. Sie vermochte aber nicht die Episkopalverfassung gereinigt in ihr Leben mit herüberzunehmen, weil die Bischöfe im allgemeinen widerstanden. Auch war sie in Gefahr, der Einseitigkeit der Hierarchie eine andere gegenüberzustellen und in der unterschiedslosen Gemeinschaft der Gläubigen die Kirche zu sehen (Luthers Brief an die Böhmen). Im übrigen sind in der Reformation die Grundlagen der alten Kirchenverfassung wieder hergestellt.

 Zum Staat hat die evangelisch-lutherische Kirche verschiedene Beziehung. Die Reformation hat die Staatskirche von der vorreformatorischen Zeit übernommen, ja sie hat bei dem Mangel all einer höheren Autorität den Landesherrn zum summus episcopus gemacht, zu einem Notbischof. Aber seitdem der Staat sich den Übergriff bekenntniswidriger Union verschiedener Kirchen erlaubt hat, gibt es auch vom Staat freie evangelische Kirchen in Deutschland; desgleichen solche durch die Besonderheit der äußeren Verhältnisse in außereuropäischen Ländern, besonders in Nordamerika. Aber auch diese Kirchengemeinschaften haben es nicht zur Wiederherstellung der Episkopalverfassung gebracht, zum Teil schon deswegen nicht, weil in Weiterverfolgung der Gedanken des Briefes an die Böhmen das Schwergewicht bei der Kirchenverfassung in die Gemeinde gelegt wurde (missourische Richtung). Hier wird auch die Beziehung ersichtlich, welche zwischen Gemeindeverfassung und Kirchenverfassung besteht. Alle die freien Kirchenbildungen haben sich für die sogenannte Synodalverfassung entschieden, welche der Episkopalverfassung am nächsten kommt. Das Präsidium derselben, namentlich wenn es eine gewisse Stetigkeit erlangt, nähert sich der bischöflichen Leitung im protestantischen Sinn. Der naturgemäße Zusammenschluß der Gemeinden findet seine Vertreter in ihren Pastoren, welche in ihren Vereinigungen die Synode bilden, die ihr biblisches Vorbild in dem| Apostelkonzil hat, Akt. 15. Es gilt, auf diesem Gebiet die nötige Weitschaft zu behaupten und der Freiheit und der geschichtlichen Entwickelung ihr Recht zu lassen, dabei aber an den göttlich gegebenen Grundlagen der Verfassung unverbrüchlich festzuhalten, sowie die göttlichen Ordnungen und Weisungen, die uns Gott gibt, zu würdigen, und demnach möglichst auf das richtige Ziel hinzusteuern. Gott muß ja freilich das Beste dabei thun und zu einer richtigen und biblisch-evangelischen Form der Verfassung verhelfen.
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 f) Die Prüfung und Ordination der Geistlichen. Daß ein Geistlicher rücksichtlich seiner Befähigung und Würdigkeit geprüft wird, wie es bei jedem bedeutenden und verantwortungsvollen Amt geschieht, liegt in der Natur der Sache. Auch ergibt sich das wohl von selbst, daß ein Geistlicher, eben weil er ein heiliges Amt bekleiden soll, dazu feierlich ordiniert wird. Wiewohl beides an sich höchst zweckmäßig ist und aus innerer Notwendigkeit hervorgeht, so hat es doch auch noch die ausdrückliche göttliche Sanktion durch apostolische Anordnung, 2. Tim. 2, 2: „Das befiehl treuen Männern, die tüchtig sind, andere zu lehren,“ 1. Tim. 5, 22: „Die Hände lege niemand bald auf“ (Ordination). Von den Diakonen siehe Akt. 6, 6 und 1. Tim. 3,10: „Dieselben lasse man zuvor versuchen“ (von der Probezeit). 1. Tim. 3, 1-13 und Tit. 1, 5–9 sind die Erfordernisse zum Beruf der Geistlichen, der Presbyter und Diakonen angegeben, die sich in zwei Punkten zusammenfassen lassen: in die Würdigkeit des Wandels und in die Lehrhaftigkeit. Wenn man will, kann man noch einen dritten Punkt aufzählen: Die Neulingschaft im Christentum muß bei der Wahl vermieden werden. Daher soll jeder junge Diener erst seine Probezeit durchmachen als Hilfsgeistlicher bei einem bewährten Diener des Worts. Es ist nach den apostolischen Kanones nicht gelehrte Bildung durchweg nötig, so wünschenswert sie auch ist und so viel sie hilft zur Lehrhaftigkeit, wiewohl die letztere keineswegs mit der gelehrten Bildung gegeben ist. Aber erzogen und gebildet zum Geistlichen muß jeder werden, der in diesen Stand eintreten will. Nur wäre zu wünschen, daß das Hauptgewicht auf die Punkte gelegt werde, die der Apostel als solche bezeichnet. Die Befähigung zum Lehrer vorausgesetzt, ist die Virtuosität im sittlichen Wandel menschlicherseits das hauptsächliche Förderungsmittel im Amt. Je reicher an Tugenden der Hirte ist, desto lieber nimmt aus seinem Mund das Volk das Evangelium an. „Der Hirten Wandel ist des Volkes Evangelium,“| sagt ein Sprichwort (1. Petr. 5, 3; Tit. 2, 7; 1. Tim. 4, 12; 2. Thess. 3, 9; Phil. 3, 17). Die umwandelnde sittliche Kraft des Evangeliums soll im Hirten zur Erscheinung kommen, damit das Wort Gottes in seinem Munde volle Wahrheit sei, ohne daß an ihn der Anspruch erhoben wird, daß er von dem Orden der Sünder ausgeschlossen sei.

