Wilhelm Löhes Leben (Band 3)/Streit über die Lehre von Kirche und Amt. Bruch der Missourisynode mit Löhe

« Viertes Kapitel Johannes Deinzer
Wilhelm Löhes Leben (Band 3)
Die Gründung der Iowasynode »
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Streit über die Lehre von Kirche und Amt. Bruch der Missourisynode mit Löhe.


 Keime zu Differenzen zwischen Löhe und den Missouriern, wenn auch zunächst geringfügiger Art, machten sich frühe bemerkbar. Schon die 1846 entworfene Synodalkonstitution der Missourisynode erregte, wie wir sahen, bei Löhe Bedenken „wegen ihrer grundsätzlichen Einmischung demokratischer, independentischer, kongregationalistischer Principien in die Kirchenverfassung.“ Indessen zeigte sich bald, daß die dort hervorgetretene Differenz tiefer, nämlich in einer verschiedenen Anschauung vom heiligen Amt und seiner Stellung zu der Gemeinde, wurzelte. Löhes Anschauungen sind niedergelegt in seinen „Aphorismen über die neutestamentlichen Ämter und ihr Verhältnis zur Gemeinde“ vom Jahre 1849, und in den „neuen Aphorismen“ vom Jahre 1851, welch letztere wohl als seine bedeutendste theologische Leistung bezeichnet werden dürfen. Schon vor dem Jahre 1848 hatte er sein Augenmerk auf die zahlreichen Stellen in der Apostelgeschichte und den neutestamentlichen Briefen gerichtet, welche von dem Organismus und der Verfassung der christlichen Gemeinden handeln. Er staunte über den Reichtum von Belehrung und Weisung, den die zusammenfassende Betrachtung dieser Schriftstellen bot.[1] Die Erfahrungen des Jahres 1848, das die alten| Schläuche zu sprengen und mit allen geschichtlichen Beständen in Staat und Kirche aufzuräumen drohte, mithin auch der Amts- und Verfassungsfrage eine unmittelbar praktische Bedeutung zu verleihen schien, bestärkten Löhe nur in den gewonnenen Überzeugungen. So veröffentlichte er denn seine Aphorismen, die von sog. gnesiolutherischer Seite starkem Widerspruch begegneten, weshalb er teils zur Berichtigung, teils zu tieferer Begründung seiner dortigen Aufstellungen im Jahre 1851 die neuen Aphorismen folgen ließ, bei deren wesentlichen Resultaten er bis an sein Ende beharrte. Sie enthalten sein aus Schrift und Erfahrung ihm zur Lebensüberzeugung gewordenes Zeugnis von Kirche und Amt.

 Wir glauben hier auf eine eingehendere Würdigung beider Schriften verzichten zu dürfen, da der weitere Verlauf unsrer Darstellung ohnehin Veranlassung genug bieten wird, Löhes Überzeugungen im Streit mit den gegnerischen Anschauungen zu Worte kommen zu lassen. Beginnen wir mit der Darlegung der letzteren.

