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Ueber die Weltschöpfung
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UEBER DIE WELTSCHOEPFUNG NACH MOSES

[I p. 1 M.] [1] 1 Manche Gesetzgeber haben das, was ihnen als recht galt, in ungeschminkter und einfacher Form angeordnet; andere haben ihre Gedanken in ein schwülstiges Gewand gekleidet und die Volksmassen betört, indem sie mit mythischen Gebilden die Wahrheit verhüllten. 2 Moses aber hat beides vermieden, das eine, weil es unbedacht, bequem und unphilosophisch ist, das andere, weil es voll Lug und Trug ist; er hat vielmehr seinen Gesetzen einen sehr schönen und erhabenen Anfang gegeben, indem er weder ohne weiteres angab, was zu tun oder zu unterlassen sei, noch auch – obwohl es nötig gewesen wäre, erst den Geist derer, die sich der Gesetze bedienen sollten, vorzubereiten – Mythen erdichtete oder die von andern verfassten nacherzählte. 3 Dieser Anfang ist, wie ich sagte, höchst bewunderungswürdig, da er die Weltschöpfung schildert, um gleichsam anzudeuten, dass sowohl die Welt mit dem Gesetze als auch das Gesetz mit der Welt im Einklang steht und dass der gesetzestreue Mann ohne weiteres ein Weltbürger ist, da er seine Handlungsweise nach dem Willen der Natur regelt, nach dem auch die ganze Welt gelenkt wird[1]. 4 Die Schönheit der Gedanken dieser Weltschöpfung vermöchte kein Dichter und kein Schriftsteller würdig zu preisen; denn sie gehen über das Sprach- und [2 M.] Gehörvermögen hinaus und sind zu gross und zu erhaben, als dass sie mit den Organen eines Sterblichen erfasst werden könnten. 5 Allein deswegen dürfen wir uns nicht schweigend [29] verhalten; wir müssen vielmehr aus Liebe zu Gott selbst über unsere Kraft hinaus sie zu schildern wagen, indem wir zwar eigentlich nichts, statt des Vielen aber doch einiges vorbringen, soweit der von Verlangen und Sehnsucht nach Weisheit beherrschte menschliche Geist vorzudringen vermag. 6 Denn wie auch das kleinste Siegel, wenn es geprägt wird, die Abbilder kolossaler Grössen aufnimmt, so werden vielleicht auch die ausserordentlichen Schönheiten der in den Gesetzen beschriebenen Weltschöpfung, wenn sie mit ihren Strahlen die Seelen der Leser treffen, auch bei schwächerer Darstellung offenbar werden; es muss jedoch zuvor noch etwas erwähnt werden, was nicht verschwiegen werden darf.

[2.] 7 Es haben nämlich manche, weil sie die Welt mehr als den Weltschöpfer bewunderten, jene für unerschaffen und ewig erklärt[2], diesem aber, Gott nämlich, in unfrommer Weise völlige Untätigkeit angedichtet, während sie im Gegenteil dessen Macht als die eines Schöpfers und Vaters anstaunen mussten und nicht die Welt über alles Mass verherrlichen durften. 8 Moses aber, der bis zum höchsten Gipfelpunkt der Philosophie vorgedrungen und durch göttliche Offenbarungen über die meisten und wichtigsten Dinge der Natur belehrt worden ist, erkannte sehr wohl, dass in den existierenden Dingen das eine die wirkende Ursache, das andere ein Leidendes sein muss, und dass jenes Wirkende der Geist des Weltganzen ist, der ganz reine und lautere, der besser ist als Tugend, besser als Wissen, besser als das Gute an sich und das Schöne an sich, 9 dass das Leidende dagegen an und für sich unbeseelt und unbeweglich ist, nachdem es aber von dem Geiste bewegt und gestaltet und beseelt worden, in das vollendetste Werk, in diese (sichtbare) Welt, sich verwandelte[3]. [30] Die aber von der Welt behaupten, dass sie unerschaffen sei, merken nicht, dass sie das nützlichste und notwendigste der zur Gottesverehrung führenden Dinge beseitigen, nämlich die Vorsehung. 10 Denn dass der Vater und Schöpfer um das Geschaffene sich kümmert, lehrt die Vernunft; denn ein Vater hat doch die Erhaltung seiner Kinder im Auge, ein Künstler die Erhaltung seiner Kunstwerke; mit allen Mitteln wehrt er ab, was ihnen nachteilig und schädlich ist, und alles Nützliche und Zuträgliche sucht er auf jede Weise herbeizuschaffen. Zu dem Nichtgewordenen dagegen hat derjenige, der nicht geschaffen hat, keinerlei Beziehung[4]. 11 Wertlos aber und unnütz ist die Ansicht, die in dieser Welt wie in einem Staate Anarchie annimmt, so dass sie keinen Aufseher, Lenker oder Richter hätte, von dem alles gerechter Weise regiert und geleitet werden muss. 12 Der grosse Moses dagegen erkannte, dass das Ungewordene (Ewige) zu dem Sichtbaren ganz und gar [3 M.] nicht passt; denn alles mit den Sinnen Wahrnehmbare ist im Werden und in Veränderung und bleibt niemals in demselben Zustand; er schrieb daher dem Unsichtbaren und nur Gedachten als verwandte Eigenschaft die Ewigkeit zu, während er dem sinnlich Wahrnehmbaren den ihm zukommenden Namen Genesis (Werden, Schöpfung) zuerteilte. Da nun diese Welt sichtbar und sinnlich wahrnehmbar ist, so ist sie notwendigerweise auch geschaffen; deshalb hat Moses mit Recht auch die Erschaffung der Welt beschrieben und in sehr würdiger Weise diese göttlichen Dinge behandelt.