 g) Die Armen- und Krankenpflege. Es ist Pflicht jedes Christen, sich der Armen und Kranken anzunehmen, wie er eben kann und wie es ihm durch die Verhältnisse nahegelegt ist, Röm. 12, 13. Es ist das Feld groß, auf dem diese Liebespflicht zu üben ist. Aber auch hier begegnen wir apostolischen und somit göttlich sanktionierten Ordnungen und Einrichtungen, wodurch besser als durch Privatthätigkeit der Zweck erreicht wird.

 Die eine Einrichtung ist die Diakonie, deren Entstehung wir Akt. 6 lesen und die sich unter der Leitung der Apostel weiter ausgebildet hat, 1. Thess. 4, 9–12; 2. Thess. 3. Das Eigentümliche dieser Einrichtung besteht darin, daß für diese Liebesthätigkeit ein besonderes Amt, Kirchenamt, geschaffen wurde mit männlichen und weiblichen Gliedern, Röm. 16, 1; 1. Tim. 3, 11; 5, 9, daß also die Liebesthätigkeit organisiert erscheint unter Leitung von Geistlichen. Die Diakonie ist eine Fortsetzung des Amtes des größten Diakonus, der dazu in die Welt gekommen ist, nicht daß er sich dienen lasse, sondern daß er diene, Matth. 20, 28. Dies ist der Anstoß zu der großen Liebesthätigkeit gewesen, die die Kirche geübt hat, auch noch, nachdem die eigentliche Diakonie hingefallen war, wie sie sich noch in tausenderlei großartigen Wohlthätigkeitsstiftungen erhalten hat. Daß unsre Zeit die Diakonie nach gewissen Seiten wieder erweckt hat, ist ein gutes Zeichen für die Kraft der thätigen Liebe, die sich in ihr findet. Der Geist der barmherzigen Liebe und ihrer Werke ist in der Kirche nie ausgestorben, aber man kann die Mängel derselben leicht bemerken, wo die göttlich sanktionierte Ordnung der Diakonie fehlt. Darin liegt eine ganz andre Macht und eine ganz andre Gewähr und darum auch ein ganz andrer Erfolg. Man sieht, daß sich die Kirche frei, ohne die Form und Einrichtungen auf dem Gebiet der Barmherzigkeit bewegen kann, aber daß nie etwas Ordentliches daraus wird, wenn es nicht in den Bahnen göttlicher Einrichtungen geht.