 Die Anschauungen der Synode Missouri von Kirche und Amt sind ihr aus ihrer Geschichte und ihrer synodalen Erfahrung erwachsen. Den Stamm der Missourisynode bildeten die unter M. Stephan im Jahr 1838 nach Amerika ausgewanderten sächsischen Lutheraner. Dieser Mann, einst ein leuchtender Morgenstern in der Kirche Gottes, war innerlich bereits tief gefallen, als er den Entschluß faßte, mit einer Schar seiner ergebensten Anhänger, Geistlichen und Laien, nach Amerika zu gehen, um „in den Vereinigten Staaten ein Asyl für die lutherische Kirche zu suchen.“ Von Natur despotisch angelegt, durch den von seinen blind ergebenen Anhängern mit seiner Person getriebenen Kultus an absolutes Regiment gewöhnt, trug er sich mit den ausschweifendsten hierarchischen Plänen, die er in jenem freien Lande, in welchem der Staat sich nicht um die Kirche bekümmert, am ungestörtesten hoffte verwirklichen zu können. Ein fast römischer Amtsbegriff, den seine Anhänger, Geistliche| wie Laien, mit ihm teilten, diente seinen ungemessenen Ansprüchen als Unterlage. In der Auswanderungsordnung, welcher sich alle Mitglieder der Stephanschen Reisegesellschaft unterwarfen, ist § 2 zu den „Gnadenmitteln“ (!) und zwar an erster Stelle, vor Wort und Sakrament, „das Amt der Versöhnung“ gerechnet. Dem Ehrgeiz Stephans genügte indessen eine aus solchem Amtsbegriff fließende priesterliche Machtstellung noch nicht. Sein Sinn stand nach der bischöflichen Würde. In der That ließ er sich dieselbe noch während der Seereise übertragen und bald nach seiner Ankunft in St. Louis auch die Insignien seines neuen Amtes: Inful, Krummstab, Brustkreuz etc. anfertigen. Ebenfalls noch während der Reise nach St. Louis, auf dem Dampfboot, welches einen Teil der Auswanderergesellschaft den Mississippi hinauftrug, ließ er von allen Erwachsenen, Männern und Frauen, eine Unterwerfungserklärung unterschreiben, welche an knechtischer Demut nichts zu wünschen übrig ließ. Die Unterzeichner gelobten in diesem Schriftstück unter anderm, daß sie „den Anordnungen, Verfügungen und Maßregeln, die Se. Hochwürden treffen würden, in kirchlicher, sowie in kommunlicher Hinsicht sich mit christlicher Willigkeit und Aufrichtigkeit unterwerfen und dieselben nicht als ein lästiges Joch, sondern als Beförderungsmittel ihrer zeitlichen und ewigen Wohlfahrt ansehen wollten.“ Bis zu solchem Grade waren diese Leute von Stephan geknechtet und verzaubert worden. Es läßt sich daher denken, welches Entsetzen alle Gemüter lähmte, als Stephans Heuchelei plötzlich entlarvt und seine schweren Sünden offenbar wurden. Zwar wurde er nun abgesetzt, aber der Unwille der so schwer getäuschten Gemeinde richtete sich, wie leicht begreiflich, auch gegen die in Stephans Gefolge befindlichen, an seinen Sünden jedoch unschuldigen Geistlichen, und diese hatten unter der Last des Mißtrauens und der Schmach, welche auf das von Stephan so sehr geschändete Amt fiel, fürs erste einen schweren Stand. Es gehörte ein ungewöhnlicher| Glaubensmut dazu, in dieser verzweifelten Lage die Losung auszugeben: „Alles ist verloren, nur nicht die gute Sache der lutherischen Kirche,“ (Motto der Schrift von D. Vehse über die Stephansche Auswanderung) und mit den Trümmern des Stephanschen Schiffbruchs den Versuch einer kirchlichen Neubildung zu wagen. Die Spannung zwischen den Geistlichen und den Laien erschwerte ihn nicht wenig. Die ersteren, darunter auch die Gebrüder Walther, glaubten zunächst noch einen Kern der Wahrheit in den Stephanschen Anschauungen von Kirche und Amt erkennen und festhalten zu sollen. Für die dem Worte Gottes und dem Beispiel der alten Kirche gemäße bischöfliche Verfassung schien ihnen auch jetzt noch „viel gesagt werden zu können.“ Die Laien waren aber durch einen aus ihrer Mitte inzwischen aus Luthers u. a. Schriften über die Rechte einer christlichen Gemeinde aufgeklärt worden und begannen dieselben energisch zurückzufordern. Es wurden Sätze aufgestellt wie diese: Die Christen haben alle das Predigtamt von Gott empfangen und die Prediger üben es nur in ihrem Auftrag aus als Amtleute der Gemeinde. Die Gemeinde setzt die Geistlichen ein, unterhält sie und setzt sie auch ab, wenn sie will und es not thut. Die Geistlichen sind „dem höchsten und letzten Gericht“ der Gemeinde ebenso unterworfen wie alle Laien etc. Der ohnehin nur schwächliche Widerstand der Geistlichen gegen diese Amtstheorie wurde bald aufgegeben, und nach dem die Entwicklung der menschlichen Dinge beherrschenden Gesetz der wechselseitigen Ablösung eines Extrems durch das andere war es nicht zu verwundern, daß der bisher von den Sachsen in Missouri behauptete hierarchische Standpunkt in sein Gegenteil, den kirchlichen Demokratismus, umschlug.
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 Zur Begründung der neuen Amtstheorie bot sich die Lehre vom geistlichen Priestertum aller Gläubigen dar. Das geistliche Priestertum wurde als das ruhende Amt, das Amt als das in Funktion gesetzte geistliche Priestertum gefaßt, und die Gemeinde,| und zwar als Ortsgemeinde, als die zur Übertragung des Amtes berechtigte Inhaberin desselben bezeichnet. Die eigentliche Amtsübertragung besteht nach dieser Ansicht in der Wahl und Berufung eines Dieners Christi von seiten der Gemeinde, und die Ordination ist nach ihr nur publica testificatio vocationis,[2] eine Sache „menschlicher Ordnung,“ „eine von den ältesten, christlichen Zeiten her recipierte löbliche und heilsame Generalceremonie,“ die wie die Sonntagsfeier nur „um der Einigkeit und guten Ordnung willen“ beizubehalten ist. Missourischerseits konnte man sich für diese Lehraufstellungen allerdings auf Luthers Autorität berufen, sonderlich auf seine Schrift: „Grund und Ursach aus der heiligen Schrift, daß eine christliche Versammlung oder Gemeine Recht und Macht habe, alle Lehre zu urteilen und Lehrer zu berufen, ein- und abzusetzen“ vom Jahr 1523 und auf die andre Schrift vom gleichen Jahr: „Von Einsetzung und Ordnung der Diener der Kirchen, d. i. der Gemeine. An den ehrsamen und weisen Rat der Stadt Prage des Böhmischen Landes.“ Man übersah dabei nur, daß Luthers Vorschlag ein von der Not geborner (Löhe meinte: fast dürfe man sagen „fehlgeborner“) und für den Notstand berechneter Rat war, wie er denn selbst in der erst angeführten Schrift sagt: „Wenn unsre Bischöfe und Äbte u. s. w. an der Apostel Statt, wie sie sich rühmen, wären, wäre das wohl eine Meinung, daß man sie ließe thun, das Titus, Timotheus, Paulus und Barnabas thäten mit Priester einsetzen etc. – – Nu aber zu unsern Zeiten die Not da ist und kein Bischof nicht ist, der evangelische Prediger verschaffe, gilt hie das Exempel von Tito und Timotheo nichts, sondern man| muß berufen aus der Gemeinde, Gott gebe, er werde von Tito bestätigt oder nicht.“ Wie weit Luther davon entfernt war, in jenem Brief an die Böhmen eine Theorie über die ordnungsmäßige Übertragung des Amtes aufzustellen, geht daraus hervor, daß er sich jenes außerordentliche Recht der Gemeinde (aus ihrer Mitte einen durch Gebet und Handauflegung zum Bischof, d. h. Pastor zu berufen) auf den Ausnahmefall beschränkt denkt, wo es sich um Herstellung eines neuen, auf andere Weise nicht zu gewinnenden geistlichen Ministeriums handelt, während er nach Beseitigung dieses Notstandes Rückkehr zu der alten Ordnung anrät, wonach die von der Gemeinde (extraordinarie) gewählten ministri verbi das Amt andern befehlen sollten, „doch mit Zustimmung der Gemeinde.“ (Quomodo non multo magis jus ac praeceptum habebit tota aliqua universitas, id officii communibus suffragis alieni uni vel pluribus vice sua committere et illi deinceps aliis, accedentibus iisdem suffragiis?) Dazu kommt, daß Luthers eigene Praxis den von ihm in dem Brief an die Böhmen entwickelten Grundsätzen nicht entsprach. Als ihn der päpstliche Legat Vergerius im Jahre 1537 fragte, ob sie (die Protestanten) auch Priester weihten? antwortete er bekanntlich unter Hinweis auf den mitanwesenden Dr. Pomeranus: „Quoniam pontifex et episcopi nobis omnem ordinationem denegant, ipsi mandato divino consecramus et ordinamus.“ Offenbar war es also von seiten Missouris ein Irrtum, aus dem Notrecht vermittelst einer Reihe verstandesmäßiger Konsequenzen eine allgemein gültige Theorie von der Entstehung des geistlichen Amtes ableiten zu wollen.
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 Zu leugnen ist freilich nicht, daß die in dem Brief an die Böhmen ausgesprochene individuelle Anschauung Luthers auch in einige (nicht alle) Stellen der symbolischen Bücher Eingang gefunden hat. So kann man aus dem Tractatus de Pot. et Prim. Papae, namentlich aus dem Abschnitt „von der Bischofen Gewalt| und Jurisdiktion,“ wenn man Tendenz und Zusammenhang des Ganzen außer acht läßt, einzelne Stellen herausgreifen, welche direkt die missourische Theorie von der Entstehung des heiligen Amtes zu bestätigen scheinen. Der Zweck des letztgenannten Abschnitts ist freilich zunächst kein anderer als der Nachweis der Rechtmäßigkeit der Presbyterordination, d. h. der Ordination von Pfarrern durch Pfarrer, im Gegensatz zu der römischen Behauptung, daß nur der Bischof die Priesterweihe gültig erteilen könne. Die ganze Beweisführung zweckt doch offenbar auf den Satz ab: Quum jure divino non sint diversi gradus episcopi et pastoris, manifestum est ordinationem a pastore in sua ecclesia, factam jure divino ratam esse. Es handelt sich also um Rechtfertigung eines Notstandes, der im Grunde keiner war und auch von unsern Vätern gar nicht als solcher, sondern nur als eine durch den Wegfall der bischöflichen Autorität in der evangelischen Kirche nötig gewordene Abweichung von der politia canonica angesehen wurde. Nur um diesen Beweis (für die Rechtmäßigkeit der Presbyterordination), der durch die Geltendmachung der wesentlichen Gleichheit des bischöflichen und des Presbyter-Amtes bereits zur Genüge erbracht war, noch zu verstärken, wird dann auf den wirklichen Notfall rekurriert, wo das Amt und der Dienst des Amtes völlig unerreichbar ist, in welchem Falle denn auch „ein schlechter Laie einen andern absolvieren und sein Pfarrherr werden kann“ (M. p. 341). Nun ist es ja sonst allgemein zugestanden, daß der Notfall seinem eigenen Gesetze gehorcht, und daß die Erlaubnis, welche er gewährt, nicht zu einer Regel verallgemeinert werden darf. Missourischerseits argumentierte man aber umgekehrt: Gerade aus dem Notfall werde das Recht und die ursprüngliche Ordnung klar, denn woher könnte der einzelne das Recht zur Verrichtung geistlicher Funktionen nehmen, wenn er es nicht auch abgesehen von dem Notfall besäße, wenn es nicht schon in dem geistlichen Priestertum des einzelnen Gläubigen| latent vorhanden wäre? Und was hier folgerungsweise erschlossen wurde, das schien mit aller nur wünschenswerten Deutlichkeit in der bekannten Stelle des tractatus ausgesprochen: Vera ecclesia, quae quum sola habeat sacerdotium, certe habet jus eligendi et ordinandi ministros (M. p. 342). Es blieb nur noch der Beweis zu führen übrig, daß an all den einschlägigen Stellen unter ecclesia die gläubige Laiengemeinde mit Ausschluß der Amtsträger gemeint sei. Man machte sich diesen Beweis ziemlich leicht durch Berufung auf die gleichfalls im tractatus sich findende Stelle: „Paulus exaequat ministros et docet ecclesiam esse supra ministros“ (M. p. 330). Man übersah hierbei nur oder wollte nicht sehen, daß der engere Begriff von ecclesia (= gläubige Laiengemeinde, wofür sich sonst, z. B. M. p. 342 N. 70 der Ausdruck populus gebraucht findet) nur da zur Anwendung kommt, wo der ecclesia ausdrücklich die ministri gegenüber gestellt sind, daß aber in allen andern Fällen die letzteren unter den Begriff ecclesia stillschweigend, weil naturgemäß mitbefaßt sind. Aber eben diese willkürlich verengerte Begriffsbestimmung von ecclesia war die Voraussetzung (nach unsrer Überzeugung allerdings das πρῶτον ψεῦδος), mit welcher man missourischerseits an die Auslegung der symbolischen Stellen ging. Unter dieser Voraussetzung stimmten dann Äußerungen, wie die oft angeführte des Tractatus M. p. 333, 24: Claves non ad personam unius certi hominis, sed ad ecclesiam pertinent; Christus tribuit principaliter claves ecclesiae et immediate völlig mit der missourischen Amtsdoktrin überein. Die Wahrnehmung, daß an der zuletzt angeführten Stelle es sich gar nicht um den Gegensatz von Amt und Gemeinde handelt, daß dort vielmehr Petrus resp. sein angeblicher Nachfolger und die Gesamtkirche, die ja doch das Amt, wie die Gnadenmittel in sich trägt, einander gegenübergestellt sind, hätte sich bei vorurteilsloser Betrachtung der symbolischen Stellen auch einem missourischen Auge| nicht entziehen können. Die unmittelbar sich daran anschließende Folgerung: „Daraus folgt nu, daß in solchen Sprüchen nicht allein Petrus, sondern der ganze Haufe der Aposteln gemeint wird,“ sind ja für jeden Sehenden klar. Ihrem Zusammenhang und ihrer nächsten Tendenz entfremdet schienen aber die angeführten Stellen in der That zu beweisen, was sie beweisen sollten. Und missourischerseits begnügte man sich mit dem Beweis aus den Symbolen. Ihr Schriftbeweis war dürftig und schwächlich.
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 Diese missourische Amtstheorie stieß nun aber in Amerika selbst auf einen Gegensatz in der Richtung Grabaus, des Seniors der Buffalosynode. Grabau, ein sehr begabter und kenntnisreicher Mann, war, um den Verfolgungen der Union zu entgehen, mit einer Anzahl konfessionell gesinnter Lutheraner im Jahre 1839 aus Preußen nach Amerika ausgewandert. Buffalo wurde der Mittelpunkt der neuen Niederlassung, und nach ihm hieß der neu entstandene Kirchenkörper die Synode von Buffalo. Die Erfahrungen Grabaus scheinen vielfach entgegengesetzter Art von denjenigen der Sachsen gewesen zu sein. Während die letzteren durch die schreckliche Enttäuschung, die sie an Stephan erlebten, von jedem hierarchischen Gedanken geheilt und einer demokratischen Ausgestaltung der Kirchenverfassung geneigt geworden waren, war Grabau andrerseits im Zusammenhang mit seiner gesamten Lebensführung von der großen Bedeutung des heiligen Amtes für Gemeindebildung und Gemeindeleitung überzeugt worden. Er sah, umgekehrt wie die Missourier, die Hauptgefahr der lutherischen Kirche in Amerika, dem Land „aller christlichen und kirchlichen Freiheit“, in der Versuchung der Gemeinden zum Mißbrauch eben dieser Freiheit. Er betonte daher nicht, wie Missouri, die Rechte der Gemeinde, „der κυρία“, sondern die Rechte des Amtes; er legte den Nachdruck nicht, wie dort geschah, auf die Gerechtsame, sondern auf die Pflichten des geistlichen Priestertums. Greifbar trat der Unterschied beider Anschauungen| hervor in der Lehre von der Ordination, in welcher Grabau nicht, wie Missouri, nur eine löbliche Ceremonie, sondern eine gebotene göttliche Ordnung, ein wesentliches Stück des rite vocatum esse sah, worunter sich ihm electio, vocatio und ordinatio befaßte.
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 Kein Zweifel, daß Grabaus Anschauungen der Strömung des amerikanischen Geistes ebenso zuwiderliefen, als die missourischen sich ihr anschlossen. Nichts konnte für die amerikanische Denkweise, welche auch keine andere politische Autorität kennt, als die durch Mandat des Volkes übertragene, einleuchtender sein als die Lehre, daß das Amt von der Gemeinde in Vollmacht des geistlichen Priestertums übertragen werde. Vielleicht ist die Anziehungskraft der Missourisynode und ihr außerordentliches Wachstum teilweise wenigstens dieser Anpassungsfähigkeit an amerikanische Grundsätze zuzuschreiben, während die Anschauung der Buffalosynode an und für sich schon nicht leichten Kampf gegen die amerikanische Strömung hatte. Dennoch würde Grabaus Richtung, so gewiß in ihr ein Kern der Wahrheit war, auch in Amerika eine Zukunft gehabt haben, wenn nicht Grabau selbst die von ihm vertretene Sache durch hierarchische Anmaßung aufs tiefste geschädigt hätte. Er erhob nämlich auf Grund von Ebr. 13, 17 den ungeheuerlichen Anspruch auf „Treue und Gehorsam der Gemeinde gegen ihren Hirten in allen Dingen, die nicht wider Gottes Wort seien“ – also auch in Angelegenheiten des zeitlichen Lebens. Der maßlose Anspruch erzeugte natürlich nicht selten den Widerspruch der Gemeinden, der von Grabau mit Bannstrahlen und Exkommunikationsdekreten bekämpft wurde, ein tyrannisches Verfahren, welches bald zu einem Zusammenstoß mit der Missourisynode führte. Letztere hatte in mehreren Fällen ehemaligen buffaloischen Gemeinden oder Bruchteilen von Gemeinden, die der Grabauschen Exkommunikation verfallen waren, Aufnahme in ihren Verband und kirchliche Versorgung| gewährt. Dadurch wurde der theologische Gegensatz zwischen beiden Synoden zu einer praktisch-kirchlichen Streitfrage verschärft. Der Streit wurde auf beiden Seiten mit Bitterkeit geführt, und auch in der Nachahmung des scharfen und derben Tones altlutherischer Polemik zeigten beide Teile gleiche Virtuosität.
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 Dies war das Verhältnis beider Synoden, als Löhe den Frieden zwischen ihnen zu vermitteln suchte. Ihm schien dieser Versuch nicht aussichtslos, sofern in der eigentlichen theologischen Streitfrage die Anschauungen der beiden Gegner sich nicht principiell unversöhnlich gegenüber standen. Ein mandatum divinum, eine göttliche Einsetzung des Predigtamts, erkennt ja auch die Missourisynode an. Die Streitfrage beschränkte sich also im Grunde auf den modus der Amtsübertragung, und in der hierüber noch verbleibenden Differenz zwischen beiden Synoden konnte Löhe kein Hindernis gegenseitiger Anerkennung und kirchlicher Gemeinschaft erkennen. Er sah ja, daß in der Lehre vom Amt und von der Ordination zwei nachweislich bis auf Luther und Melanchthon zurückzuführende Strömungen[3] in der lutherischen Kirche nebeneinander hergingen; eine mehr demokratische und eine mehr hierarchische (beide Ausdrücke natürlich ohne übeln Nebenbegriff genommen). Er erbrachte dafür auch den Nachweis in seiner „Beurteilung des kirchlichen Differenzpunktes zwischen P. Grabau und den sächsischen Pastoren| in Missouri.“ Das Resultat, zu dem er kam, war dieses: Die alten Lehrer sind (über die Bedeutung der Ordination) nicht einig, die Symbole haben keine allseitigen, durchweg genügenden Bestimmungen, die Schrift ist in den betreffenden Stellen nicht einmütig aufgefaßt, und die Lehre von der Ordination ist eben eine von denen, über welche man innerhalb der lutherischen Kirche je und je verschiedner Ansicht gewesen ist, auf deren einmütiges Verständnis erst durch Satz und Gegensatz hinzuwirken ist. – Der HErr wird, was auf uns als eine noch nicht abgeschlossene Frage gekommen ist, durch Seinen Geist, der in alle Wahrheit leitet, gnädig lösen.“
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 Die eigene Stellung Löhes zu den strittigen Fragen wird aus seiner Beurteilung der sich bekämpfenden Anschauungen der amerikanischen Brüder klar genug ersichtlich. Selbstverständlich verurteilte er Grabaus hierarchische Anmaßungen und seine ungeistliche Tyrannei auf das entschiedenste. Er weissagte bei Festhaltung solcher Grundsätze „ein traurig Los der mit Grabau verbundenen Gemeinden.[4] Aber hiervon abgesehen teilte er Grabaus Anschauungen von Amt und Ordination. Der Einklang der Überzeugungen in diesem Punkt führte indessen nicht zu einer engeren Verbindung oder zu einer Gemeinschaft des Wirkens zwischen Löhe und Grabau, trotz der Sympathien, welche sich der letztgenannte, als er im Jahre 1853 mit seinem Freunde P. v. Rohr nach Deutschland kam, um bei der lutherischen Kirche der alten Heimat Recht wider die Missourisynode zu suchen, auch im Frankenland erwarb. Und es war gut so. Denn der Standpunkt der Buffalosynode war – wie Löhe bald erkannte – trotz ihrer heftigen Befehdung Missouris mit dem der| letzteren Synode näher verwandt als mit Löhes kirchlichen Anschauungen. Die Buffalo- und die Missourisynode stellten zwei nur in Einzelheiten verschiedene, im übrigen aber auf dem gemeinsamen Boden des sog. Altlutheranertums stehende kirchliche Richtungen dar. Dies zeigte sich, als nach einigen Jahren Löhe mit seinen eschatologischen Anschauungen hervortrat. Das Verdammungsurteil, welches Missouri über Löhes sog. Chiliasmus fällte, war kein schrofferes als das Grabaus und seiner Synode. Indessen dieses Verhältnis zur Buffalosynode, das nie besonders eng gewesen war, sah man auf beiden Seiten ohne viel Betrübnis sich lösen. Viel schmerzlicher war die Aussicht, daß die in der Amtsfrage vorhandene Differenz eine Lösung der innigen und segensreichen Verbindung Löhes mit der Missourisynode herbeiführen könnte, für beide Teile. Beide waren daher anfangs von dem ernsten Wunsch nach einer friedlichen Ausgleichung des Gegensatzes beseelt. Zu diesem Zweck wurde eine lebhafte Korrespondenz über den Ocean herüber und hinüber geführt. Indes erwies es sich bald als unmöglich, auf brieflichem Wege die hervorgetretene Differenz zu heben. Deshalb richtete die Synode von Missouri an Löhe die dringende Einladung, zu persönlicher Anschauung der Verhältnisse und gegenseitiger mündlicher Aussprache auf einige Monate in ihre Mitte zu kommen. Löhe, der damals in schwere kirchliche Kämpfe in der Heimat verwickelt war, mußte die Einladung ablehnen. Da entschloß sich die Synode, ihre beiden hervorragendsten Männer, Walther und Wyneken als Delegaten nach Deutschland zu schicken, um Löhe, „den alten treuesten Freund der lutherischen Kirche Nordamerikas, den beredtesten Fürbitter derselben, wenn nicht vor Gott, so doch bei den Brüdern, in welchem die Missourisynode recht eigentlich ihren geistlichen Vater zu verehren habe“ (Lutheraner 1852, Nr. 13) mit Gottes Hilfe wiederzugewinnen, zugleich aber mit den verschiedenen lutherischen Kreisen Deutschlands innigere Verbindungen anzuknüpfen.
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|  Im Oktober 1851 trafen die beiden Delegaten bei Löhe ein. Es kam zu einem eingehenden Meinungsaustausch. Löhe gab den beiden Abgesandten der Missourisynode zu, daß man durch eine Reihe von Verstandeskonsequenzen, wobei man das allgemeine Priestertum aller Gläubigen zum Ausgangspunkt nehme, leicht zu der missourischen Amtslehre gelangen könne; er verhehlte ihnen aber nicht, daß nach seiner Meinung ihrer Anschauung die Schriftbegründung fehle. Er war erstaunt, aus dem Munde der beiden Delegaten einer Erklärung ihrer Zufriedenheit mit diesem Zugeständnis zu begegnen, da er doch der missourischen Ansicht nur den Wert eines Theologumenons beigemessen zu haben glaubte. In einem kurzen Bericht über diese Zusammenkunft, den Löhe in Nr. 10 der Kirchlichen Mitteilungen vom Jahr 1851 gab, und der nicht bloß die herzlichste Friedensliebe, sondern auch die vertrauensvollste Zuversicht auf die Erhaltung des kirchlichen Friedens zwischen Missouri und ihm atmet, bezeichnet Löhe als die Punkte, in welchen sich hauptsächlich eine Verschiedenheit der Ansichten herausgestellt hatte und in welchen nach seiner Meinung von den Brüdern in Amerika ein Fortschritt zu größerer Vollkommenheit zu erstreben sei, folgende Stücke:
1. Das Verhältnis der unsichtbaren Kirche zur sichtbaren, die Notwendigkeit der Lebensäußerung und Lebensgestaltung der unsichtbaren Kirche in der sichtbaren Welt;
2. Der von Gott gewollte Zusammenhang der Einzelgemeinde mit der ganzen Kirche, die Darstellung der Lehre vom Leib und seinen Gliedern in der pilgernden Kirche;
3. Die Scheidung zwischen Gesetz und apostolischer Ordnung, und die volle Würdigung der letzteren für die Leitung der sichtbaren Kirche;
4. Die rechte Würdigung des Fortschrittes und der Siege der lutherischen Kirche in pietistischen und andern verwandten Streitigkeiten des vorigen Jahrhunderts.
|  Löhe begehrte mit seinen ihm allmählich erst aus der Schrift erwachsenen Anschauungen nicht vorschnell abzuschließen; er gab sich auch der Hoffnung hin, daß Missouri sich gleichfalls für einen schriftgemäßen Fortschritt der Erkenntnis in diesen Fragen offen erhalten werde. In dieser Hoffnung schloß er den Bericht über sein Gespräch mit den beiden Delegaten mit den Worten: „Liebe Brüder, für euch und mit euch gehen wir gern! Uns und euch vereinige Jesus und sein Geist auf ewig.“ Freilich täuschte er sich in dieser Hoffnung. Die missourischen Delegaten erklärten ihm nachmals, daß sie allerdings in der obschwebenden Frage bereits abgeschlossen hätten, in der Überzeugung, daß die Lehre in den betreffenden Punkten bereits durch die Symbole der lutherischen Kirche entschieden sei. Wenn dennoch auch die missourischen Delegaten die Hoffnungen Löhes auf Herstellung eines völligen Einverständnisses teilten, so geschah es in der Erwartung, daß Löhe schließlich ihrer Meinung zufallen werde. Zwei verschiedene Standpunkte begegneten sich hier, der des Traditionsprincips und des Schriftprincips. Von missourischer Seite wurde ersteres scharf in der Forderung formuliert, daß man, ehe man selbst in der Schrift suchen wolle, sich erst kindlich einfältig zu den Füßen der alten lutherischen Lehrer setzen und sie hören müsse, und daß Lutheraner als solche nicht ihre Symbole nach der Schrift, sondern die Schrift nach ihren Symbolen auszulegen hätten.[5] Löhes Standpunkt hingegen spricht sich in einem Brief vom 1. Juli 1853 an Pastor Großmann in folgenden bezeichnenden Stellen aus. Nachdem er anerkannt hat, daß Walthers Lehre diejenige Luthers und der ihm in diesem Stück folgenden Theologen sei, fährt er fort: „Ebenso gewiß aber ist es, daß anerkannt lutherische Theologen und zwar gerade die, welche die Vorkämpfer| der lutherischen Kirche gegen den Pietismus waren, behauptet haben, daß das heilige Amt nicht bloß das geistliche Priestertum in Funktion, sondern innerhalb des geistlichen Priestertums ein besonderer Beruf sei, wie auch der der Obrigkeit etc. Kein Mensch hat sie um der Punkte willen, in denen sie von der lutherischen Meinung abwichen, für untüchtige Glieder der lutherischen Kirche gehalten. Auch haben sie Vorgänger bis hinauf in die reformatorische Zeit. Auf die symbolischen Bücher haben sich beide Teile berufen. Die symbolische Lehre scheint mir nicht fertig. Wäre sie das, so begriffe ich nicht, wie man von beiden Seiten sich auf sie berufen könnte. Übrigens fragt es sich nicht, was Luther, die Theologen und die Symbole sagen, sondern was sagt die Schrift? Aus ihr stammen meine, und nicht bloß meine Zweifel an der individuell lutherischen Lehre. Bei mir ist es so, daß ich erst die Lehrer hörte, dann die Schrift. Die Schrift aber hat mich bedenklich gemacht.“ Ähnlich hat sich Löhe, ziemlich gleichzeitig mit jenem Brief, in einem Aufsatz Nr. 7 der Kirchlichen Mitteilungen vom Jahr 1853 ausgesprochen. Auch hier sieht er die Erfahrungen der lutherischen Kirche im pietistischen Streit für geeignet an, als Korrektiv gegen die individuelle lutherische Amtslehre zu dienen. „Mir scheint es unwidersprechlich, sagt er hier, daß die pietistischen Streitigkeiten namentlich für die Lehre vom geistlichen Priestertum und deswegen auch für die Lehre vom Amt höchst bedeutend sind, sowie es unleugbar ist, daß gerade die Vertreter der eigentlich lutherisch kirchlichen Richtung in jenem Streite nicht die individuell lutherische Ansicht vertraten. Mir scheint es, als wären die Vorgänge des vorigen Jahrhunderts gar noch kaum gewürdigt und als wären sie für die Lehre vom geistlichen Priestertum und dem neutestamentlichen Amte von einem Gewichte, welches das der ältesten Theologen aufwiegen könnte. Ich will damit nichts anderes sagen, als daß man ein Lutheraner sein kann, auch wenn man nicht die Ansichten vom Amte| teilt, welche unsere amerikanischen Freunde haben. Vollkommene Einigkeit hierin war in der lutherischen Kirche nie vorhanden. Die Kirche als solche war in der Sache nicht so fertig, daß man die widerstrebende Partei verworfen hätte. Wahrscheinlich würde man längst aus der Ungewißheit und zu einer völligen Einigkeit gekommen sein, wenn man wie die Brüder in Nordamerika im Falle gewesen wäre, neue Kirchenbildungen vorzunehmen. Der Staat nahm aber bei uns die Kirche unter seine Vormundschaft und bei der Ausbildung von Landeskirchen war den Pfarrern und Theologen so ziemlich alle Mühe erspart, die praktischen Konsequenzen aus den verschiedenen Ansichten zu ziehen.