[31] [3.] 13 In sechs Tagen, sagt er, ist die Welt geschaffen worden, nicht etwa weil der Schöpfer einen Zeitraum dazu nötig hatte – denn es ist selbstverständlich, dass Gott alles auf einmal bewirkt, nicht nur durch seinen Befehl, sondern schon durch sein Denken –, sondern weil für die Entstehung der Dinge eine bestimmte Ordnung nötig war. Zur Ordnung aber gehört die Zahl, und von den Zahlen ist nach den Gesetzen der Natur die für die Schöpfung passendste die Sechs[5]. Wenn man nämlich von der Eins an zählt, ist sie die erste vollkommene Zahl, da sie ihren Teilen gleich und aus ihnen zusammengesetzt ist, nämlich aus der Drei als der Hälfte, der Zwei als dem 3. Teil und der Eins als dem 6. Teil; zugleich ist sie, so zu sagen, sowohl männlich als weiblich und durch die Kraft der Vermischung beider Prinzipien zusammengesetzt; männlich ist nämlich in der Natur das Ungerade, das Gerade dagegen weiblich; von den ungeraden Zahlen ist nun die erste die 3, von den geraden die 2, und das Produkt beider ist die 6. 14 Denn es musste die Welt als das vollkommenste der gewordenen Dinge nach einer vollkommenen Zahl, der Sechs, geschaffen werden, und da sie die aus Paarung entstehenden Geschöpfe enthalten sollte, so musste sie auch selbst nach einer gemischten Zahl, der ersten geraden-ungeraden, gebildet werden, weil sie sowohl die Idee des den Samen spendenden Männlichen als die Idee des den Samen empfangenden Weiblichen umfassen sollte. 15 Einem jeden der sechs Tage aber teilte er einige Teile des ganzen Schöpfungswerkes zu, mit Ausnahme des ersten Tages, den er selbst, damit er nicht mit den anderen [32] zusammen gezählt würde, nicht den ersten nennt, sondern treffend als einen Tag bezeichnet[6], da er das Wesen der Einheit in ihm erblickte und ihm deshalb diese Bezeichnung beilegte. [4.] Von dem Inhalt (dieses Tages) müssen wir das anführen, was wir zu sagen imstande sind; denn alles zu sagen ist unmöglich. Er ist nämlich vor allen bevorzugt und umfasst die Schöpfung der gedachten Welt, wie der Bericht (der Bibel) über ihn besagt. 16 Da Gott nämlich bei seiner [4 M.] Göttlichkeit im voraus wusste, dass eine schöne Nachahmung niemals ohne ein schönes Vorbild entstehen kann und dass keines von den sinnlich wahrnehmbaren Dingen tadellos sein würde, das nicht einem Urbilde und einer geistigen Idee nachgebildet wäre, bildete er, als er diese sichtbare Welt schaffen wollte, vorher die gedachte, um dann mit Benutzung eines unkörperlichen und gottähnlichen Vorbildes die körperliche – das jüngere Abbild eines älteren – herzustellen, die ebensoviele sinnlich wahrnehmbare Arten enthalten sollte, wie in jener gedachte vorhanden waren[7].

