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persönlichen Freiheit oder von der freien Bewegung und dem Spielraum, den Gott dem Christen (der Kirche) läßt, ohne daß er (resp. die Kirche) jedoch auf dem Gebiet derselben einer Norm und göttlichen Leitung entbehrt. Das ist der Lehrinhalt dieser Abteilung.


§ 61.
Die individuelle Freiheit.

 Unter individueller Freiheit versteht man das Recht des Christen, zwischen verschiedenen Handlungsweisen auf dem Gebiete des Erlaubten, deren keine an sich Sünde sein kann, freie Wahl zu treffen. (Gegensatz: Abhängigkeit von Autoritäten.)

 Hier ist Spielraum für die individuelle Selbstbethätigung des Christen, für die Entfaltung seiner ihm von Gott gegebenen Eigentümlichkeiten, wie sie im Temperament, Alter, in den Gaben, inneren und äußeren Verhältnissen bestehen. Insofern drückt jeder Mensch von irgendwie ausgeprägter Individualität seinem Thun eine besondere Form auf, ein Siegel seiner Persönlichkeit. Das ist mit Ausnahme des Sündlichen, das sich daran hängt, Gottes Wille. Der Mensch muß einen Spielraum haben, wo er seine Persönlichkeit bethätigen kann ohne das Gängelband einer besonderen Vorschrift. Solche freie Bewegung ist nötig zur Bewährung des Menschen, um ihm Mündigkeit zu geben. Diese Freiheit ist Ziel der göttlichen Erziehung und muß es auch bei der menschlichen sein. Sie hilft zur freien Entfaltung des Guten, das Gott in den Menschen gelegt hat, wenn es auch nicht ohne Fehler, Straucheln und Fallen dabei abgeht. Die individuelle Freiheit des Christen ruht auf dem allgemeinen Freiheitsstand desselben.

 Unter der Freiheit, in welcher der Christ steht, versteht man im allgemeinen ein doppeltes:

 1. die evangelische Freiheit von Knechtschaft, Fluch und Strafe des Gesetzes, Freiheit von den äußeren Satzungen des Gesetzes, sonderlich des Zeremonialgesetzes, Gal. 5, 1; Augustana XXVIII Nr. 51–52;

 2. die sittliche Freiheit, nämlich die Kraft und das vom heiligen Geist wiederhergestellte sittliche Vermögen, das vom Gesetz Geforderte ohne Zwang, mit Lust und Liebe zu wollen und zu thun. Röm. 8,2; Jak. 1, 25; Form. Conc. Epit. IV, 5–8.

 Mit beiden hängt die individuelle Freiheit zusammen, mit der evangelischen wie mit der sittlichen Freiheit des Christen, indem jede eine notwendige Voraussetzung der individuellen Freiheit bildet.