 h) Das Gebet der Ältesten am Krankenbett mit der Ölung. Daß das Gebet am Krankenbett geübt wird, ist eine Sache, die sich für den Christen von selbst versteht, auch wohl, daß der Geistliche den| Kranken besucht, ihm zuspricht und mit ihm betet. Es ist aber eine ganz andre Sache, daß wir eine apostolische Aufforderung haben, eine Anordnung, die Ältesten, Pfarrer, wo mehrere sind, rufen zu lassen und das Amtsgebet über den Kranken sprechen zu lassen mit der Verheißung, daß auf das Gebet des Glaubens dem Kranken geholfen wird, Jak. 5, 14. 15. Das hat die Kirche allezeit mit Erfolg geübt. Es ist diese Anordnung als eine besondere Wohlthat, die der HErr seiner Gemeinde gewährt hat, als eine Art Ersatz für die wunderbaren Krankenheilungen des HErrn und seiner Apostel anzusehen, Mark. 6, 13. Wegen des Mißbrauchs, der in der römischen Kirche mit diesem Akt getrieben wird, glaubte die lutherische Kirche (man könnte fragen, mit welchem Recht?) das Öl als etwas Unwesentliches weglassen zu dürfen. Ein Versuch der Wiedereinführung wurde durch Löhe gemacht. Es blieb wegen des großen Aufsehens, das die Sache machte, bei diesem einen Versuch. Es haben sich aber auch viele beifällige Stimmen vernehmen lassen.
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 Alle diese apostolischen Anordnungen sind, mit Ausnahme der besonders bezeichneten, besonders des Zuchtbefehls, keine göttlichen Gebote, weil sie in das Gebiet der Freiheit gehören und mehr oder minder äußere Kirchenordnung sind, nicht dem Gebiet der Heilsordnung angehören. Aber sie regeln die freie Thätigkeit des Menschen auf einem Gebiet, an dem am allermeisten gelegen ist, nämlich in der Kirche. Hier kommt Gott der menschlichen Thätigkeit mit seiner ordnenden Thätigkeit entgegen und gibt ihr feste Normen für ihr Handeln, ohne jedoch dadurch die menschliche Freiheit zu beseitigen. Es gibt doch überall Raum genug für die menschliche Freiheit. Aus dieser Freiheit ist nun entstanden, was man schlechtweg mit Kirchenordnung bezeichnet. Wenn sie auch eine selbstgeschaffene menschliche Ordnung ist, ein Produkt der Freiheit, so hat sie doch etwas Bindendes, nicht bloß weil sie nützlich und förderlich ist, wie die Erfahrung zeigt, sondern weil ein göttliches Element in ihr ist: „Laßt alles ehrlich und ordentlich zugehen,“ 1. Kor. 14, 33. 40; „Gott ist nicht ein Gott der Unordnung.“ Jede menschliche Ordnung hat Gottes Wohlgefallen. Die Kirchenordnung in diesem Sinne ist eine Regel für das gottesdienstliche und gemeindliche Leben der Kirche, die sie sich selber gibt, resp. gegeben hat, und also ein Produkt menschlicher Freiheit, im Gegensatz zum Alten Testament, wo das Ganze der Kirchenordnung ein Teil des göttlichen Gesetzes und gewissensbindend war. Solche Kirchenordnungen| haben wir in den Constitutiones der Apostel, in den Konzilsbeschlüssen, im corpus juris canonici und besonders in den infolge der Reformation entstandenen Kirchenordnungen, als da sind die Braunschweigische, die Brandenburg-Nürnberger Kirchenordnung u. s. w. – Der Beifall und Gehorsam, den man ihnen gibt und den man den kirchlichen Gehorsam nennen könnte, weil er teils von der Kirche in Anspruch genommen, d. h. sich auf sie, auf ihr äußeres Leben bezieht, ist eine Pflicht der Liebe, welche Frieden und Einigkeit der Kirche sucht. Der Gehorsam gegen die apostolischen Ordnungen wird, soweit es nicht Herrengebote sind, von Gott nicht vermittelst Gebotes herbeigeführt, sondern durch die Erfahrung, daß die göttliche Weisheit, welche die Apostel leitete in ihren Einrichtungen unübertrefflich ist, und daß man nichts Besseres thun kann, als sie anzunehmen. Der Gehorsam gegen Gottes Wort und Sakrament ist seligmachend. Eine solche Wirkung hat der Gehorsam gegen die göttlichen Ordnungen, die in das Gebiet der Kirchenordnung fallen, nicht. Sie sind äußere Mittel, die wohlthätig, schützend und fördernd auf das innere geistliche Leben wirken, nicht wie die Heils- und Gnadenmittel, Wort und Sakrament, seligmachend, aber doch auf niedrigerem Gebiete unterstützend, was jene auf höherem wirken. Diese Ordnungen sind nicht Selbstzwecke, sondern Mittel zum Zweck; alle Ordnung ist lebensfördernd, umsomehr die göttlich gegebene Ordnung. Wo Freiheit ist und bleiben soll, da muß Ordnung sein.


§ 73.
Die freien Gemeinschaftsformen.

 Sie sind wie die Askese ausgeprägte Eigentümlichkeiten des kirchlichen und geistlichen Lebens. Wir haben es hier fast durchaus mit geschichtlichen Erscheinungen zu thun und haben über dieselben unser sittliches Urteil festzustellen.

 Diese Gemeinschaften sind freiwillige Zusammenschlüsse zu gemeinsamen Zwecken, die die Förderung des Reiches Gottes im Auge haben und die nur dann segensreich für die Kirche wirken können, wenn sie bei aller freien Bewegung unter kirchlicher Aufsicht und Leitung stehen.