17 Wir dürfen jedoch weder sagen noch denken, dass die aus den Ideen zusammengesetzte Welt sich an irgend einem Orte befindet; wie sie entsteht, werden wir erkennen, wenn wir ein Gleichnis aus dem menschlichen Leben betrachten. Wenn eine Stadt durch die grosse Freigebigkeit eines Königs gegründet wird oder eines Führers, der sich unumschränkte Macht aneignet und zugleich durch Edelsinn ausgezeichnet ist und seinem Glücke noch mehr Schmuck verleihen will, so kommt ein geschulter Baukünstler, betrachtet [33] das Klima und die günstige Lage des Ortes und skizziert zuerst bei sich nahezu sämtliche Teile der zu erbauenden Stadt, Tempel, Gymnasien, Amtsgebäude, Märkte, Häfen, Schiffswerfte, Strassen, die Anlage der Mauern, die Errichtung von Häusern und öffentlichen Gebäuden; 18 sodann nimmt er wie in einem Wachssiegel in seiner Seele die Formen aller Gegenstände auf und malt sich eine gedachte Stadt aus; und nachdem er deren Bilder durch das ihm angeborene Erinnerungsvermögen aufgefrischt und ihre Merkmale sich noch tiefer eingeprägt, beginnt er als tüchtiger Meister, das Auge auf das Musterbild gerichtet, mit dem Bau der aus Holz und Stein bestehenden (wirklichen Stadt), indem er die körperlichen Gegenstände den einzelnen unkörperlichen Ideen vollkommen ähnlich bildet[8]. 19 Aehnlich haben wir uns die Sache auch bei Gott zu denken, dass er also in der Absicht, die „Grossstadt“[9] zu bauen, zuerst im Geiste ihre Formen schuf, aus denen er eine gedachte Welt zusammensetzte und dann mit Benutzung jenes Musterbildes die sinnlich wahrnehmbare herstellte. [5.] 20 Gleichwie nun die in dem Baumeister zuvor entworfene Stadt nicht ausserhalb eine Stätte hatte, sondern nur der Seele des Künstlers eingeprägt war, ebenso hat auch die aus den Ideen bestehende Welt keinen andern Ort als die göttliche Vernunft, die dieses alles geordnet hat. Denn welchen andern Wohnsitz für die göttlichen Kräfte könnte es wohl geben, der geeignet wäre, ich sage nicht alle, sondern auch nur eine einzige, welche es auch sein mag, unverändert aufzunehmen und zu fassen? 21 Eine göttliche Kraft aber ist auch die weltschöpferische, die als [5 M.] Quelle das wahrhaft Gute hat. Denn wenn einer die Ursache [34] erforschen will, warum eigentlich dieses All geschaffen wurde, so scheint er mir das Ziel nicht zu verfehlen, wenn er behauptet – was übrigens auch schon einer der Alten gesagt hat[10] –, gütig sei der Vater und Schöpfer; deshalb hat er seine vollkommene Natur nicht der Materie vorenthalten, die aus sich selbst nichts Edles hat, aber die Fähigkeit besitzt alles zu werden. 22 Denn von selbst war sie ungeordnet, eigenschaftslos, leblos, ungleich, voll Verschiedenartigkeit, Disharmonie und Missklang; sie empfing aber ihre Veränderung und Umwandlung in die vorzüglichen Gegensätze, in Ordnung, Beschaffenheit, Beseeltsein, Gleichheit und Gleichartigkeit, Harmonie und Wohlklang und alle anderen Eigenschaften der besseren Art. [6.] 23 Von keinem Helfer – denn wer sonst existierte damals? – sondern nur von sich selbst beraten erkannte Gott, dass er mit reichen und verschwenderischen Gaben die Natur ausstatten müsse, die ohne göttliches Gnadengeschenk nicht imstande ist, irgend etwas Gutes von selbst zu erlangen. Allein nicht nach der Grösse seiner Gnade – denn diese ist grenzenlos und unendlich – erweist er Wohltaten, sondern nach Massgabe der Kräfte ihrer Empfänger; denn nicht so, wie Gott imstande ist Gutes zu tun, vermag auch das Geschöpf Gutes zu ertragen; denn über alles Mass gehen Gottes Kräfte, das Geschöpf aber ist zu schwach, um ihre ganze Grösse zu fassen, und es würde versagen, wenn er nicht in angemessener Weise jedem Einzelnen das ihm zukommende Mass abwöge und abmässe. 24 Will nun jemand einfachere Ausdrücke anwenden, so kann er wohl sagen, dass die gedachte Welt nichts anderes ist als die Vernunft des bereits welterschaffenden Gottes; denn auch die gedachte Stadt ist ja nichts anderes als der Gedanke des den Bau einer Stadt [35] planenden Baumeisters. 25 Das ist Moses' Meinung, nicht etwa die meinige; sagt er doch im folgenden bei der Beschreibung der Schöpfung des Menschen ausdrücklich, dass dieser nach dem Ebenbilde Gottes gebildet wurde (1 Mos. 1,27). Wenn aber schon der Teil[11] Abbild eines Bildes ist[12], also auch die ganze Gattung, diese ganze sinnlich wahrnehmbare Welt, da sie ja grösser ist als das menschliche Abbild, eine Nachahmung des göttlichen Bildes, so ist klar, dass das ursprüngliche Siegel (das Urbild), wie wir die gedachte Welt nennen, die Vernunft Gottes selbst ist.