 Unsere amerikanischen Brüder freilich versichern, die Kirche ist fertig, weil sie fertig sind, und allem, was sie in ihrer Meinung irre machen könnte, mit der Autorität Luthers und einiger (wenn das nicht schon zuviel gesagt ist) symbolischer Sätze dominierend entgegentreten. Die exegetische Begründung seiner Ansichten ist bei Walther wie auch bei Höfling und auch bei unsern Vätern das geringste. Ich will nicht fertiger sein als es möglich ist. Ich glaube an eine Entwicklung der lutherischen Kirche. Ich denke, gerade die Lehre von Amt und Kirche wird mächtig einwirken, und was die Reformation gewonnen und errungen, was Gott der rechten schriftgemäßen Treue ferner schenken wird, das wird dann mächtig auch in die Praxis gehen. Nichts von allem, was die Reformation gewonnen, soll aufgegeben werden; aber es kann wohl auch noch manch andere Lehre, für die unsere Väter nur eine mehr polemische und apologetische Fassung hinterließen, völliger und herrlicher ausgebildet werden.“




 Noch einige Male kam es zwischen Löhe und den beiden Abgesandten der Missourisynode zu einer Besprechung. Im ganzen| war jedoch der beiderseitige Verkehr nicht sehr lebhaft. Walther und Wyneken brachten den größten Teil ihrer Zeit in Erlangen zu, wo sie ihrer Richtung verwandteren Anschauungen begegneten, wiewohl sie in der Lehre vom Amte auch mit den dortigen Professoren, die fast alle der Anschauung Höflings beipflichteten, sich nicht einigen konnten.[6] Dort in Erlangen stellte Walther eine ihm von seiner Synode übertragene Arbeit, eine Sammlung von Zeugnissen der alten Lehrer der lutherischen Kirche für die missourische Anschauung von Kirche und Amt fertig, „die Hauptfrucht seiner Anwesenheit in Deutschland,“ wie Löhe sagte. Die kühle Zurückhaltung der beiden Delegaten während ihres längeren Aufenthalts in Erlangen, dem Lager der damaligen „befreundeten Gegner“ Löhes, berührte diesen wehethuend. Um so höher rechnete er es ihnen an, daß sie in dem damals eben auf seinem Höhepunkt angelangten bayrischen Kirchenkampf mannhaft auf seine Seite traten und ihre völlige Übereinstimmung mit seinen konfessionellen Grundsätzen und seinem Dringen auf ungemischte Abendmahlsgemeinschaft öffentlich bezeugten, ja lieber auf eine von dem bayrischen Kirchenregiment ihnen in ziemlich sichere Aussicht gestellte Kirchenkollekte verzichten, als sich einer Versäumnis der christlichen Bekenntnispflicht schuldig machen wollten, (s. Bd. II, 2, S. 394 f.)
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 Löhe nannte dies entschiedene Bekenntnis der amerikanischen Brüder zu einer damals fast von allen Seiten übel verschrieenen Sache „den Glanzpunkt in ihrem gesamten Verhalten während ihres Aufenthalts in Deutschland.“ In welchem Maße übrigens der eigentliche Zweck ihrer Reise den Abgesandten Missouris erreicht| schien, mag aus einem Briefe entnommen werden, welchen Walther vor seiner Abreise von Lesum aus an Löhe richtete. „Ich kann und muß Ihnen bekennen,“ sagt er da, „daß die unseligen Vorurteile, mit welchen ich noch Ihr Haus betrat, bei mir gänzlich geschwunden sind, daß ich ein herzliches Vertrauen zu Ihrer lauteren Treue gegen unsere geliebte lutherische Kirche und die lebendigste Überzeugung von der Einigkeit im Geist mit hinwegnehme....... Mein heißester Wunsch ist nun, daß, wo es möglich wäre, auch noch die, wenn auch nicht bedeutenden Differenzen in der Entwicklung der Lehre, welche etwa noch vorhanden sind, sich durch Gottes Gnade ausgleichen, und so das nicht möglich ist, dieselbigen doch nie die Einigkeit im Geiste, welche Gottes heiliger Geist gewirkt hat, stören noch einen Anlaß dazu geben mögen, daß das gemeinsame Treiben des Werkes des HErrn irgendwie gehindert werden könne. Doch ich habe ja gesehen, welch köstliches Gut Ihnen der Friede der Kirche ist, und wie sehr Ihnen gerade das Gedeihen unserer Kirche, die zumeist eine Pflanze Ihrer treuen Hände ist, am Herzen liegt; daher darf ich Sie nicht erst darum bitten, alles zu thun, was Ihnen Ihr Gewissen nur gestattet, damit unsere verwaiste Kirche in Amerika sich fort und fort der innigsten Gemeinschaft gerade mit Ihnen vor aller Welt rühmen könne.“ – Und auch noch geraume Zeit nach seiner Rückkehr äußerte sich Walther im „Lutheraner“ (1852, Nr. 20) über den Erfolg seiner Verhandlungen mit Löhe in hoffnungsvoller Weise folgendermaßen: Wir können es freilich nicht verhehlen, daß die mündlichen Verhandlungen keine in allen einzelnen Lehrpunkten völlige Einhelligkeit zu ihrem Ergebnisse hatten. Insonderheit stellte es sich heraus, daß zwischen uns eine für jetzt nicht zu hebende Differenz in betreff der Lehre von der Ordination stattfinde. Während wir nämlich festhielten, daß die Ordination im engeren Sinne nicht göttlicher Einsetzung und eine, wenn auch noch so ehrwürdige und heilsame, doch| nur apostolische kirchliche Ordnung zu öffentlicher feierlicher Bestätigung der Vokation mit Gebet und Handauflegung sei; so erklärte hingegen Herr Pastor Löhe, die Überzeugung nicht aufgeben zu können, daß die Ordination eine göttliche Ordnung und mehr, als eine bloße Bestätigung des erhaltenen Berufes zum Predigtamte sei. Da aber wir auf unsrer Seite Herrn Pastor Löhe bezeugen konnten, wie hoch und heilig uns dennoch die Handlung der Ordination stehe... und da wir natürlich auch dies gern zugestanden, daß das zur Ordinationshandlung gehörige Gebet, so es im Glauben und gegründet auf die dem heiligen Predigtamte gegebenen besonderen herrlichen Verheißungen zu Gott gesendet wird, gewiß nicht unerhört bleibe, sondern ohne Zweifel mit der Ausgießung der nötigen Amtsgaben etc. gekrönt werde; – da hingegen ferner Herr Pastor Löhe auf seiner Seite als seine Überzeugung aussprach, daß alle Rechte und Herrlichkeiten, welche Christus erworben, ursprünglich nicht einem Stande, sondern der Gemeinde der Gläubigen und Heiligen gehöre; – da endlich, wie wir es Herrn Pastor Löhe zugestehen mußten, daß einzelne Theologen innerhalb unserer Kirche und insonderheit einige Kirchenordnungen mit ihm über die Ordination gleiche Rede führten, so Herr Pastor Löhe es uns zugestand, daß gerade die ausgezeichnetsten lutherischen Dogmatiker auf unsrer Seite stehen und den von uns vertretenen Lehrtypus in dem genannten Punkte aufgestellt haben; so konnte es nicht fehlen, die noch vorhandene Differenz durften und konnten wir beiderseits für kein Hindernis ansehen, daß wir uns nicht trotz derselben die Bruderhand reichen und noch ferner gemeinschaftlich das Werk des HErrn treiben sollten.... Sind wir (also) auch, was die streitigen Lehrpunkte betrifft, mit Herrn Pastor Löhe nicht bis auf jeden Ausdruck zum Abschluß gekommen, so können wir doch mit fröhlicher Zuversicht die l. Leser jetzt schon versichern, daß eine Einigung in der Wahrheit und in der Liebe durch Gottes Gnade erzielt worden ist“| (freilich – wie es unmittelbar darauf heißt – noch keine „bis in die letzten Fasern der Lehrentwicklung gehende Einigkeit“).