 Der Vereinigungstrieb ist, wie der menschlichen Natur, so der Kirche angeboren; daher hat sie zu allen Zeiten solche Gemeinschaften gebildet. Man muß unterscheiden die antiken Formen, die sich in der römischen Kirche herausgebildet haben, und die modernen Formen,| welche sich in der evangelischen Kirche herausgebildet haben, aber auch von der katholischen Kirche adoptiert worden sind.
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 Die antike Form der Gemeinschaften sind die Orden. Sie sind freie Vereinigungen von Christen zu besonderen Zwecken, aber derart, daß sie nach einer gemeinsamen, kirchlich bestätigten Regel (Haus- und Lebensordnung) für Lebenszeit zusammenwohnen. Der Zweck ist entweder bloß Förderung des eigenen religiösen Lebens (Askese, Leben der Beschaulichkeit) oder die Förderung des religiösen, kirchlichen Lebens bei anderen (Schulen, Krankendienst, wissenschaftliche Beschäftigung, Predigten, Mission, Pflege der Fremden, Armen etc.). Aus diesem Bedürfnis hat sich in der alten Kirche und bis in die neueste Zeit herein eine außerordentliche Mannigfaltigkeit solcher religiöser Orden (religiones), männliche und weibliche, gebildet. Die Vereinigung der alten Einsiedler (Paulus von Theben, Antonius u. a.), welche einzeln für sich und doch in gewisser Gemeinschaft miteinander, zwar ohne Regel, aber als Asketen lebten, sind die Vorgänger des späteren Mönchs- und Klosterlebens. In Ägypten ist der Ursprung dieser Erscheinung zu suchen; hier finden sich auch die ersten Klöster, da sich mehrere Männer zu einer Gemeinschaft vereinigten und nach einer gemeinsamen Regel lebten (Regel des Pachomius; wichtig die spätere des Basilius des Großen). Die Klosterinsassen waren ursprünglich Laien, später aber erhielten sie aus ihrer Mitte eigene Geistliche. Durch Martin von Tours wurde das Mönchstum auch ins Abendland verpflanzt. Die Askese ist die eigentliche Lebensform dieser Gemeinschaften; Ehelosigkeit, gänzliche Armut (Besitzlosigkeit) und unbedingter Gehorsam gegen die Regeln und die Oberen der Gemeinschaft waren die in der Natur der Sache begründeten Bedingungen eines solchen Gemeinschaftslebens, die später durch Benedikt von Nursia 529 zu unverbrüchlichen Gelübden erhoben wurden. – Anfangs nährten sich die Mönche von ihrer Hände Arbeit, später wurden die Klöster reich und üppig. Die bekanntesten Orden sind: Benediktiner, Cluniacenser, Karthäuser, Cistercienser (Bernhardiner), Prämonstratenser, Dominikaner, Franziskaner, Karmeliter, Augustiner, mit verschiedenen weiblichen Parallelorden. Man hat es hier mit Bildungen zu thun, die eine reiche und große Geschichte haben und einen Hauptfaktor im Leben der damaligen Kirche ausmachten, die auch ihre Herrlichkeit gehabt haben. Wenngleich zugegeben werden muß, daß von Anfang an Einseitigkeit und unevangelische Grundsätze sich geltend machten, so haben| sie namentlich in gewissen Beziehungen Außerordentliches geleistet und sind eine Wohlthat der Kirche und ganzen Menschheit gewesen. Man denke nur an den Segen der Klöster unter den wilden Völkerschaften, die zur Zeit der Völkerwanderung ganz Europa und die bisherigen Sitze der Bildung überfluteten. Sie waren da die Bergungsstätten und Ausgangspunkte des Christentums und der Kultur. Aber das Mönchtum hat seine Zeit gehabt. Die greuliche Ausartung desselben am Ende des Mittelalters hat das Gericht über dasselbe gebracht durch das Licht des göttlichen Wortes. Was nachher in der römischen Kirche derartiges erscheint, ist mit Ausnahme der Orden, die sich dem Werke der Barmherzigkeit widmen, wie die barmherzigen Schwestern, ganz im Dienst der römischen Kurie und hat, wie der Jesuitenorden, einen ganz antichristlichen Charakter angenommen.

 In den protestantischen Kirchen treten in neuerer Zeit namentlich die Gesellschaften und Vereine hervor, die sich die Förderung des Reiches Gottes zum Ziele setzen, die Bibel- und Missionsvereine, die Vereine für Verbreitung von christlichen Schriften, die Armen- und Krankenvereine, die Diakonissenvereine, die Arbeiter- und Jünglingsvereine u. a. Diese Vereinigungen entsprechen den Bedürfnissen der Kirche, gehen aus dem Geist derselben hervor. Sie müssen eine gewisse Freiheit und Selbständigkeit haben und dürfen sich der Aufsicht des geistlichen Amtes nicht entziehen und müssen bekenntnistreu sein. Eine bureaukratische Leitung verträgt sich mit solchen Bildungen nicht. Wenn auch die entstandenen Bildungen selbst noch manche Mängel haben, so kann man doch die bedeutenden Leistungen derselben auf dem Gebiet der äußeren und inneren Mission nicht in Abrede stellen. Die Vereine haben ihre Schattenseiten, können zersetzend wirken, wenn sie bekenntnisuntreu sind und das geistliche Amt nicht respektieren. Aber auch abgesehen von diesen Mängeln, die sich vermeiden lassen, ist die Form der Vereine mit einer gewissen Äußerlichkeit behaftet. Die Zugehörigkeit wird meist nur durch die Teilnahme an dem Zweck und durch einen Geldbeitrag bewerkstelligt, ohne daß auf kirchliche und sittliche Haltung der Mitglieder Rücksicht genommen wird, die Zucht hat keine Stätte. Auch die Art, wie die Leitung der Vereine, die oft aus sehr verschiedenartigen Mitgliedern zusammengesetzt sind, aus der Stimmenmehrheit sich heraussetzt, ist eine äußerliche, auch nicht ohne Gefahr, daß eine falsche Richtung die Oberhand gewinnt.