[7.] 26 Er (Moses) sagt: „Im Anfang erschuf Gott den [6 M.] Himmel und die Erde.“ Darunter versteht er nicht, wie manche glauben, den Anfang hinsichtlich der Zeit; denn die Zeit existierte nicht vor der Welt, sie ist vielmehr entweder mit ihr oder nach ihr ins Dasein getreten. Denn da die Zeit das Intervall der Bewegung des Weltalls ist[13], Bewegung aber nicht früher als das Bewegte eintreten kann, sondern entweder später oder zugleich entstanden sein muss, so muss auch die Zeit entweder ebenso alt wie die Welt oder jünger als sie sein; der Versuch, sie als älter zu erweisen, wäre unphilosophisch[14]. 27 Wenn aber hier unter „Anfang“ nicht der zeitliche zu verstehen ist, so wird natürlich der Anfang der Zahl nach gemeint sein, so dass „im Anfang schuf“ dasselbe bedeutet wie „zuerst schuf“ er den Himmel. In der Tat ist es vernunftgemäss, [36] dass dieser als das vorzüglichste und aus dem reinsten (Stoffe) der Materie gebildete[15] aller geschaffenen Dinge zuerst ins Dasein trat, da er die hochheilige Wohnung der sichtbaren und sinnlich wahrnehmbaren Götter[16] sein sollte. 28 Denn wenn auch der Schöpfer alles zugleich erschuf, so war doch nichtsdestoweniger Ordnung in der schönen Schöpfung; denn nichts ist schön bei Unordnung. Ordnung aber ist die Aufeinanderfolge und Verbindung vorangehender und nachfolgender Dinge, wenn auch nicht immer in der Ausführung, so doch in den Gedanken der Verfertiger; so klar und deutlich und nicht verworren mussten diese gefasst sein. 29 Zuerst also erschuf[17] der Schöpfer einen unkörperlichen Himmel und eine unsichtbare Erde und die Idee der Luft und die des leeren Raumes; von den beiden letzteren nannte er die eine „Finsternis“, da der Luftraum seiner Natur nach dunkel ist[18], [37] die andere „Abgrund“, denn der leere Raum ist sehr tief und weit ausgedehnt[19]. Dann schuf er die unkörperliche Substanz des Wassers und die des Lufthauches und zu allen (diesen Dingen) als siebentes die Idee des Lichtes, das gleichfalls unkörperlich war, das gedachte Musterbild der Sonne und aller lichtspendenden Gestirne, die am Himmel entstehen sollten.

[8.] 30 Eines besonderen Vorzugs wurden der Lufthauch und das Licht gewürdigt; jenen nannte er (den Hauch) Gottes, weil der Hauch das am meisten Lebenspendende[20] und Gott der Urheber des Lebens ist; vom Lichte aber sagt er, dass es „ausserordentlich schön“ war (1 Mos. 1,4); denn das gedachte Licht ist um soviel glänzender und strahlender als das sichtbare, wie die Sonne die Finsternis überstrahlt und der Tag die Nacht und die Vernunft, der Leiter der ganzen Seele, die Augen des Körpers. 31 Jenes unsichtbare und gedachte Licht [7 M.] aber ist ein Abbild der göttlichen Vernunft, die seine Entstehung erklärt; es ist ein überhimmlisches Gestirn, die Quelle der sinnlich wahrnehmbaren Gestirne, die man treffend „Allglanz“ nennen könnte, aus dem Sonne und Mond und die übrigen Planeten und Fixsterne je nach ihrer Kraft die angemessenen Lichtquellen schöpfen, da jener ungemischte und reine Glanz sich trübt, sobald er anfängt, sich beim Uebergang aus dem Gedachten in das sinnlich Wahrnehmbare zu verwandeln; denn ganz rein ist keines der in der Sinnenwelt vorhandenen Dinge. [9.] 32 Trefflich ist auch das Wort: „Finsternis war über dem Abgrund“ (1 Mos. 1,2); denn die Luft ist gewissermassen über dem Leeren, da sie ja in den ganzen weitausgedehnten, öden und leeren Raum eindrang und ihn erfüllte, soweit wie er von der Mondsphäre bis zu uns reicht. 