 Indes die beiderseitigen Hoffnungen gingen nicht in Erfüllung. Die Missourier täuschten sich in der Erwartung, daß Löhe ihrer Meinung mit der Zeit beifallen werde, und Löhe irrte, indem er den Missouriern Freiheit des Geistes genug zutraute, um in einer kirchlich noch nicht abgeschlossenen Frage neben ihrer Anschauung einer abweichenden Raum zu lassen.[7] Die räumliche Entfernung schien auch die Gemüter wieder einander mehr zu entfremden. Löhe nahm Missouri gegenüber eine reserviertere Haltung ein, welche auf missourischer Seite Mißtrauen erweckte und zu allerlei Mißverständnissen Anlaß gab. Bei der Anwesenheit der missourischen Delegaten war auch der Plan zur Errichtung eines Schullehrerseminars besprochen worden, zu welchem Löhe die Mittel aufbringen zu wollen versprach. Das Seminar sollte der Synode von Missouri dienen, die Leitung desselben wollte sich jedoch Löhe so lange vorbehalten, bis das Seminar eine völlige Dotation und eine feste Einrichtung und Gestalt gewonnen hätte. Löhe hatte zu diesem Vorbehalt seine besonderen Gründe. Einmal glaubte er, durch ein gewisses Maß von selbständigem Auftreten gegenüber der Missourisynode einen tatsächlichen Protest gegen ihre zur Trennung treibende| Überschätzung der vorhandenen theologischen Differenz einlegen zu müssen, andrerseits wollte er sich mit der Abtretung des Schullehrerseminars an die Missourisynode aus dem Grunde nicht beeilen, weil er bei der Übergabe des Seminars Fort Wayne und der Missionsstation Frankenmut die Erfahrung gemacht hatte, daß er durch Cession seiner Rechte für seine eigenen Stiftungen gleichsam aufhörte zu existieren, und ihm außer dem Recht sie auch noch ferner mit Geld zu unterstützen, kein Einfluß mehr auf dieselben gestattet wurde. Demnach sollte das Seminar zwar in Kirchengemeinschaft, aber zunächst wenigstens nicht unter dem Kirchenregiment der Synode Missouri stehen. Den Lehrern, wie den Schülern der Anstalt war von Löhe eine rein defensive Stellung vorgeschrieben und eine friedliche Haltung zur Pflicht gemacht. Diese Stellung des Seminars in Mitte der fränkischen Kolonien erschien jedoch der Missourisynode unerträglich und wurde von ihr als ein Eingriff in ihr Kirchenregiment, als ein Versuch, ein Schisma anzurichten, bezeichnet. Es wurde der Satz aufgestellt, daß in einem Territorium, in welchem bereits ein rechtgläubiges Kirchenregiment bestehe, kein anderes Regiment neben dasselbe gestellt werden dürfe. So wurden die territorialen Grundsätze deutscher Kirchenrechtslehrer auf die freien amerikanischen Verhältnisse angewendet. Ja der Leiter des Seminars wurde für den Fall, daß er den Unterricht in demselben nicht einstellen wolle, von seinem Ortspastor mit Kirchenzucht bedroht.
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 Auch andere Forderungen und Maßnahmen Löhes, die unter anderen Umständen wohl harmloser betrachtet worden wären, wurden bei der jetzigen Spannung der Gemüter von missourischer Seite mit argwöhnischem Auge angesehen. Löhe war mit den beiden missourischen Delegaten übereingekommen, daß im Interesse des von ihm geleiteten Kolonisationswerkes keine Versetzung der Geistlichen oder sonstige wichtige Veränderungen in den fränkischen Kolonien| vorgenommen werden sollten ohne sein Mitwissen und seine Billigung. Dieses Begehren wurde nun für unzulässig erklärt. Ebenso ein anderer Plan Löhes, der dahin ging, das Kolonisationskapital mit dem Kirchengut von Frankenhilf zu vereinigen und daraus ein Hilfskapital für einwandernde Franken und deren Abkömmlinge zu gründen. Um auf diese Stiftung den nötigen Einfluß zu behalten, hielt es Löhe für nötig, über die durch ihn gegründete, überdies noch nicht zur Missourisynode gehörige Gemeinde Frankenhilf eine Art Patronatsverhältnis, sowie ein Aufsichtsrecht über das Stiftungsvermögen und dessen Verwendung in Anspruch zu nehmen. Diese Stellung zu den deutschen Freunden wurde jedoch der Frankenhilfer Gemeinde von Leitern der Missourisynode als ein „knechtisches Abhängigkeitsverhältnis,“ als eine Rückkehr unter eine „schmähliche Priesterherrschaft“ verdächtigt.

 Ein weiterer Grund der Entfremdung zwischen Löhe und der Missourisynode war schließlich der Umstand, daß Löhe in dem zwischen Missouri und Grabau ausgebrochenen Streit nicht einfach die Partei der ersteren ergriff. Seine Stellung in diesem Streit war, wie er einmal schreibt, die der Mißbilligung des ganzen Streits. Er fand Grabaus und Rohrs Tyrannei unleidlich, aber auch die Art und Weise der missourischen Polemik höchst unerfreulich. „Ich werde,“ schrieb er am 31. März 1853, „mich durch nichts abwendig machen lassen, zu lieben und durch nichts treiben lassen, die gegenwärtigen Verhältnisse zu billigen. Amerika ist groß genug für eine dritte Partei, die das Wahre von beiden Teilen sucht und hält, beiderseitiges Unrecht verwirft und mehr bauend als streitend, mehr hoffend als habend, ihre Bahn vorwärts geht.

 Ich stelle mich friedlich dahin und wirke, weil es Tag heißt, und denke, die Friedfertigen werden das Erdreich ererben. Ich bete, daß die Synode Missouri, jetzt gehoben und stark, nicht auf der eigenen Spitze, zu der sie es treibt, bricht.“