|  Weit sicherer ist es, wenn die Vereine die Gesellschaftsform anstreben, bei welcher von vorneherein der Kern der geeigneten Persönlichkeiten, von denen der Gedanke ausgeht, die Leitung hat, wo es nur gilt, eine genügende Zahl von helfenden Mitgliedern für die Sache zu gewinnen, die sich nicht allein zu dem Zweck, sondern auch zu gleichen Grundsätzen in Lehre und Leben und damit zur Zucht untereinander verbinden. Vgl. die Löhe’schen Gesellschaften und Vereine für innere Mission und Diakonie. Solche Bildungen ahmen in ihrer Bildung und Organisation die Kirche selbst nach. Auf diesem Wege gewinnen die Vereine an Innerlichkeit und Kraft, und „Vorschläge zur Vereinigung für apostolisches Leben,“ wie sie Löhe gemacht hat, dienen, auch wenn sie unter solchen Umständen, wie die unsern sind, nicht ausgeführt werden können, doch als Ideal und Korrektiv des Vereinslebens.
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 Neben den Orden und Vereinen stehen die christlichen Anstalten für verschiedene Zwecke, Lehranstalten, Krankenhäuser, Herbergen, Arbeiterkolonien, Armen-, Waisen- und Rettungshäuser, Seemannsheimstätten, Emigrantenhäuser, Missions-, Diakonen- und Diakonissenanstalten. Sie sind im allgemeinen uralt. Basilius der Große ist der Gründer einer Menge solcher wohlthätiger Anstalten. Sie waren unabhängig von den Orden oder auch die Gründungen der letzteren. Erst in der nachreformatorischen Zeit haben christliche Obrigkeiten wohlthätige Anstalten begründet und unter ihre Leitung bekommen. Ursprünglich waren alle derartigen Anstalten von der Kirche gegründet und unter der Leitung kirchlicher Genossenschaften. Sie sind je und je Zeugnis des lebendigen Glaubens und der eifrigen Bruderliebe gewesen, Blüten des christlichen Lebens. Auf dem Gebiete der lutherischen Kirche beginnen die August Hermann Francke’schen Stiftungen eine neue Zeit. Mit dem wiederbelebten Glauben im 19. Jahrhundert sind die christlichen Anstalten nach Hunderten entstanden; neu sind die Rettungshäuser für verwahrloste Kinder, die Missions- und Diakonissenhäuser (Fliedner in Kaiserswerth 1836 ist Vorgänger in letzterer Beziehung). Diese Anstalten sind meist mit Vereinen verbunden, deren Kernpunkte sie bilden und deren Charakter sie tragen. Sie teilen alle Licht- und Schattenseiten der Vereine. Sollen sie der Kirche wahrhaft dienen, so müssen sie bekenntnistreu sein und das geistliche Amt respektieren. Wenn sie sind, was sie sein sollen, leisten sie der Kirche nicht bloß für den Zweck, dem sie dienen, sondern auch im allgemeinen die besten Dienste. Sie bilden dann Sitz- und Quellpunkte| des geistlichen Lebens, von denen allenthalben Segen und Leben auf die Gemeinde ausgeht. In ihnen allein ist unter unsern Verhältnissen ein wahrhaft geistliches Gemeinschaftsleben möglich. Wohlorganisiert und in sich geschlossen leben sie nach einer Regel und haben die Form einer evangelischen Brüder- und Schwesterschaft anzustreben. Es vollzieht sich hier auf dem Gebiet der individuellen Freiheit, ohne gesetzlichen und gewissensbindenden Zwang und Versprechen, was die Römischen durch Orden zu erreichen suchen.