33 Aber nach dem Aufleuchten des gedachten Lichtes, das vor der Sonne geschaffen ist, wich die entgegengesetzte Idee, die Finsternis, zurück, indem Gott die beiden auseinanderrückte [38] und trennte, da er die Gegensätze und den aus ihrer Natur folgenden Widerstreit wohl kennt. Damit sie nun niemals mehr zusammentreffen und sich bekämpfen und statt des Friedens der Krieg die Oberhand gewinne und Unordnung in die Weltordnung hineinbringe, trennte er nicht nur Licht und Finsternis, sondern errichtete auch inmitten der Abstände Grenzmauern, durch die er ihre Endpunkte an der Berührung mit einander hinderte; denn als Nachbarn, die bei ihrer grossen und unaufhörlichen Streitsucht immer zum Kampfe um den Vorrang gerüstet sind, würden sie Verwirrung verursachen, wenn nicht in der Mitte aufgerichtete Grenzmauern sie auseinanderhalten und ihren Zusammenstoss vereiteln würden[21]. 34 Diese Grenzmauern sind Abend und Morgen; dieser bringt die frohe Botschaft, dass die Sonne bald aufgehen wird, und drängt allmählich die Finsternis zurück, der Abend dagegen folgt auf die untergehende Sonne und übernimmt mit Gelassenheit die dichte Masse der Finsternis. Auch diese beiden, nämlich Morgen und Abend, sind unter die unkörperlichen und gedachten Dinge einzureihen; gibt es doch bei diesen durchaus nichts sinnlich Wahrnehmbares, sie sind vielmehr ganz und gar Ideen, Masse, Formen und Siegel, unkörperliche Dinge zur Erzeugung anderer, die Körper sind. 35 Nachdem aber das Licht geschaffen, die Finsternis gewichen und entschwunden war, Grenzmauern innerhalb ihrer Abstände errichtet waren, nämlich Abend und Morgen, war notwendig ohne weiteres ein bestimmtes Zeitmass vollendet, das der Schöpfer „Tag“ nannte, aber nicht den ersten Tag, sondern einen; so nämlich ist er genannt wegen der Einzigkeit der gedachten Welt, die die Natur einer Einheit hat.

[10.] 36 Nun war die in der göttlichen Vernunft aufgebaute unkörperliche Welt vollendet, und nach ihrem Muster ward alsdann die sinnlich wahrnehmbare in vollkommener Gestalt [8 M.] hervorgebracht. Und zwar schuf der Schöpfer von ihren Bestandteilen zuerst den, der unter allen der vorzüglichste ist, [39] den Himmel, den er richtig „Feste“ nannte, da er doch körperlich ist; denn der Körper ist seiner Natur nach fest, weil er in dreifacher Richtung ausgedehnt ist; für das Feste und den Körper gibt es aber kein anderes Merkmal als die Ausdehnung nach allen (drei) Seiten. Im Gegensatz zu dem gedachten und unkörperlichen Himmel also nannte er mit Recht diesen sinnlich wahrnehmbaren und körperlichen „Feste.“ 37 Darauf nannte er ihn zugleich treffend und ganz natürlich „Himmel“, entweder weil er die Grenze aller Dinge bildet oder weil er zuerst von den sichtbaren Dingen geschaffen wurde[22]. Den Tag aber, der nach seiner Schöpfung abgelaufen ist, nennt er den zweiten, da er dem Himmel wegen seiner Würde und Ehrenstellung unter den sinnlich wahrnehmbaren Dingen die ganze Dauer und das volle Mass eines Tages zuwies.

[11.] 38 Da aber sämtliches Wasser sich über die ganze Erde ergossen hatte und in alle ihre Teile eingedrungen war, wie wenn ein Schwamm Feuchtigkeit aufsaugt, so dass Sümpfe und tiefer Morast entstanden, indem die beiden Elemente (Wasser und Erde) sich wie ein Teig zu einer einzigen unterschiedslosen und formlosen Masse verbunden und vermischt hatten, so befahl Gott, dass das Wasser, soweit es salzig war und in Saaten und Bäumen Unfruchtbarkeit erzeugen musste, aus den Poren der ganzen Erde zusammenströme und sich vereinige, das trockene Land dagegen sichtbar werde und nur das Süsswasser zur Festigung darin bleibe – denn die süsse Feuchtigkeit in einem bestimmten Mass ist gleichsam ein Kitt für die auseinanderstrebenden Teile –, damit sie (die Erde) einerseits nicht völlig austrockne und unfruchtbar und öde werde, andererseits wie eine Mutter beide Nahrungsarten, Speise und Trank, ihren Kindern so zu sagen darbieten könnte. Darum füllte er Brüsten gleich die Wasseradern an, die sich öffnend Flüsse und Quellen ausströmen sollten. 