|  Eine solche friedliche Mittelstellung zwischen den streitenden Parteien, wie sie Löhe für sich und für das Schullehrerseminar einzunehmen begehrte, schien jedoch bei der Heftigkeit, mit welcher zwischen Missouri und Buffalo der Streit geführt wurde, der Synode Missouri unhaltbar, ja unerträglich. Sie spitzte ihre Forderungen zu einem Entweder–Oder zu. Das Schmerzlichste war für Löhe wahrzunehmen, wie auch die fränkischen Kolonisten, großenteils seine ehemaligen geistlichen Kinder gegen ihn eingenommen und mit Mißtrauen erfüllt wurden.[8] Bei der Öffentlichkeit, mit welcher in freien Gemeinden Streitfragen, welche anderwärts nur Theologen interessieren, auch vor Gemeindegliedern verhandelt werden, konnte es nicht ausbleiben, daß der Streit über Kirche und Amt auch in die fränkischen Gemeinden geworfen und dieselben gegen ihren Stifter dadurch in eine unziemliche Opposition hineingetrieben wurden. „Du glaubst,“ schrieb ein Frankenluster Kolonist an einen Freund in der Heimat, „daß Löhe nicht zu weit geht, und ich versichere dir, daß er zu weit gegangen ist und sich zu tief in die römischen Agenden vertieft hat... Wenn ich es nicht so ganz bestimmt wüßte, daß Grabau und seine Freunde in Deutschland irren, ja recht greulich irren, so hätte es mir wehe gethan, daß du geschrieben hast: Wir sind von der Lehre des HErrn und seiner Apostel gewichen. Nein, lieber Bruder, nicht gewichen sind wir, sondern mehr zur Klarheit dieser Lehre sind wir gekommen. Die Frage von Kirche und Amt ist nicht so gering, als sie draußen bei vielen Pfarrern angesehen wird. Ich glaube, weil man von jeher auf diese Frage so wenig geachtet hat, darum ist die Kirche in Deutschland ein so wüstes Babel geworden. Davon kommt es, daß Pfarrer immer| lieber Menschenknechte, Staatsbeamte, Kommandierer der Gemeinde sein wollen, als Diener Jesu Christi und Hirten der Gemeinde. Und wenn man den Unsinn im Ordinieren und Amtvergeben ansieht, so muß man sich verwundern über die Thorheiten, daß sie Ämter ausgeben, wo der heilige Geist keines hat..... Den hochmütigen Geistern[9] gefällt so ein römisches Pfaffentum besser, und treten dadurch das heilige Amt mit Füßen, nehmen es aus Menschenhand und nach Menschenwitz. Daß auch die von Löhe ausgegangenen wie D. und G. rechte Amtsschänder sind, ist gewiß.... Ich sag dir, l. Bruder, wenn Herr Pfarrer Löhe keine besseren Leute herüberschickt, dann steht es viel schlechter als mit der Baseler Mission. Diese sagen doch gleich, daß sie kein Bekenntnis haben, und so kann sich jeder Rechtschaffne vor ihnen hüten. Diese aber geben vor, sie sind lutherisch, haben jedoch keinen Grund, verwirren die Wahrheit und die Gewissen. Aber zur Überzeugung können sie keinem helfen; denn sie selber sind nicht überzeugt und wollen dem teuren Worte Gottes nicht allein die Ehre geben.“ Es mag an dieser einen Probe von Parteifanatismus genug sein. Man sieht: die missourische Belehrung hatte in den fränkischen Gemeinden ihre Früchte getragen.
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 Daß unter solchen Umständen ein nachbarlich friedliches Verhältnis des Seminars zur Missourisynode und zu den missourisch gewordenen fränkischen Gemeinden unmöglich war, lag auf der Hand. Von missourischer Seite wurde die Trennung als der einzige Ausweg bezeichnet. Der damalige Präses der Missourisynode, Wyneken, schrieb am 8. August 1853 deshalb einen langen Brief an Löhe, in welchem er nach eingehender Erörterung und Beleuchtung der Sachlage vom missourischen Standpunkt aus zu dem Schlußergebnis kam, daß eine Verlegung des Seminars aus dem| Kreise der fränkischen Kolonien im Interesse der Ruhe und des Friedens dieser Gemeinden dringend geboten sei. „Das Seminar, schreibt er, wird, statt ein Zeugnis und Nährerin der zwischen uns bestehenden Einigkeit zu sein, nur als ein Zeugnis und Pflegerin des Mißtrauens dastehen, das man in Deutschland gegen uns hegt, und der Uneinigkeit, welche zwischen uns bestehen muß. Warum sollten Sie wünschen, die Kontrole über Ihre Stiftungen zu behalten und sie dadurch selbst in eine unnatürliche Stellung gegen die Synode zu bringen, wenn Sie dieselbe nicht bemißtrauten? Woher immer die Klagen, daß wir uns je länger, je mehr selbständiger bewegen und unabhängig von den Brüdern handeln, da ja doch die Kirche ein solches Verhältnis, wie zwischen Mutterland und Kolonien meistens zum Verderben beider stattfindet, nicht kennt, und andrerseits ja die Entfernung und die gänzliche Verschiedenheit der äußeren und inneren Verhältnisse es unmöglich macht, den Rat der Brüder immer einzuholen oder danach zu handeln. Woher diese oft zu Tage liegende Empfindlichkeit? So schwer mir es wird, weil ich voraussehe, wie sehr Sie dadurch werden verletzt werden, so muß ich Sie doch um des Friedens der Kirche willen bitten, das Seminar von Saginaw wegzunehmen, da es nicht ein Seminar der Synode sein soll, sondern ein von der Synode unabhängiges, ja nach den darin aufgestellten Grundsätzen ein derselben entgegenstehendes und damit entgegenwirkendes. Ich zweifle nicht daran, daß Sie diese Bitte erfüllen werden. Denn wenn Sie auch gehindert sein sollten, mit Freudigkeit in Gemeinschaft mit uns zu bauen, so werden Sie es doch noch weniger übers Herz bringen können, gegen uns zu arbeiten. Das Seminar in seiner Stellung muß es thun auch gegen Ihren Willen.“ – Schon während seiner Anwesenheit als Visitator in den fränkischen Kolonien hatte Wyneken im Eifer des Gesprächs das Wort fallen lassen: „Geht nach Iowa, dort haben wir noch keine Gemeinden.“ Dies Wort| wurde für Löhe und seine letzten Sendlinge das Signal zum Aufbruch. „Es schien,“ schreibt Löhe (Kirchliche Mitteilungen 1853, Nr. 12) „uns offenbar, daß man die Art Wirksamkeit, die wir allein üben konnten, nicht mehr wolle, eine andere hatten wir nicht zu gewähren, und so beschlossen wir denn weiter zu ziehen. Wir waren zu lange in Saginaw-Co. geblieben, wir hatten vergessen, daß wir als Missionsgesellschaft Hülfe zu bieten, neue Bahnen zu brechen, aber nicht in die Gestaltung und Formung des neuen Lebens einzugreifen hatten. Wir glaubten uns von Gott an unsere eigentlichen und ursprünglichen Absichten gemahnt und willigten darum ein, daß Großmann abzöge.“
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 Bereits einige Tage vorher, am 4. August 1853, hatte Löhe an Pastor Sievers, zugleich an die Adresse der übrigen Pastoren der fränkischen Kolonien in Saginaw-Co. und ihrer Gemeinden, folgenden Abschiedsbrief voll Wehmut und strafenden Ernstes geschrieben: „Mein teurer Freund! Nicht bloß deshalb, weil mir am 6. Juli meine teure Mutter im 84. Jahr gestorben ist, schreibe ich diesen Brief auf schwarz berändertes Papier, sondern auch, weil dieser Brief eine Art Abschieds- und Sterbebrief für mich in einem andern Sinne ist. Besinnt Euch, wie es mit den Saginaw-Kolonien nach und nach geworden ist, und es wird Euch auch einfallen, wie nahe mein Herz und meine Hand diesen Kolonien gewesen ist. Heute nimmt nicht mein Herz, aber meine Hand von den Kolonien Abschied..... Ich stehe zu Euch wie ich gestanden. Ihr seid und bleibt auch in der Amtslehre meine nahen Anverwandten; ich freue mich Eurer Synode, Eures Lebens, segne Euch und bete, daß kein Unsegen auf Euch kommen möge um Eures ungerechten, unheiligen und unschönen Verhaltens willen gegen uns, daß Ihr bewahrt bleiben und zum Segen gesetzt werden möget. Der HErr sei mit Euch und sein heiliger Friede. Aber das sei ferne, daß ich Eure Zuversicht, als hättet Ihr und Eure alten und neuen Gewährsmänner,| denen nach Ihr auch Gottes Wort anseht und Euch von ihnen die Augen leihen lasset, allein und in allen Stücken recht, teile oder steife. Ihr seid freilich fertig, weil Ihr andere für Euch lesen und denken lasset und ließet, – hocherfreute Schüler, daß Ihr zu alter, großer Meister Füßen sitzet und im Falle seid, ihren Sätzen die praktischen Konsequenzen zu geben, welche sie noch nie und nirgends gefunden. Wir hüben sind größtenteils (denn Euer sind, wenn ich recht sehe, unter uns so gar viele nicht) nicht fertig, weil wir zwar wissen, was Ihr wißt, aber von der Schriftmäßigkeit nicht wie Ihr überzeugt sind. Ihr Fertigen und Starken (denn Ihr seid doch stark, wie Haymons Kinder gegen ihren Vater – erlaubt dies ernste Wort) könnt uns und unseresgleichen in Eurer Mitte nur dulden, in Hoffnung, daß wir, wie Ihr, dermaleinst bald wie reife Feigen in den Schoß Eurer Führer fallen. Allein alle unsere Verhältnisse sind nicht wie die Eurigen, uns zieht keine Strömung Euch nach. Wir haben Zeit und hoffen, nicht daß wir Euch in allen Stücken zufallen, aber daß wir ohne Eure und ohne die Gefahren, die Ihr auf unsrer Seite sehet, je länger, je mehr zu der wahren, vollen, schriftmäßigen Erkenntnis der Lehre vom Amt und Kirche kommen. So weit sind wir auch fertig.
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 Weit weniger aber als in der Lehre von Amt und Kirche, rücksichtlich welcher wir Euch dulden würden und Euch obendrein erlauben, daß Ihr Eure Meinung so geltend machtet, als Ihr könntet, stimmen wir Euch in dem echt papistischen Territorialismus bei, welchen Ihr kühn auf Eure freien Theorien setzet. Bei den deutschen Fürsten hieß es: Cujus regio, ejus religio. Ihr, noch Winzige für ein solches Territorium, kehret die Ansprüche papistisch um: Cujus religio, ejus regio. Ihr schaltet aus freien Missionsgebieten als wäret Ihr Herren, könnet niemand neben Euch vertragen, der Eure Amtslehre nicht teilt, auch wenn er in vielen und den hauptsächlichsten Sätzen mit Euch stimmt, und wagt den ungeheuern| Satz, daß die Kirchengemeinschaft unter Brüdern nicht ausreiche, wenn sie Gründe haben, sich unter Euer Regiment nicht zu begeben, sondern Euch zum warnenden, der ὕβρις wehrenden Denkmal in väterlicher Treue an Eurem Wege stehen zu bleiben. Doch was achtet Ihr der väterlichen Treue! Es hat je und je Lutheraner unserer Ansicht gegeben, nur daß keine Zeit der lutherischen Kirche war, wo man mit solcher Angelegenheit gerade in dieser Lehre die Wahrheit suchen ging. Aber was sind alle, die nicht Luthers Brief an die Böhmen und ein paar gleichlautenden, nicht einmal systematisch durchgeführten symbolischen Stellen und Euren sonstigen Gewährsmännern beistimmen? Sie sind alle klein, keine Theologen, samt Kirchenordnungen und den Ergebnissen der pietistischen Streitigkeiten für nichts zu achten, geschweige daß, was in Eurem Mutterlande vorgeht, mehr Euer Ohr und Herz fände. Ihr habt Euren Gang, Euer System, seid fertig, – und fertig und ausgemacht ist’s, daß Grabau und wir (die wir mit ihm weder stimmen, noch zusammenhangen, sondern allein mit Euch) und unseresgleichen zum mindesten irrende Lutheraner und Brüder sind! Ihr aber seid groß und hocherfreut, wahrheits- und siegesfroh! Wir können nur schweigen. Fast samt und sonders mit Euren Gemeindegliedern, Gemeinden und Dasein von uns ausgegangen, jauchzt Ihr fröhlich durch Eure Einsamkeit dahin: „Ich bin gelehrter als alle meine Lehrer!“
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 Was soll man thun? Wir dachten, es kommen andere Zeiten; aber nein, das denkt Ihr nicht: andere Zeiten sollen nicht kommen. Wenn wir nicht Walthern beistimmen und unser Privateigentum Euch und Eurem Regimente übergeben (aber schon möget Ihr unser Eigentum nicht mehr), so sollen wir unsere Thätigkeit unter Euch beschließen. Ihr nehmet unsere Leute, die von uns ausgewandert, unsere Schüler, die wir gesendet, die Kosten, die sie verursacht, alles, alles nehmt Ihr, und wir können weiter gehen; denn es| gilt ja die Wahrheit und den – in diesem Fall leichten Beweis, daß Ihr alles lassen könnt, wenn Ihr nur Euer Theologumenon bewahren könnet. Mit einem magis amica veritas werdet Ihr unser los.

 Ich schreibe Euch das nicht in Aufregung, nicht im Grimm, im Zorn, in Aufwallung. Der HErr segne Euch und vergebe Euch Eure hohe Fahrt, und segne Saginaw County, das wir verlassen.

 Nicht, weil wir Eure Rede vom Schisma oder Euren Territorialismus und neues Papsttum, Eure üblen Konsequenzen aus Sätzen fürchten, die nicht für Eure Verhältnisse und nicht für Eure Theorien passen, aber aus herzlicher Liebe zu Euch, damit Ihr nicht in einer Liebesprobe fallet, die Euch zu schwer fallen würde, damit nicht zwischen Euch und uns Krieg sei, damit wir nicht unsere alten Pfarrkinder, die Ihr nun die Euren mit Fug und doch zuweilen so unschön nennet, in einen Streit hineinstoßen, den sie nicht kennen. Sie könnten im höchsten Fall Eure Lehre fassen, denn Ihr seid dort; aber nicht die unsere, denn wir sind nicht dort und Euer keiner kennt sie; auch Eure Führer haben sie nicht mit den Augen ansehen können, daß ihnen das granum salis erschienen wäre, denn sie sind fertig, und wer fertig ist, hat kein Interesse, ferner Unfertiges mit dem Sinn eines heiligen Vorwärts zu studieren. Nur mit dem Sinne würde man das Wahre in den unvollkommenen Darstellungen finden können. Wer zufrieden ist (ich war es auch einmal) sucht und braucht nichts mehr. – Wenn wir nun unsere Thätigkeit beschließen, so heißt das nicht, wir wollen Euch nicht mehr Liebe und Treue erweisen. Wir wollen Eure Besorgungen, Eure Anweisungen und Aufträge gern bestellen. Wir werden unsere Leute nicht abhalten, zu Euch zu ziehen, Eure zeitliche und ewige Wohlfahrt wird uns teuer sein. Es wird unser Bestreben sein, das neu eingetretene Verhältnis auch in Deutschland| so darzustellen, daß Euch, womöglich, kein Herz entwendet werde, wiewohl das schwer sein wird, denn wir müssen ja sagen, daß wir von Euch auswandern, und warum. Alles, was uns ein Herz voll Liebe und Treue gegen Euch eingeben kann, wollen wir thun; aber unsere Missionsthätigkeit unter Euch ist am Ende. Wir wollen Euch keine Gelegenheit mehr, keinen Anstoß mehr bieten, Eure Konsequenzenmacherei von der unschönsten Seite zu zeigen und die Welt lästern zu machen, daß die lutherische Lehre – denn so wird man sagen – unduldsam und blinden Eifers voll auch gegen die Erzeuger mache.

 Wir würden gern gleich zusammenpacken und das Territorium räumen, das Ihr, nachdem Ihr es von uns überkommen habt, das Eurige nennt. Wir sind willens, irgend wohin zu ziehen, wo wir mit Euren ungemessenen Ansprüchen in keine Berührung kommen und Ihr nach Euren (leider Euren) Grundsätzen uns nicht berühren werdet. Aber es ist Herbst. Man muß Vorbereitungen machen. Man muß die Hütte abbrechen, wenn man weiter ziehen will. Man muß wissen, wohin. Es kann nicht anders sein; wir müssen noch eine kleine Weile in Eurer Nähe bleiben. Laßt Euren Einfluß auf unsere Leute und Sendlinge, die kommen müssen, weil es nicht abzubestellen ist. Sie können ruhig in Eure Kirchen gehen, wenn Ihr sie im Differenzpunkt unversucht laßt. Sie können Friede und Liebe üben, wenn Ihr sie thun und sein laßt, wozu sie kommen, wie auch ihnen gewehrt sein wird (es wars auch bisher), Euch und Eure Leute anzugreifen. Werdet Ihrs aber nicht übers Herz bringen, sie unversucht zu lassen, je nun, so können wir weder das, noch die möglichen Folgen hindern, wir verbieten keinem Abgesandten, die Meinung zu ändern und sich zu Euch zu wenden (sie sind ohnehin alle, wie es jungen Leuten ziemt, unbefestigt im Streitpunkt); aber wir werden dann Euer Benehmen desto schwerer empfinden.

|  Mit ferneren Darstellungen verschont uns. Ihr hattet Zeit, Euch zu besinnen. Wir haben gleichfalls viel beraten, ehe dieser Brief abging. Bei diesen Entfernungen lassen sich einmal getroffene Maßregeln nicht ändern.

 Eurem Herrn Präses gebt von diesem Briefe Nachricht, wenn es Euch gut deucht. Ihr wäret der einzige vorbehaltene Fleck der Synode Missouri, wo wir noch eine Wirksamkeit hatten. Von St. Louis hat uns seit Jahr und Tag auch auf liebevolle Briefe kein Mensch zu schreiben Zeit oder Lust gehabt. Es ist (darum) genug, daß wir Ihnen schreiben, das ist den Brüdern in Frankenlust, Frankentrost, Frankenmut, Saginaw City, mit denen wir zu thun hatten.

 Wir würden unsere amerikanische Wirksamkeit völlig beschließen, wenn es anginge und wir dürften. Wir setzen keine Wirksamkeit Ihnen zum Trotz fort. Es wäre uns lieb, wenn die Erfahreneren unter Ihnen unsern Freunden und uns bei Eröffnung neuer Tätigkeit an die Hand gehen möchten. Warum soll, nachdem so viel nicht recht gethan, die Liebe erkalten?

 Allen teueren Freunden und Brüdern Friede und kein Lebewohl! Friede sei mit Euch und Euren Gemeinden. Der HErr und Sein Geist ertöte in Euch alles, was Ihm mißfällt und schenke Euch, was Ihm gefällt.

 Diesen Brief schrieb nach Beratung mit denen, welche die Sachen kennen und zu verwalten haben,

Ihr treuer, herzlich liebender 
Wilh. Löhe, exul. 