 Die Formen des geistlichen Gemeinschaftslebens lassen sich in der lutherischen Kirche am ersten und vollständigsten beim Diakonissentum ausbilden. Das Diakonissentum erreicht seinen Zweck nur durch festen inneren Zusammenschluß zu einer geistlichen Körperschaft, einen evangelischen Orden. Wo eine örtliche und stetige Gemeinschaft sich bilden läßt, eine Gemeinschaft, die von einem örtlichen Mittelpunkt ausgeht und ihren Knotenpunkt in demselben hat, da findet sich die Regel von selbst. Die drei alten Ordensgelübde der Ehelosigkeit, Armut, Gehorsam kehren hier wieder, aber in evangelischer Auffassung. Ein für immer bindendes Gelübde nimmt die evangelische Kirche nicht ab. Die Seele des evangelischen Diakonissentums muß die christliche Barmherzigkeit sein, die sich auch die Glieder untereinander erzeigen sollen. Die getroffene Entscheidung für den Diakonissenberuf soll von den Außenstehenden respektiert werden, während andrerseits den Mitgliedern selber der Austritt immer frei stehen muß.

 Was die Missionsanstalten anbelangt, so haben auch sie die Form der geistlichen Brüderschaft anzustreben. Ein Leben gemäß den Grundsätzen der Selbstüberwachung und der brüderlichen Zucht nach Matth. 18 ist die angemessenste Form des Gemeinschaftslebens, das in der Haus- und Lebensordnung seine Regel hat. Je größer die Anzahl der Insassen ist, desto weniger wird sich der Gedanke der geistlichen Bruderschaft realisieren lassen.

 Der Erziehungszweck ist hier maßgebend für alles und Erziehung zu dem Zweck ist absolut notwendig. Wenn irgendwo, so ist hier Einheit des Unterrichts, Bekenntnisses und einheitliche Richtung nötig. Es müssen aber auch hier die drei großen Erziehungsgrundsätze vor allem zur Anwendung kommen und in den Vordergrund treten:

1. die Erziehung für den ehelosen Stand, ohne die freie Wahl für die Zukunft zu beeinträchtigen,|
2. die Erziehung für die Bedürfnislosigkeit und
3. die Erziehung zu einem strikten, aber freiwilligen Gehorsam, dem Kennzeichen wahrer Männlichkeit.

 Was in der römischen Kirche in der Verzerrung erscheint, erscheint hier in seiner evangelischen Wahrheit und Reinheit. Das sind die Wahrheitsmomente im römischen Ordensleben. Ohne daß sie ihre volle Anerkennung und Übung auf dem Gebiet der protestantischen Mission finden, wird nichts wahrhaft Großes in der Mission geleistet werden. Missionare, bei denen der Gedanke an das Weib eher zur Verwirklichung kommt als der des Berufs, bei denen der Komfort des Lebens obenan steht, die keine Leitung als die des eigenen Willens vertragen, sind Zerrbilder von dem, was sie sein sollen. Die Seele aber alles Missionswerkes, ohne die auch nirgends etwas ausgerichtet wird, ist der lebendige Glaube, der am eignen Herzen erfahren worden ist und treibt, auch die desselben teilhaftig zu machen, die ihn noch nicht haben, der Glaube, der die Welt und alle Hindernisse auf dem Wege überwindet. Die Mission braucht Wunderleute, in denen die Kraft Christi mächtig ist. Kenntnisse und wissenschaftliche Bildung sind auch von Wert und unentbehrlich, wenn neue Kirchenbildungen entstehen, aber die Hauptsache ist es nicht.

 Man hat außer der Heidenmission, die in unsrer Zeit mit großem Erfolg und Umfang getrieben wird, und außer der Judenmission, die bei allem Eifer nicht recht gedeihen will, auch eine innere Mission, nicht im mißbräuchlichen Sinn des Worts, wo man die Werke der Diakonie, die Werke der Barmherzigkeit damit bezeichnet, die mehr ein Zeugnis für den christlichen Glauben sind und dadurch missionierend wirken, sondern in dem Sinne, daß eine Sendung von freiwilligen und für ihren Beruf vorgebildeten jungen Leuten über Land und Meer bewerkstelligt ist, um die zerstreuten Glaubensgenossen und Landsleute in fernen Ländern und Weltteilen, die der kirchlichen Pflege entbehren, zu Gemeinden im Sinne der heimischen Kirche zu sammeln und sie zu weiden, unter beständiger Mission an den noch nicht gesammelten Gliedern der Nachbarschaft. Die Emigrantenmission gewährt diesem Werk eine Beihilfe. – Zur eigentlichen innern Mission gehört auch die sogenannte Stadtmission. Auch in unsern Großstädten gibt es viele Zerstreute, von der Kirche Abgekommene, die wieder zu sammeln sind. Übrigens greift Diakonie und innere Mission vielfach ineinander.

|  Die christlichen Anstalten haben in der Kirche je und je eine große Bedeutung gehabt; sie haben sie in unsrer Zeit auch. Es ist schon oben bemerkt, daß sie Blüten und Pflanzstätten christlichen Lebens sind, Zeugnisse der glaubenskräftigen Liebe. Aber es scheint, als könnten sie in der nahen und fernen Zukunft noch eine besondere Bedeutung bekommen, nämlich daß sie beim Verfall der Landeskirche Krystallisationspunkte für neue Kirchenbildungen unter Gottes Leitung werden.