39 Ebenso breitete er die unsichtbaren feuchten Einschnitte über den ganzen fruchtbaren Erdboden aus behufs reichlicher Hervorbringung [40] von Früchten. Nachdem er dies angeordnet hatte, gab er ihnen Namen: das Trockene nannte er „Erde“ und das davon geschiedene Wasser „Meer.“ [12.] 40 Sodann beginnt er die Erde auszuschmücken. Er befiehlt, dass sie Gras und Aehren trage und allerlei Kräuter und futterreiche Felder hervorbringe und alles, was als Futter für die Tiere und als Nahrung für die Menschen dienen sollte. Ausserdem liess er alle Arten von Bäumen wachsen; keinen liess er aus, weder einen der wild wachsenden noch einen der sogenannten zahmen (edlen) Gattung. Es waren aber alle sofort bei ihrem [9 M.] ersten Entstehen mit Früchten belastet, im Gegensatz zu der jetzigen Art und Weise des Wachstums. 41 Denn jetzt wächst alles einzeln zu verschiedenen Zeiten, nicht alles insgesamt mit einem Male. Wer weiss nicht, dass das erste das Säen und Pflanzen ist, das zweite das Wachsen des Ausgesäten und Gepflanzten? Das eine treibt Wurzeln wie Fundamente nach unten, das andere drängt aufwärts, indem sie (die Pflanzen) in die Höhe streben und Stämme treiben. Dann zeigen sich die Triebe und die Knospen der Blätter und ganz zuletzt die Frucht. Und die Frucht wiederum erscheint nicht gleich in ihrer Vollendung, sie unterliegt noch erst mannigfachen Wandlungen hinsichtlich der Quantität in ihrer Grösse und hinsichtlich der Qualität in ihrer vielgestaltigen äusseren Erscheinung; denn die Frucht gleicht bei ihrem Entstehen unteilbaren und wegen ihrer Kleinheit kaum sichtbaren Stäubchen, die man wohl mit Recht die ersten sinnlich wahrnehmbaren Dinge nennen dürfte; hierauf wächst sie ganz allmählich infolge der ihr zugeführten feuchten Nahrung, die den Baum bewässert, sowie infolge der guten Mischung der Winde, die abwechselnd durch kühle und mildere Lüfte wärmen und nähren, und nimmt dann bis zur vollkommenen Grösse zu; mit der Grösse aber ändert sie auch ihre Beschaffenheit und schmückt sich, wie durch die Kunst des Malers, mit verschiedenen Farben. [13.] 42 Beim ersten Werden aller Dinge dagegen liess Gott, wie ich sagte, das ganze Pflanzenreich vollendet aus der Erde emporwachsen, mit Früchten und zwar nicht mit unfertigen, sondern vollkommen ausgereiften, zum sofortigen und unverzüglichen Gebrauch und Genuss der [41] Lebewesen, die alsbald geschaffen werden sollten. 43 Er befiehlt also der Erde, diese Dinge hervorzubringen; und sie bringt, wie wenn sie schon längst schwanger gewesen wäre, all die unzähligen Arten von Pflanzen, Bäumen und Früchten hervor. Aber nicht nur Nahrungsmittel für die Lebewesen waren die Früchte, sondern auch das Material für das immerwährende Entstehen der gleichen Arten, da sie die Samenstoffe enthielten, in denen unkenntlich und unsichtbar die Samenkräfte der Natur enthalten sind, die zu bestimmten Zeiten sichtbar werden und in die Erscheinung treten. 44 Denn indem Gott die Arten unsterblich machte und sie der Ewigkeit teilhaftig werden liess, wollte er, dass die Natur sich in einem Kreislauf bewege. Darum trieb und drängte er den Anfang zum Ende hin und liess das Ende wieder zum Anfang zurückkehren; denn aus den Pflanzen kommt die Frucht, wie aus dem Anfang das Ende, und aus der Frucht der Samenkern, der wiederum in sich die Pflanze enthält, wie aus dem Ende der Anfang entsteht.