 Neuendettelsau, 4. Aug. 1853.“


|  Das Verhältnis zur Missourisynode und (was Löhe noch schmerzlicher empfand und lebenslänglich nicht verschmerzte) auch zu den fränkischen Kolonien war hiermit gelöst. Auch das persönliche Band der Liebe und Dankbarkeit, welches Löhes zahlreiche Schüler innerhalb der Missourisynode mit ihrem geistlichen Vater hätte verknüpfen sollen, schien zerrissen zu sein. Wenigstens Beweis und fühlbare Bestätigung etwa in den Herzen noch fortlebenden Zusammenhangs wurde nicht gegeben. Entweder war ein solcher nicht mehr vorhanden oder durfte sich doch nicht an die Öffentlichkeit wagen.
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 Unter diesen Umständen konnte die im Jahre 1857 hervortretende neue Meinungsverschiedenheit in der Lehre von den letzten Dingen die Kluft zwischen Löhe und seinen ehemaligen missourischen Freunden kaum mehr erweitern, höchstens letztere in ihrem Urteil bestärken, daß Löhe von dem Glauben der lutherischen Kirche abgefallen sei. Hatte man ja dort schon wegen der Differenz in der Lehre vom heiligen Amt die Frage aufgeworfen, ob noch Abendmahlsgemeinschaft zwischen Missouri und Löhe und den Seinen bestehen könne. Hatten doch die beiden kirchlichen Zeitschriften der Missourisynode (der „Lutheraner“ und „Lehre und Wehre“) bereits im Jahr 1855 gefunden, daß „zwischen Löhes Stellung zu den Symbolen und der eines Rationalisten nur ein gradueller, kein specifischer Unterschied sei.“ Die vermeintliche neue Lehrabweichung Löhes von den Symbolen, sein sog. Chiliasmus, konnte dieses längst feststehende Urteil der Missourisynode natürlich nur bestätigen. Mit diesem Chiliasmus verhielt es sich aber so. Löhe, dessen Vertrauen in die Schriftmäßigkeit der in der lutherischen Kirche herrschenden spiritualisierenden Ausdeutung der biblischen Hoffnungslehre schon länger erschüttert war, war durch eifriges Studium des prophetischen Worts, wohl auch durch gleichzeitige Bekanntschaft mit einigen bedeutenden irvingianischen Büchern zu einer realistischeren| Auffassung der eschatologischen Partien des Schriftworts gelangt. Er hatte seinen neu gewonnenen Überzeugungen in einer Predigt über Phil. 3, 7–11 „vom Entgegenkommen zur Auferstehung der Toten“ Ausdruck gegeben, deren wesentlichen Inhalt wir im folgenden mitteilen als Beitrag zur Kenntnis der eschatologischen Anschauungen Löhes.
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 Löhe warf zunächst die Frage auf, von welcher Auferstehung der Toten Paulus hier rede, und beantwortete sie in folgender Weise: „Die erste Auferstehung ist nach Offenb. 20, 4 eine Auferstehung der „Seelen der Enthaupteten um des Zeugnisses Jesu und um des Wortes Gottes willen,“ aber nicht bloß dieser, sondern, wie der Apostel in allgemeineren Ausdrücken weiter redet, auch der Seelen derer, „die überhaupt nicht angebetet hatten das Tier, nämlich den Antichristus, noch sein Bild, und nicht genommen hatten sein Malzeichen an ihre Stirn und an ihre Hand.“ Diese erste Auferstehung fällt in die Zeit, da der HErr den Antichristus überwindet und sein wunderbares tausendjähriges Reich beginnt. Die zweite Auferstehung hingegen fällt an das Ende der tausend Jahre und ist die allgemeine Auferstehung aller Menschen, welche in der ersten Auferstehung noch nicht auferweckt wurden. Diese zweite Auferstehung kann der Apostel nicht gemeint haben. Der braucht er nicht entgegen zu kommen, sie ist unvermeidlich; er braucht sich nicht um sie zu bemühen, sintemal ein jeder von ihr ergriffen wird, er sei gut oder böse. Bei dieser letzten Auferstehung sollen die Heiligen Gottes, die in der ersten Auferstehung mit ihren Leibern bekleidet werden, richterliche Geschäfte verrichten. Der HErr wird ja, nach der Weissagung Enochs und dem Briefe Judä, zu dieser zweiten Auferstehung kommen mit vielen tausend Heiligen und die Heiligen sollen die Welt richten. Da nun die Heiligen nur Menschen sein können, so müssen sie, um mit dem HErrn zu kommen und zu richten, selbst vorher auferstanden und zum HErrn versammelt| sein; es müssen diese richterlichen Heiligen keine andern sein, als die, welche in der ersten Auferstehung mit ihren Leibern bekleidet und auf Throne gesetzt wurden. Daraus zeigt sich eben die große Herrlichkeit der ersten Auferstehung, und ein jeder kann es begreiflich finden, wie auch ein Apostel sich bemühen kann, dieser Auferstehung entgegen zu kommen und teilhaftig zu werden. Es erscheint daher nicht bloß als wahrscheinlich, daß der Apostel in unserem Texte nach der ersten Auferstehung ringt.

 Uns ist es freilich nicht geläufig, eine erste Auferstehung zu glauben, aber eben deshalb verstehen wir auch die heilige Schrift und ihre Worte vom Ende nicht. Wir pflegen uns unter der Wiederkunft Christi immer die Offenbarung Seiner Herrlichkeit zu denken, welche mit der allgemeinen Auferstehung, dem Brande der geschaffnen Welt und der Schöpfung eines neuen Himmels und einer neuen Erde zusammengeht. Die heilige Schrift aber heißt den Christen sein Auge zunächst auf jene erste Wiederkunft richten, die in den Zeiten des Antichristus eintreten und von niemand erwartet sein wird. Sie spannt unser Auge nicht zunächst auf die allgemeine Auferstehung und das endliche Gericht, sondern auf den Schluß der gegenwärtigen Weltperiode, auf den allgemeinen Abfall, auf die unaussprechliche Drangsal der dann kleinen und eng zusammengedrängten Herde Christi, auf die Erscheinung des HErrn zum Gericht über den Antichristus, auf die erste Auferstehung, auf diese Ereignisse, die wir bei dem immer mehr sich offenbarenden Abfall innerhalb der christlichen Kirche auch immer sicherer erwarten und uns auf sie bereiten dürfen.

 Man könnte nun zwar sagen, daß an dieser ersten Auferstehung nur die Märtyrer der letzten Zeit teilnehmen, und man könnte dann auf Grund dieser Meinung auch den heiligen Aposteln, die den Antichristus nicht gesehen haben, die Teilnahme an der ersten| Auferstehung absprechen. Allein das 20. Kap. der Offenbarung Johannis giebt uns dazu keinen Anlaß. Das Tier, von welchem es redet, ist allezeit in der Welt gewesen, wenn auch das eine Haupt, welches den persönlichen Antichristus bedeutet, und die große Babel, die auf dem Tiere sitzt, erst am Ende recht offenbar wird. Das Tier deutet auf die Welt und ihre Reiche, die sich als Sonderzwecke dem Reiche Gottes und seiner heiligen Kirche gegenüberstellen, auf den großen und unversöhnlichen Gegensatz der Welt und Kirche. Dieser Gegensatz ist immer da gewesen; es hat von der apostolischen Zeit an immer viele Widerchristen und Vorläufer des Menschen des Verderbens gegeben, welcher das Ende unsrer Weltperiode bezeichnen wird. Die Apostel wußten sich, wie die Christen aller Zeiten, denen die Augen geöffnet wurden, in diesem hellen Gegensatz, waren in ihrem Leben Bekenner und in ihrem Tode Märtyrer der göttlichen Wahrheit gegenüber dem Fürsten der Lüge, und sie werden deshalb mit allen ihresgleichen in den Tagen des Antichristus teil haben an der ersten Auferstehung.“

 Im zweiten Teil der Predigt beantwortete dann Löhe die Frage: was der Apostel Paulus unter dem Entgegenkommen zu dieser Auferstehung verstehe.

 „Man könnte – sagte er – bei der Betrachtung des Wortes „entgegenkommen“ auf den Gedanken geraten, daß es ja gar nicht anders möglich sei, als (auch) der ersten Auferstehung entgegen- und immer näher zu kommen, weil ja die Zeit der Welt vergehe, der Abfall sich ausbreite und also auch der Christ des HErrn mit jedem Tage gewisser zu erwarten sei. Allein der Apostel bezeichnet mit dem Wort „entgegenkommen“ nicht bloß den Fortschritt der Zeit, der unvermeidlich ist, sondern ein inneres Reifen, Tüchtig- und Würdigwerden, die erste Auferstehung der Toten zu erlangen. Er erzählt in den Versen vor unserm Text, was alles er verlassen,| was alles er ergriffen habe, damit er entgegenkomme der Auferstehung der Toten. Wir dürfen also nur ins Auge fassen, was er gelassen und was er ergriffen hat, so muß uns auch klar werden, was das heißt: entgegenkommen zur ersten Auferstehung.
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 Was der Apostel gelassen hat, bezeichnet er im ersten Vers unsres Textes, in welchem er spricht: „Was mir Gewinn war, das habe ich um Christi willen für Schaden geachtet.“ Er versteht unter dem Worte „Gewinn“ nicht bloß eine einzige Sache, sondern, wie es schon der Grundtext an die Hand giebt und man aus der Aufzählung ersehen kann, die unserm Text voranging, eine ganze Reihe von nationalen und sittlichen Vorzügen. – – Als ersten nennt er seine Abstammung aus Israel, aus dem Stamme Benjamin, und zwar seine unvermischte, reine Abstammung, daß er ein Ebräer aus Ebräern ist. Bei heutigen Juden, welche Christen geworden sind, findet man zuweilen, daß sie sich ihrer Abstammung schämen; ich aber muß gestehen, daß es mir, wenn ich von Abstammung ein Jude wäre, gerade so gehen würde, wie dem Apostel Paulus in unserm Textkapitel. Ich würde das für meinen größten Vorzug nach dem Fleisch halten und ich würde dafür sorgen, daß es bei meinen Nachkommen nie in Vergessenheit geriete; sie sollten es wissen, daß jüdisches Blut in ihren Adern ränne. Denn das Volk Israel ist nicht bloß in Rücksicht auf die Vergangenheit das auserwählte Volk Gottes und der Adel der Menschheit, sondern es hat auch hohe Verheißungen für die Zukunft, und die Gläubigen aus seiner Mitte werden am Ende der Tage und in Ewigkeit die Chorführer der erlösten Schar und unter den Gesegneten des HErrn insonderheit gesegnet sein. Das weiß, das lehrt auch St. Paulus selbst, und es ist daher nicht zu verwundern, wenn er an die Spitze aller seiner Vorzüge, deren er sich rühmen konnte, seine reine israelitische Abstammung aus dem Geschlecht Benjamin setzt: er wird am Ende der Tage unter den Benjaminiten hervorragen, ob| er gleich heißt Paulus, d. i. der Kleine, höher als der Benjaminite Saul, der König, der um die Höhe seines Hauptes über alle Häupter Israels wegsah.

 Mit diesem nationalen Vorzug im innigsten Zusammenhange steht der Ruhm der Beschneidung, ohne welche er ja zum Israel Gottes nicht vollständig gehört hätte. Auch die sittlichen Vorzüge, welche er aufzählt, hängen eng mit den nationalen zusammen. Es ist ein sittlicher Vorzug, den sich der Apostel beimißt, indem er spricht: „der ich bin nach dem Gesetz ein Pharisäer,“ denn die Wahl der Lebensrichtung innerhalb des Judentums hätte ihn ja auch zum Sadducäismus führen können; aber nein, er wird ein Pharisäer, und zwar einer von der edelsten Art, ein Schüler Gamaliels. „Nach dem Eifer war ich ein Verfolger der Gemeine, nach der Gerechtigkeit im Gesetz bin ich gewesen unsträflich.“ Wir, von unserm Standpunkt und dem apostolischen Standpunkt Pauli selber, halten es allerdings am Ende für keinen hohen sittlichen Vorzug, daß Paulus ein Verfolger der Gemeine war und unsträflich im Gesetz, das aus Satzungen bestand; aber so ist es eben; ein und derselbe Zug eines Lebenslaufes kann von dem Standpunkt des Christen aus verwerflich sein, von dem des Juden aber groß und hehr.