§ 74.
Die individuelle Freiheit auf dem Gebiet der christlichen Volks- und Menschheitsgemeinschaft.

 Wie der einzelne Christ, wie die christliche Kirche und freie Gemeinschaft, so hat auch das christliche Volk, die christliche Menschheit Recht und Macht, auf den ihnen unterstehenden Gebieten ihre individuelle Freiheit geltend zu machen. In welcher Weise? Das zeigt die Geschichte. Was nach dieser Seite geschah, läßt sich auch unter dem Gesichtspunkt des Einflusses des Christentums auf die betreffenden Gebiete darstellen und das soll hier geschehen. (Vergleiche auch den Abschnitt VII b §§ 52–58.)

 a) Der Einfluß des Christentums auf den Staat.

 Die Gesetze, Einrichtungen, Ordnungen des Staats sind schon im alten römischen Reich bedeutend durch das Christentum beeinflußt, die christliche Religion ist ein Faktor des Staatslebens geworden. Ebenso ist es bei den christianisierten germanischen Völkerschaften gewesen und geblieben bis auf den heutigen Tag. Es wird schwer sein, irgend einen Bereich des öffentlichen und rechtlichen Lebens zu finden, wo die Kirche nicht ihre Anschauungen geltend gemacht hat. Recht und Gerechtigkeit und besonders wahre Menschlichkeit ist das Ziel ihrer Bestrebungen gewesen. Es hat die Kirche auch für ihr eigenes Leben Raum im Staate gefunden. Man denke an die Feier der Sonn- und Festtage, an die geschlossenen Zeiten (Advents- und Passionszeit), an die kirchliche Beaufsichtigung und Erziehung in den höheren und niederen Schulen, an die früheren Sühnversuche und Eidesverwarnungen in den Gerichten von seiten der Geistlichen, an die öffentliche gottesdienstliche Feier bei Eröffnung der Reichs- und Landtage, im Heer (öffentlicher Gottesdienst, Fahnenweihe etc.), den Gebrauch der Glocken. Soviel auch fehlte, daß der Staat je ein christlicher geworden wäre, so bekannte er sich doch zum Christentum, gewährte ihm Anerkennung, Schutz, Pflege.| Es ist das charakteristische Zeichen unserer Zeit, daß Volkstum und Staat sich je länger je mehr vom Christentum und dem Einfluß desselben auf seine Verhältnisse lossagt und daß das Volk und der Staat je länger je mehr entchristlicht wird.

 b) Der Einfluß des Christentums auf die häusliche und öffentliche Sitte, auf das Kulturleben der Völker, auf Kunst und Wissenschaft.

 In Bezug auf die Familie hat das Christentum durch die Lehre von der Gleichheit aller Menschen und beider Geschlechter vor Gott die untergeordnete Stellung des Weibes und die Sklaverei, die zwei großen Schäden der außerchristlichen Welt, erfolgreich bekämpft und das Ideal der christlichen Familie der Welt vor Augen gestellt.

 Nachdem so eine Art Grundlage für die christliche Gestaltung der Familie geschaffen war, bildeten sich gute Familiensitten (Hausandachten, Tischgebet, gemeinsames Bibellesen, gemeinsamer Besuch des Gottesdienstes, Gewöhnung der Kinder zum Gebet). Das Christentum hat die rechte Zucht bewirkt, die die Herrschaft über das im weiteren Sinne zur Familie gehörige Gesinde übt; die christliche Herrschaft fühlt sich für das geistliche und leibliche Wohl des Gesindes verantwortlich, was eine humane Behandlung desselben zur Folge hat (Hauptmann zu Kapernaum, Kornelius, Abraham).

 Dem Christentum ist ferner zuzuschreiben eine Milderung der rohen, rauhen Sitten der antiken Welt sowie überhaupt eine humanere Denk- und Handlungsweise (Lazarette, das Rote Kreuz etc.).