[14.] 45 Am vierten Tage richtete Gott nach der Erde den Himmel ein und schmückte ihn, nicht als ob er diesen hinter der Erde zurücksetzen und dem geringeren Wesen den Vorrang geben wollte und das bessere und göttlichere nur der zweiten Stelle für würdig erachtete, sondern um klar und deutlich die Macht seiner Herrschaft (seine Allmacht) zu zeigen[23]. [10 M.] Denn er wusste im voraus, welcher Art die Ansichten der damals noch nicht geschaffenen Menschen sein würden: dass sie ihr Augenmerk auf das Wahrscheinliche und scheinbar Glaubliche, worin nur teilweise Vernünftiges steckt, und nicht auf die reine Wahrheit richten, dass sie mehr auf die Naturerscheinungen als auf Gott vertrauen, mehr die Scheinweisheit als die (wirkliche) Weisheit bewundern und aus der wiederholten Betrachtung der Umdrehungen von Sonne und Mond, durch die Sommer und Winter, Frühjahrs- und Herbstwende entstehen, den Schluss ziehen würden, dass alles, was [42] in jedem Jahre aus der Erde hervorwächst und entsteht, in den Kreisläufen der Gestirne am Himmel seine Ursache habe; damit daher nicht manche entweder aus schamloser Keckheit oder infolge ausserordentlicher Unwissenheit das erste Wirken einem geschaffenen Wesen zuzuschreiben wagen, meinte er: 46 Mögen sie doch im Geiste bis zum ersten Entstehen des Alls zurückgehen, bis zu dem Zeitpunkte, wo die Erde vor Erschaffung von Sonne und Mond allerlei Pflanzen und allerlei Früchte trug, mögen sie dies in ihrem Geiste beachten und daraus die Ueberzeugung schöpfen, dass die Erde auch ein andermal Früchte tragen wird nach dem Befehle des Vaters, wenn es ihm gefiele, ihm, der der Beihilfe seiner Kinder am Himmel nicht bedarf, denen er Kräfte zwar verliehen hat, aber nicht unumschränkte; denn wie ein Wagenlenker, der die Zügel, oder wie ein Steuermann, der das Ruder festhält, lenkt er alles, wohin er will, nach Gesetz und Recht, ohne eines andern zu bedürfen; denn Gott vermag alles. [15.] 47 Das ist der Grund, warum zuerst die Erde sprosste und grünte. Der Himmel aber ward alsdann ausgeschmückt in einer vollkommenen Zahl, der Vier, die man wohl, ohne fehlzugehen, als den Ausgangspunkt und die Quelle der Vollkommenheit, der Zehn, bezeichnen könnte[24]. Denn was die 10 in Wirklichkeit ist, das ist die 4, wie es scheint, in der Möglichkeit. Werden nämlich die Zahlen von 1 bis 4 der Reihe nach zusammengezählt, so ergeben sie die Zahl 10, die stets in der unendlichen Reihe der Zahlen die Grenze bildet, um die sie wie um die Biegung der Rennbahn sich drehen und herum bewegen[25]. 48 Die Vierzahl umfasst aber auch die Zahlenverhältnisse der Gleichklänge (Konsonanzen) in der Musik, der Quart, der Quint, der Oktave und der Doppeloktave, aus denen das vollkommenste Tonsystem gebildet wird. Das Verhältnis bei der durch 4 Töne (Quart) gebildeten Tonreihe beträgt 11/3, bei der durch 5 Töne (Quint) 1½, bei der einfachen Oktave [43] 2, bei der Doppeloktave 4. Alle diese fasst die Vierzahl in sich; 11/3 ist das Verhältnis 4:3, 1½ das Verhältnis [11 M.] 3:2, 2 das Verhältnis 2:1 oder 4:2 und 4 das Verhältnis 4:1[26].

[16.] 49 Es ist aber noch eine andre auffallende Bedeutung der Vier zu besprechen und zu beachten. Sie zeigt zuerst die Natur des festen Körpers, während die ihr vorangehenden Zahlen den unkörperlichen (Begriffen) zukommen. Nach der 1 nämlich wird der in der Geometrie so genannte Punkt bestimmt, nach der 2 die Linie, weil durch die Fortbewegung der 1 die 2 entsteht und durch die Fortbewegung des Punktes die Linie. Die Linie ist Länge ohne Breite; durch das Hinzukommen der Breite entsteht die Fläche, die durch die 3 bestimmt wird. Die Fläche aber hat, um die Natur des Körpers zu erlangen, noch eins nötig, nämlich die Tiefe (oder Höhe); wird diese zur 3 hinzugefügt, so entsteht die 4. Hieraus geht hervor, wie wichtig diese Zahl ist, die uns von der unkörperlichen und gedachten Substanz zum Begriff des dreifach ausgedehnten Körpers hinleitet, der seiner Natur nach das erste mit den Sinnen wahrnehmbare Ding ist. 50 Wer das Gesagte nicht versteht, wird es aus einem ganz bekannten [44] Spiel begreifen. Die Nüssespieler pflegen auf eine Fläche drei Nüsse zu legen und eine Nuss daraufzusetzen, so dass eine pyramidenähnliche Figur entsteht; das in der Fläche liegende Dreieck reicht also bis zur Dreizahl, die daraufgesetzte Nuss aber bringt das hervor, was in der Zahlenlehre die 4, in der (mathem.) Figurenlehre die Pyramide ist, ein fester Körper. 51 Ferner darf nicht unbeachtet bleiben, dass die 4 die erste Quadratzahl ist, ein Produkt aus gleichen Zahlen, das Mass der Gerechtigkeit und Gleichheit[27], und dass sie allein aus denselben Zahlen sowohl durch Addition als durch Multiplikation entsteht, durch Addition aus 2+2, durch Multiplikation aus 2×2 ; sie zeigt also ein schönes Bild von Gleichklang, wie es bei keiner anderen Zahl vorkommt. Zum Beispiel die 6 ist doch die Summe von 2 Dreiheiten; werden diese aber vervielfacht, so entsteht nicht die 6, sondern eine andere Zahl, die 9. 52 Noch viele andere Bedeutungen hat die Vierzahl, die genauer in einer besonderen Abhandlung[28] erörtert werden sollen. Es genügt, hier noch das hinzuzufügen, dass sie das Prinzip für die Schöpfung des ganzen Himmels und der Welt ist; denn die vier Elemente, aus denen das All gebildet wurde, flossen aus der Vierzahl wie aus einer Quelle hervor. Ausserdem sind auch die Jahreszeiten, die Entstehungsursachen von Lebewesen und Pflanzen, vier an der Zahl, da das Jahr in vier Teile zerfällt, in Winter, Frühling, Sommer und Herbst.