 Aber das alles, sagt der Apostel, „habe ich für Schaden geachtet – und achte es für Dreck“ d. i. für Auskehricht, den man auf die Schaufel nimmt und wegwirft. Warum ist ihm denn so gar nichts, was ihm doch sonst so viel ist? Weil ers in Vergleich bringt mit Christo Jesu. Wenn ihm sein Herr und Heiland Jesus ins Auge trat, dann wurden ihm all seine Vorzüge zu eitel Schaden und Auskehricht, den man wegwerfen muß. „Um Christi willen hab ichs für Schaden geachtet,“ ruft er, „und ich achte es noch alles für Schaden gegen der überschwenglichen Erkenntnis Christi Jesu, meines HErrn.“

|  Da ist’s also offenbar, was der Apostel läßt, um der Auferstehung der Toten entgegen zu gehen. Er löst sich los von allem nationalen jüdischen Hochmut und begreift es ganz, daß das Judentum nicht das Ziel ist, wohin der HErr sein Volk hat führen wollen, sondern Christus Jesus ist das Ziel, Er der Stifter des Neuen Testamentes, in welchem das Alte Testament zu Grabe geht, um in ewig jungem Wesen aufzustehen. Da zieht Paulus aus seine Unsträflichkeit und seinen Eifer und die Sekte der Pharisäer und die Abstammung von Benjamin und Israel und die Beschneidung und all seine Hülle und Fülle und springt nackt und bloß hinein ins Wasser der Taufe, auf daß er Christum gewinne und in Ihm erfunden werde, und taucht auf in der glänzenden Gerechtigkeit des Glaubens; die Kraft der Auferstehung Jesu Christi ist in ihm; Seele und Leib sind wiedergeboren zum unvergänglichen und unverwelklichen Leben der Ewigkeit.
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 Da seht ihrs also klar und öffentlich, wie St. Paulus der Auferstehung der Toten entgegenkommt. Die größten angeerbten, samt allen mit Mühe und Fleiß erworbenen, Vorzüge seines Lebens wirft er weg; von der Bahn des stolzen, seines eigenen Zieles unbewußten Judentums tritt er ab; der Gekreuzigte auf Golgatha wird sein Schatz, sein Reichtum, das Thema einer endlos fortschreitenden Erkenntnis, der Gegenstand eines grenzenlosen Vertrauens, der leuchtende Ersatz für alle eigene Gerechtigkeit, die unumstößliche Zuversicht der Auferstehung und des ewigen Lebens; und die namenlose Schmach und Tiefe Seiner Leiden am Kreuz ein so mächtiger Anziehungspunkt für seine Seele, daß er vor allen Dingen nur will haben die Gemeinschaft dieser Leiden, ihren Segen, ihr Verdienst, und dann gern in jedem möglichen Sinne dem Toten am Kreuz, dem Jammerbilde ohnegleichen, selbst leidend und sterbend gleichförmig werden. Kurz: „In Ihm alles thun und alles lassen, in Ihm leben und in Ihm erblassen,“ das ist der| Weg, auf welchem St. Paulus der ersten Auferstehung der Toten entgegengeht. Einen andern kennt er nicht, einen zweiten giebt es nicht.“

 Zuletzt sprach Löhe noch von der Frucht, die diese neugewonnene Erkenntnis für unser Leben haben solle.

 „Zu allererst werden wir, sagte er, wohl eine unliebsame Entdeckung machen, die uns reichlich zur Strafe und Besserung dienen kann. Denn wir sind Kinder der Zeit allzumal und der Zeit Eigentümlichkeit ist es, an die allgemeine Auferstehung nicht zu denken, überhaupt mit Leichtsinn über das ewige Schicksal des sterblichen Leibes hinwegzugehen und sich höchstens mit der Frage zu befassen, ob die Seele nach dem Tode übrig bleibe und selig werde. Alles scheint diesem ungläubigen Geschlechte gewonnen, wenn nur aus dem Schiffbruch des Todes die arme nackte Seele gewonnen wird. Ob aber auch einer sich findet und der andere, der ausnahmsweise den hohen Todestrost versteht, welcher in der Auferstehung der Toten liegt, so findet sich doch schier rings im Lande niemand, welcher an die erste Auferstehung von den Toten denkt, geschweige es für möglich hält, an ihr teilnehmen zu können, und für heilige Pflicht, ihr auf dem Wege St. Pauli entgegenzukommen. Zur Zeit der heiligen Apostel war es anders. Obwohl die Kirche kaum geboren war, so sahen doch alle Augen bereits mit ernster, wachsamer Aufmerksamkeit auf den inmitten der Kirche zu erwartenden großen Abfall, man stand gerüstet, den Antichrist, den Menschen der Sünde, zu empfangen, und fand sich alle Tage bereit in den großen Kampf zu gehen und mitten hindurch durch denselben der großen Hoffnung der Christenheit entgegenzukommen, nämlich der Wiederkunft des HErrn zur Vertilgung des Antichristus, zur Aufrichtung des Reiches Israel und zur Besteigung des Thrones Davids. So groß der Glaube und die Liebe der ersten Zeit gewesen sind, so ist doch das Kennzeichen, durch welches sie sich von| allen nachfolgenden Zeiten unterscheidet, die rege, lebendige Hoffnung auf die erste Wiederkunft des HErrn und die tiefe, reiche Einsicht in die letzten Dinge. Das wurde freilich alles bald anders. Der Edle, der über Land gezogen war, verzog seine Wiederkunft, die Apostel entschliefen, die großen Verfolgungen, welche im römischen Reiche und um dasselbe her erwachten, lenkten die Augen der Getreuen auf ein näheres Ziel, nämlich auf die Glorie des Märtyrertodes, durch welchen man ohne Wiederkunft des HErrn, der Seele nach, zu Ihm und Seinen Himmelsfreuden gelangte. Und als endlich die Verfolgungen aufhörten, die römischen Kaiser und die Könige der Erde ihre Knie vor dem Dorngekrönten beugen lernten, die Menschheit Völkerweise zu den Thoren der heiligen Kirche eindrang und die Staaten der Welt christlich zu sein versuchten, in einem gewissen Maße christlich wurden: da schien das Reich bereits gekommen, Christus mit seinen Heiligen bereits zu herrschen, das Sabbathjahrtausend der Welt herzugeeilt, die Hütte Gottes unter den Menschen aufgeschlagen. Die Hoffnung einer (ersten) Wiederkunft, der Antichristus und der Abfall, durch den sie herbeigerufen wird, trat in den Hintergrund, und unbegreiflicherweise bemerkte man nicht, wie eben damit die Liebe erkaltete, der Glaube matt wurde und das ganze christliche Wesen immer mehr von Mängeln und Sünden belastet wurde, je mehr das Abendrot der Welt und das Morgenrot des Reiches Christi sich auf die Grenzen einer ungemessenen Ferne zurückzog. O Jammer und großer Schade! Da rief kein Apostel mehr in die Welt herein: „Was hat der Tempel Gottes für eine Gleiche mit den Götzen?“ oder: „Der Welt Freundschaft ist Gottes Feindschaft.“ Da schlossen die unversöhnlichen Gegensätze einen ungöttlichen Frieden, Welt und Kirche durchdrangen einander, und während es schien, als sei damit die Deutung gegeben jenes Gleichnisses von dem Sauerteig, der die drei Scheffel Mehl durchdringt, fand sichs je mehr und mehr, daß der ganze| neue Teig der Kirche vom alten Sauerteig der Welt durchdrungen wurde, und dies jammervolle Gemisch, dieser Hohn und Spott auf die Gleichnisse vom Netz und vom hochzeitlichen Kleide, sich erzeugte, das man heutzutage die Kirche Christi zu nennen wagt. Da gehört nun freilich die Hoffnung einer ersten und zweiten Wiederkunft des HErrn zu den Märchen, die niemand mehr glaubt, und wer sie wieder wachrufen will und die Christenheit zu ihr versammeln und die schlafenden Jungfrauen wecken und das Öl der mitternächtlichen Lampen preisen und den Gesang anstimmen: „Mitternacht heißt diese Stunde,“ der ist ein Poet, ein Schwärmer, der die Nüchternheit wegnimmt und die wohlbestellte Kirche im behaglichen Genusse ihres hausbackenen[10] Glaubens stört. – – 1800 Jahre sind hingegangen und was hat sich ereignet, der Zukunft des HErrn vergleichbar? Was hat sich ereignet? Der Abfall in der Kirche nimmt immer mehr zu – es fehlt nur, daß aus dem wogenden Meer der verderbten Völker der Mensch der Sünde, das Kind des Verderbens sich hebe und unter dem Zujauchzen von Stimmen ohne Zahl der alten Zeit des Christentums die Leichenrede halte und eine ganz neue Zeit verkünde. Dabei weckt Gott der HErr die Stimme der Propheten wieder auf, Licht fällt in die längst nicht mehr verstandenen Stellen, einfach und klar erscheint den Zeugen hin und wieder das Wort vom Ende, und vernehmlich, wenn auch im grellen Widerspruch mit der Finsternis der Nacht, welche das Erdreich deckt, erschallt wie der Hahnenschrei um Mitternacht der Ruf der Wächter auf den Zinnen: „Steht auf, der Bräutigam kommt!“ Auch zu euch dringt der Hahnenschrei, mein Geschrei aus meiner Einsamkeit und Stille; aus der Tiefe heraus schrei ich euch| an und gebe mein Zeugnis vom Abfall, von der möglichen nächsten Nähe des Antichristus, der ersten Wiederkunft des HErrn und der ersten Auferstehung. Ha, daß ich euch den Schlaf von euren Augen könnte nehmen, den sträflichen, und euch wecken zur Ergreifung der Hoffnung, die wie Morgenrot am Himmel lodert! Daß euch gegeben werden möchte, ein Leben der Hoffnung zu führen und mit St. Paulo entgegen zu kommen der Auferstehung von den Toten! Glaube und Liebe ohne diese Hoffnung sind wie das Opfer auf dem Altare, bevor das Feuer vom Himmel fiel. Die große Hoffnung der Christenheit muß uns wieder entzünden, wenn der Glaube und die Liebe ihre Werke wieder thun sollen, wenn aufhören soll die niederträchtige irdische Gesinnung der Christenheit, wenn die Braut Christi ihrem Bräutigam entgegen gehen soll schöner, als der Mond, und schrecklicher, als Heeresspitzen.“

 Diese Predigt war von Löhe zu einer Zeit, wo ihm krankheitshalber das Betreten der Kanzel unmöglich war, diktiert, der Gemeinde vorgelesen und auf Wunsch etlicher zufällig anwesender Freunde veröffentlicht worden.

 Die Predigt rief großes Aufsehen und in altlutherischen Kreisen Deutschlands auch heftigen Widerspruch hervor. In der Missourisynode urteilte vielleicht P. Sievers in Frankenlust, der einzige missourische Pastor, der mit Löhe in geschäftlichen Angelegenheiten einen, wenn auch seltenen brieflichen Verkehr unterhielt, noch am mildesten, wenn er in einem Brief vom 24. Januar 1859 sein Bedauern darüber aussprach, daß durch diese Predigt das Glaubensband, welches ihn früher mit Löhe so innig verbunden habe, gänzlich gelöst sei, sofern dadurch Löhes völliger Abfall von der lutherischen Lehre, d. i. von der allein seligmachenden Lehre der Christenheit bekundet werde. „Ich habe“ – schreibt er – „nur noch eine Hoffnung, nämlich daß diese Predigt Ihnen vielleicht in der Hitze der| Krankheit vom bösen Feinde eingegeben ist, und daß Sie dieselbe jetzt schon als eine Phantasie der Krankheit widerrufen haben.“
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 Und doch war Löhes sog. Chiliasmus, wie wir sahen, ein sehr gemäßigter, der weder dem Wortlaut noch dem geschichtlichen Sinn von Art. XVII der zuwiderlief. Er erwartete in zeitlich unbestimmbarer Nähe das Auftreten eines persönlichen Antichristus (den er nach 2 Thess. 2 nicht im Papsttum sehen konnte, ohne im übrigen gewisse antichristische Züge in dem Bilde desselben zu leugnen), er glaubte an eine sichtbare Zukunft Christi zur Vertilgung des Antichristus, an eine (partielle) erste Auferstehung und an ein noch zukünftiges tausendjähriges Reich, unbeschadet der auch in demselben noch fortdauernden Kreuzgestalt der Kirche Christi. Von der Versuchung, in diese schriftmäßigen Grundlinien der Hoffnungslehre mit Hilfe der Phantasie ein ausgeführtes Zukunftsbild zu zeichnen, blieb Löhe frei. Auch zeigte sich weder bei ihm noch bei seiner Gemeinde eine Spur jener ungesunden schwärmerischen Richtung, welche das von der Apokalypse geweckte und an ihr sich nährende Hoffnungsleben nicht selten auf schiefe Bahnen geleitet und von der Einfalt in Christo abgelenkt hat. Es lag in Löhes Art, was ihn innerlich ergriffen hatte, oft in etwas unvermittelter und einseitiger Weise zum Ausdruck zu bringen, und so hörte man in der Kirche von Neuendettelsau eine Zeit lang allerdings viel vom Antichrist, von erster Auferstehung und vom tausendjährigen Reich. Aber seine im tiefsten Grunde harmonische Natur fand doch schnell das innere Gleichgewicht wieder, und es ordneten sich ihm diese neuen Erkenntnisse bald in den Zusammenhang der von alters her der Kirche feststehenden Hauptartikel der biblischen Hoffnungslehre organisch ein. Infolgedessen traten diese eschatologischen Gedanken in Löhes Predigt bald wieder mehr in den Hintergrund, wiewohl er den damals gewonnenen Überzeugungen bis an sein Ende treu blieb. Zwischen der Missourisynode und Löhe kam es infolge des gänzlichen Abbruchs aller| früher bestandenen Verbindungen über diese Lehrdifferenzen zu keiner Verhandlung. Aber zwei Pastoren der Missourisynode, die selbständig zu ähnlichen eschatologischen Überzeugungen wie Löhe gelangt waren und zu ihrer Stärkung im Kampf Löhes Rat und Trost gesucht hatten, verfielen dem Anathema der Missourisynode.
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 Für Löhe war dies nicht überraschend. Er schrieb am 13. März 1857 an den einen jener beiden Pastoren: „Das Anathem der Missourisynode trifft allerdings auch mich, und zwar zum zweiten Male, da ich ihr ja schon einmal wegen der Amtslehre in die Hände gefallen bin. Ich kann das Thun der Synode ganz begreiflich finden, weil ich ja ihren Standpunkt kenne. Die Führer der Synode haben sich Luther und den lutherischen Theologen so ergeben, daß sie anders als unter Vermittlung derselben auch das Wort Gottes nicht lesen können. Wie können sie sehen, da ihre Augen eingenommen sind, und hören, da sie ein Ohr nur für ihre Gewährsmänner haben. Als ich jünger war und den Weg der lutherischen Kirche als richtig erkannte, that ich auch wie die Brüder in Missouri. Ich nahm um des großen und gerechten Zutrauens willen alles an, was die Väter sagten; und wenn mir auch nicht alles innerlich genügte, wagte ich doch nicht, meinen eignen Augen zu trauen, wenn ich im Worte Gottes las; meine Gewährsmänner mußten recht haben, weil ich doch meinem eignen Urteil nicht trauen durfte. Im Verlaufe der Zeit konnte ich jedoch dem Lichte des göttlichen Worts nicht widerstehen, und je mehr ich in Anbetracht der Hauptsachen von der Reinheit der lutherischen Lehre überzeugt wurde, je mehr erkannte ich, daß Gott der HErr in diesen unseren Tagen seiner armen Kirche in etlichen anderen Punkten größeres Licht und schönere Klarheit geben wollte, als unsre Väter hatten. Zu diesen Punkten gehört auch Eschatologisches, insonderheit, was die Hoffnung Israels, die tausend Jahre und die Wiederkunft des HErrn betrifft. Wie überhaupt in Exegese und Historie,| so besonders in der Erkenntnis der Propheten und des prophetischen Blicks in die Geschichte ist die neuere Zeit gesegnet und reicher begabt als das 16. Jahrhundert und die ihm nachfolgten. Ich erscheine mir nicht als ein Abfälliger, sondern als ein Getreuer, wenn ich die Gabe annehme, die Gott darreicht, und sie deshalb nicht verachte, weil meine Väter sie nicht hatten. Ich glaube nur ihre Wege zu gehen, wenn ich dem Wort selber folge und es lieber annehme als die willkürlich spiritualistische Auslegung vergangner Tage. Ich habe vielfach mit Lust die Propheten und die Apokalypse gelesen und wieder gelesen, und gerade das Eingehen in die Vergleichung der Propheten mit der Geschichte des Reiches Gottes hat mir das Auge aufgethan für die ferne Zukunft hier und dort. Ich habe die Weissagung des Alten und Neuen Testaments sehr einfach und wörtlich fassen lernen und nicht bloß gefunden, daß sich auf diesem Wege die gesamte prophetische Theologie sehr faßlich, sondern auch, daß sie sich sehr harmonisch gestaltet. Während bei der spiritualistischen Richtung kaum zwei Ausleger zusammenstimmen, habe ich zu meinem großen Erstaunen gefunden, daß Männer von der verschiedensten Richtung, wenn sie einmal die spiritualistische Auslegungsweise aufgegeben hatten, auf dem Wege der Einfalt zu den gleichen Resultaten kamen. – Wenn die Augsburgische Konfession die judaisierenden Meinungen verwirft, nach welchen vor dem jüngsten Tag eitel Heilige ein weltlich Reich haben würden, so ficht das, ganz abgesehen von den Privatmeinungen der Reformatoren, gewiß keinen an, der den Gegensatz hat kennen lernen, in welchem der ohne Hände herabgerissene Stein zu dem Koloß der Weltmonarchien steht; man kann den Paragraph der Konfession unterschreiben und zwar tief aus dem Herzensgrund, ohne deshalb mit den Lehrern zu stimmen, die das Kind mit dem Bade ausgeschüttet haben (d. h. von einem zukünftigen herrlichen Reich Christi auf Erden gar nichts wissen wollten). – Für die Synode Missouri freilich, welche die| Weimarsche Bibel als Summa aller Exegese aufs neue abdrucken läßt, kann die jetzige Exegese ebensowenig Wert haben als die der ersten Jahrhunderte. Für sie ist alles fertig, worüber sich ihre Gewährsmänner ausgesprochen haben. Nicht die Symbole, noch viel weniger in den Symbolen allein die Entscheidungen der reformatorischen Fragen, sondern allein die theologische Auffassung und Ausbildung der Symbole, wie sie sich bei ihren Gewährsmännern findet, genügt ihr. Sie ist auch mit der Eschatologie fertig und das schon längst, ehe sie selbst wurde, ehe die Synodalglieder geboren sind. Ihre Gewährsmänner haben für sie gedacht, ehe man an sie dachte.“