 Das Christentum nahm auch die Kunst in seinen Dienst und gab ihr die erhabensten Motive der Darstellung in die Hand. Die Kunst an und für sich gehört dem Schöpfungsgebiet an, gehört zum natürlichen Guten. Die Kirche kann daher nicht den Anspruch erheben, daß alle Darstellung der Kunst zu ihrer Verherrlichung diene. Doch soll die Kunst eines christlichen Volkes nicht wider das Christentum sein. Im übrigen hat sie Freiheit. Im Mittelalter stellte sich die Kunst freiwillig in den Dienst der Kirche und erklomm in der Verherrlichung des neutestamentlichen Hauses Gottes selber in großartigen Schöpfungen den Gipfel hoher Vollendung. Man denke an die erhabenen Dome der mittelalterlichen Baukunst, an die Meisterwerke der Malerei, welche ihre Stoffe wesentlich aus der Bibel wie aus der Kirchen- und Heiligengeschichte nahm. Die Tonkunst hat gleicherweise mit den andren Künsten gewetteifert, das Lob Gottes im Heiligtum zu erhöhen von Ambrosius| und Gregor dem Großen an, besonders aber in der Zeit der Reformation und hernach, in beiden Kirchen (Palestrina, Vittoria, Lotti, Händel, Bach). Auch die Dichtung hat ihre Inspirationen vielfach aus dem Heiligtum entnommen, entweder die Thatsachen der heiligen Geschichte verherrlicht (Heliand) oder Leben und Lehre der Kirche in dichterischer Erhebung dargestellt (Dante) oder das Innenleben des Christen in der heiligen Lyrik zum Ausdruck gebracht, die gleichsam als eine Fortsetzung der Psalmenlitteratur angesehen werden kann (die Lyriker des Mittelalters und das evangelische Kirchenlied).
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 Die Wissenschaft gehört dem natürlichen Guten an und bewegt sich vom Christentum unabhängig, selbständig auf ihrem Gebiet. Aber trotzdem kann man von einer christlichen Wissenschaft reden und die Wissenschaft christlicher Völker soll eine christliche sein, nicht in dem Sinn, daß das Christentum die Wissenschaft beherrschen und ihr die zu findenden Resultate vorschreiben dürfte; das wäre ein Gewaltakt. So that die römische Kirche, als der Papst verbot zu glauben, daß es jenseits des Ozeans eine neue Welt gäbe. Diese Verbote haben die Kirche mit dem Fluch des Lächerlichen behaftet. Aber das Christentum kann, weil der übernatürlichen Welt angehörend, der weltlichen, natürlichen Wissenschaft ihre Grenzen zeigen, welche eben mit den Grenzen des Sichtbaren zusammenfallen. Das Christentum verlangt, daß die Wissenschaft innerhalb ihrer Grenzen bleibe, die Vernunft sich nicht Eingriffe in die Offenbarung erlaube. Wenn ein Philosoph Sätze der Offenbarung als Resultat eigenen Forschens herausgäbe, so wäre das Betrug. Wenn andrerseits ein Geognost fände, daß die geognostischen Untersuchungen mit der Bibel nicht übereinstimmten, und er wollte dies verheimlichen, so wäre dies Falschmünzerei. Der Gegensatz, in welchen sich oftmals die weltliche Wissenschaft zum Christentum stellt, beruht nicht sowohl auf dem, was die Wissenschaft thatsächlich gefunden hat, sondern auf den Schlüssen, die aus dem Gefundenen gezogen werden, die doch erfahrungsmäßig oftmals irreleiten, weil nicht alle in Betracht kommenden Momente bekannt sind – oder auf Hypothesen, die man zur Erklärung der Entstehung der Welt oder der Vorgänge in ihr aufstellt. Hypothesen sind noch keine Wahrheiten. Ein christlicher Forscher wird sich hüten, auf Grund seiner Forschungen Hypothesen aufzustellen, die dem Christentum schaden können; er wird, falls er in gewissenhafter Forschung zu Resultaten gelangt, welche christlichen Sätzen zu widersprechen scheinen, um deswillen sein Christentum nicht| über Bord werfen, dessen Wahrheit ihm aus anderen Gründen thatsächlich feststeht (Kopernikus, Kepler, Newton u. s. w.). Also, das Christentum beherrscht die Wissenschaft nicht insofern, daß es ihr die Resultate ihres Forschens vorschriebe, doch fordert es Bescheidenheit und Ernst, der sich von jeder Frivolität in der Bekämpfung des Christentums freihält. Ein Mißstand ist es schon, wenn die Wissenschaft auch nur in den Dienst der Kirche gestellt wird, da sie dann ihre Einfalt verliert (die katholischen Schriftsteller der Scholastik). Es gehört diese Trennung mit zur Unterscheidung des Geistlichen und Weltlichen und ist eine Konsequenz des Unterschieds zwischen Staat und Kirche. Es verhält sich übrigens nicht so, daß für Befriedigung wissenschaftlichen Triebes lediglich die weltliche Wissenschaft in Betracht käme. Es enthält das Christentum selber einen solchen Gedankenreichtum, daß es je und je Problem des Forschens für die größten Geister gewesen ist (Religionsphilosophie; Theologie).