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neue Teig der Kirche vom alten Sauerteig der Welt durchdrungen wurde, und dies jammervolle Gemisch, dieser Hohn und Spott auf die Gleichnisse vom Netz und vom hochzeitlichen Kleide, sich erzeugte, das man heutzutage die Kirche Christi zu nennen wagt. Da gehört nun freilich die Hoffnung einer ersten und zweiten Wiederkunft des HErrn zu den Märchen, die niemand mehr glaubt, und wer sie wieder wachrufen will und die Christenheit zu ihr versammeln und die schlafenden Jungfrauen wecken und das Öl der mitternächtlichen Lampen preisen und den Gesang anstimmen: „Mitternacht heißt diese Stunde,“ der ist ein Poet, ein Schwärmer, der die Nüchternheit wegnimmt und die wohlbestellte Kirche im behaglichen Genusse ihres hausbackenen[1] Glaubens stört. – – 1800 Jahre sind hingegangen und was hat sich ereignet, der Zukunft des HErrn vergleichbar? Was hat sich ereignet? Der Abfall in der Kirche nimmt immer mehr zu – es fehlt nur, daß aus dem wogenden Meer der verderbten Völker der Mensch der Sünde, das Kind des Verderbens sich hebe und unter dem Zujauchzen von Stimmen ohne Zahl der alten Zeit des Christentums die Leichenrede halte und eine ganz neue Zeit verkünde. Dabei weckt Gott der HErr die Stimme der Propheten wieder auf, Licht fällt in die längst nicht mehr verstandenen Stellen, einfach und klar erscheint den Zeugen hin und wieder das Wort vom Ende, und vernehmlich, wenn auch im grellen Widerspruch mit der Finsternis der Nacht, welche das Erdreich deckt, erschallt wie der Hahnenschrei um Mitternacht der Ruf der Wächter auf den Zinnen: „Steht auf, der Bräutigam kommt!“ Auch zu euch dringt der Hahnenschrei, mein Geschrei aus meiner Einsamkeit und Stille; aus der Tiefe heraus schrei ich euch


  1. Anm. d. Hrsg. Dieser unglücklich gewählte Ausdruck wurde Löhe viel verargt. Löhe wollte wohl jene (laodicenerartige) Selbstgenügsamkeit tadeln, die von der Gegenwart vollauf befriedigt, keine Sehnsucht nach vollkommneren kirchlichen Zuständen in sich trägt.
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Johannes Deinzer: Wilhelm Löhes Leben (Band 3). C. Bertelsmann, Gütersloh 1892, Seite 117. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6hes_Leben_Band_3.pdf/122&oldid=- (Version vom 1.8.2018)