 Der eine der beiden Pastoren hatte eine Reihe von Fragen an Löhe gerichtet, die derselbe in dem oben erwähnten Brief beantwortete. Wir teilen Löhes Antwort auf die wichtigsten Fragen mit.

 Auf die Frage, ob die Annahme eines Millenniums die Lehre vom Kreuzreich Christi umstoße, erwidert Löhe: „Ich meinerseits glaube es nicht. Die Kirche ist ein Kreuzreich vor und nach den tausend Jahren, und es mangelt ihr auch während der tausend Jahre nicht an Kreuz, da sie während derselben auch nicht von der Sünde und ihren Folgen frei ist. Mir scheint es aus Erwägung der Umstände hervorzugehen, daß der große Angriff von Gog und Magog durch eine laodicenische Ermattung und Lauheit der Kirche oder großer Teile derselben gerechtfertigt ist. Auch während der tausend Jahre ist noch nicht gekommen das Vollkommene.“

 Auf die andere Frage, ob die Erwartung eines dem allgemeinen Weltgericht vorhergehenden Millenniums wirklich in Widerspruch mit der gebotenen steten Erwartung der Zukunft Christi stehe, entgegnete Löhe: „Auch die stete Erwartung der Zukunft Christi hat nach 2 Thess. 2, 3 ihre besondere Begrenzung erhalten. Da so viele Antichristen in der Welt sind, so ist der Mensch der Sünde,| der Sohn des Verderbens täglich zu erwarten, und eben deshalb auch Christus, der seinem Reiche ein schnelles Ende schaffen wird. Vor dem Millennium sind wir seit der Apostel Zeit beständig im Warten. Im Millennium und während desselben wird man allerdings wissen, daß die Erscheinung Christi zum Weltgericht vor der bestimmten Zeit nicht eintreten werde. Je mehr aber die tausend Jahre hinschwinden, desto mehr wird das Warten wieder hervortreten müssen, und desto mehr wird man sich vor lauer Trägheit zu hüten haben. Eine genaue Betrachtung der Stellen, die von der Erwartung Christi handeln, führt in diesen Unterschied weit mehr ein, als daß man durch dieselbe zur Aufhebung des Unterschieds gedrungen würde.“

 Den thörichten Einwurf der Gegner endlich, daß die Annahme einer ersten leiblichen Auferstehung den Glauben an die künftige allgemeine Auferstehung am jüngsten Tage umstoße, fertigte Löhe mit Recht in wenigen Worten ab. „Wie soll – sagte er – die erste Auferstehung die zweite allgemeine hindern, da sie doch nur partiell ist und zwar im Vergleich mit der ganzen Menschheit, die zuletzt auferstehen wird, nur einen sehr (?) kleinen Teil der Menschen betrifft.“

 Löhe schloß seinen Brief an Pastor G. mit den Worten: „Der HErr sende Ihnen in Ihr Herz den Geist der Erkenntnis und mache Sie seiner Wahrheit gewiß. Wenn wir auch von den Greueln des Antichristus und von der Herrlichkeit des HErrn, der ihn töten wird mit dem Geist seines Mundes, hier im Fleische nichts mehr sehen und erfahren sollten, so fahren wir doch bei der süßen Hoffnung, die wir haben, desto freudiger zu unsern Vätern hin. Wir werden dem HErrn wohl ewig danken dafür, daß unsre Tage in eine Zeit gefallen sind, in welcher den Heiligen gegeben ist, klarer als vorher den Anfang des Endes, das Ende selber, die Hoffnung Israels und aller Heiden zu schauen.“

|  Von dem weiteren Verlauf jenes Lehrstreits innerhalb der Missourisynode ist hier nicht eingehender zu berichten, da es uns nur darum zu thun war, Löhes Anschauungen in dieser Frage zu Wort kommen zu lassen. Die „chiliastische“ Bewegung wurde dort rasch genug unterdrückt. Die Missourisynode leitete – von ihrem Standpunkt aus ganz folgerichtig – das Zuchtverfahren gegen die beiden Pastoren ein, welches, da dieselben sich zu keinem Widerruf verstanden, mit dem Ausschluß derselben aus der Synode endete.

 Charakteristisch war in dieser Beziehung die Art und Weise, wie Prof. Walther die Synode auf das letzte Verfahren mit den beiden „irrgläubigen“ Pastoren vorbereitete: nämlich durch Vorlesung der Prozeßakten eines gewissen Seidenbecher, eines chiliastisch gesinnten Geistlichen, der zur Zeit Ernsts des Frommen im Gothaischen lebte, woraus die Synode die „Zuversicht zu dem schweren Schritt“ (der Aufkündigung der Synodalgemeinschaft) und die Überzeugung gewann, daß sie in ihrem Verfahren „die Praxis der lutherischen Kirche in einer Zeit zum Muster habe, in welcher noch Lehr- und Kirchenzucht geübt wurde.“

 Nicht minder bezeichnend war die Motivierung der über einen der beiden Pastoren (der andere war nicht anwesend) gefällten Schlußsentenz: „Da H. P. Sch. in den gegenwärtigen Verhandlungen geoffenbart hat, daß er seine eigenen chiliastischen Auslegungen gewisser prophetischer Schriftstellen dem gewissen und klaren Worte Gottes (sic!) selbst gleichstellt und dieselben und seine daraus geschöpften Vermutungen dazu mißbraucht, mehrere Artikel des heiligen christlichen Glaubens: von dem Reiche Christi auf Erden, von Christi Wiederkunft zum jüngsten Gericht, von dem jüngsten Tage, ungewiß zu machen, einen derselben aber, nämlich den von der allgemeinen Auferstehung der Toten am jüngsten Tage geradezu zu verleugnen (!)... so erkennt die Synode hieraus, daß H.| P. Sch.[11] mit ihr auf einem Glaubensgrunde nicht mehr stehe und sieht sich daher genötigt, demselben die fernere Synodalgemeinschaft aufzusagen.“





  1. Als Merkwürdigkeit mag erwähnt werden, was Löhe dem Schreiber dieses erzählte, daß ihn, als er eines Tags mit der Niederschreibung seiner Aphorismen beschäftigt am Schreibtische saß, plötzlich ein helles, sinnenfällig wahrnehmbares Licht umstrahlt habe.
  2. Mit Recht wandte Löhe hiegegen ein: „Wenn die Ordination nichts mehr ist als solemnis declaratio vocationis, warum kann sie dann (bei Übernahme eines neuen Berufs an einer andern Gemeinde) nicht wiederholt werden? Warum sehen dann die Installationen der Ordination ähnlich wie ein Ei dem andern?“ (Brief an Dr. Petri vom 16. Dez. 1847.)
  3. Löhe berief sich gern darauf, daß die Reformatoren und Kirchenordnungen seines geliebten Frankenlandes einer Anschauung von Amt und Ordination zugethan waren, in der er die seinige wieder erkannte. Man vergleiche z. B. die letzte der der Nürnberg-Brandenburgischen Kirchenordnung beigegebenen Kinderpredigten von 1592, in welcher folgende Stelle sich findet: „Es ist das Predigtamt, das unser HErr selbst angefangen, eingesetzt und verordnet hat, immer von einem auf den andern kommen durch das Auflegen der Hände und Mitteilen des heiligen Geistes bis auf diese Stund. Und das ist auch die rechte Weise, damit man die Priester weihen soll und allewege geweihet hat und soll noch also bleiben.“
  4. In der That ist, während die Missourisynode zu einem mächtigen, weite Gebiete Nordamerikas überschattenden Baum erwachsen ist, die Buffalosynode verkümmert. Sie zählt gegenwärtig, nach mehr als 40jährigem Bestand, nur 19 Pastoren mit 23 Gemeinden.
  5. „Wie aber dann, – fragte Grabau mit Recht – wenn über die Symbole und ihre Auslegung selbst Streit entsteht?“ Eben dies war ja der Fall in der Amtsfrage.
  6. Während nämlich Dr. Höfling das geistliche Amt nur für ein Produkt einer socialen und ethischen Notwendigkeit, nicht für eine unmittelbar göttliche Ordnung erklärte, betonten die Missourier mit unsern Symbolen aufs entschiedenste die ausdrücklich göttliche Einsetzung des Hirtenamtes.
  7. Den Missouriern erschien sie freilich als abgeschlossen, da ja gerade um die beiden Fragen von Kirche und Amt sich insonderheit die Lehrkämpfe der Reformation bewegt hätten. Mit Recht erwiderte aber Löhe, daß die positive Darlegung der schriftmäßigen Lehre in jenen Stücken unsern Vätern weniger gelungen sei, als die Abwehr der römischen Irrtümer, und daß die hieher gehörigen thetischen Aufstellungen der Symbole keineswegs so abschließender und entscheidender Natur seien, daß nicht Meinungsverschiedenheiten hätten entstehen und bis zur Stunde fortbestehen können.
  8. „Nicht bloß die Pfarrer – schreibt Löhe an Dr. Petri – sondern auch die Bauern von Frankenmut etc. sind nun namentlich um mein Seelenheil besorgt; ich bin hochmütig geworden, tief gefallen etc., niemand wird jetzt so getreten wie ich.“
  9. Grabau und seine Gesinnungsgenossen sind gemeint.
  10. Anm. d. Hrsg. Dieser unglücklich gewählte Ausdruck wurde Löhe viel verargt. Löhe wollte wohl jene (laodicenerartige) Selbstgenügsamkeit tadeln, die von der Gegenwart vollauf befriedigt, keine Sehnsucht nach vollkommneren kirchlichen Zuständen in sich trägt.
  11. Derselbe kehrte indes später, nachdem er seine früheren Überzeugungen hatte fallen lassen, in den Schoß der Missourisynode zurück.


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