[17.] 53 Weil nun die besprochene Zahl eines solchen Vorzugs in der Natur gewürdigt ist, darum versah der Schöpfer notwendigerweise am vierten Tage den Himmel mit dem schönsten und göttlichsten Schmuck, den leuchtenden Gestirnen. Und da er wusste, dass das Licht von allen existierenden Dingen das beste ist, machte er es zum Organ des besten [12 M.] der Sinne, des Sehvermögens. Denn was die Vernunft in der Seele ist, das ist das Auge im Körper; denn beide sehen, jene die rein geistigen Dinge, dieses die sinnlich wahrnehmbaren. [45] Und wie die Vernunft der Einsicht bedarf, um die unkörperlichen Dinge zu erkennen, so bedarf das Auge, um die Körper wahrzunehmen, des Lichtes, das auch die Ursache vieler anderer Güter für die Menschen ist, besonders aber des höchsten Gutes, der Philosophie. 54 Denn sobald das Gesicht, vom Licht hinaufgeleitet, die Natur und die harmonische Bewegung der Gestirne wahrnahm, die wohlgeordneten Umdrehungen der Fixsterne und Planeten, von denen jene sich in immer gleicher Weise bewegen, diese in ungleicher und entgegengesetzter Weise zweierlei Bewegungen machen[29], und ihre harmonischen, nach den Gesetzen vollkommener Musik geordneten Reigentänze[30], bot es der Seele eine unsagbare Lust und Wonne; und je mehr diese sich an dem Anblick der Erscheinungen weidete, die nacheinander, eine aus der anderen folgend, sich ihr zeigten, desto unersättlicher ward ihr Verlangen nach geistigem Schauen. Dann ging sie weiter, wie sie es gern tut, und forschte, was denn das Wesen dieser sichtbaren Dinge sei, ob sie unerschaffen (ewig) seien oder einen Anfang gehabt haben, welcher Art ihre Bewegung sei und welches die Ursachen, durch die sie alle geleitet werden. Aus der Forschung über diese Dinge entstand die Philosophie, das vollkommenste Gut, das in das menschliche Leben eingetreten ist.

[18.] 55 Im Hinblick also auf jene Idee des gedachten Lichtes, von der bei der unkörperlichen Welt die Rede war, schuf Gott die sinnlich wahrnehmbaren Gestirne, göttliche und überaus herrliche Gaben, die er, wie in einem Heiligtume, am reinsten Teile der körperlichen Natur, am Himmel, befestigte, und zwar zu vielen Zwecken: erstens, damit sie leuchten, zweitens zu Zeichen, dann zur Bestimmung [46] der Jahreszeiten, schliesslich zur Unterscheidung der Tage, Monate und Jahre (1 Mos. 1, 14. 15), die doch die Masse der Zeit sind und den Begriff der Zahl hervorgebracht haben. 56 Was für einen Nutzen und Vorteil ein jedes der genannten Gestirne gewährt, lehrt schon der Augenschein; aber zu besserem Verständnis ist es vielleicht nicht unpassend, auch mit der Vernunft die Wahrheit aufzuspüren. Da die gesamte Zeit in zwei Teile, in Tag und Nacht, geteilt ist, so verlieh der Allvater die Herrschaft über den Tag der Sonne, wie einem Grosskönig, und über die Nacht dem Monde und der Menge der anderen Gestirne. 57 Die Grösse der der Sonne verliehenen Macht ist, wie gesagt, offenkundig; denn obgleich sie einzig und allein und nur für sich ist, hat sie als das ihr zugefallene Los die Hälfte der ganzen Zeit, den Tag, erhalten, hingegen [13 M.] alle übrigen mit dem Mond die andere Hälfte, die Nacht genannt ist; wenn die Sonne aufgeht, verdunkelt sich nicht nur, sondern verschwindet gänzlich vor der Fülle ihres Glanzes der Schein der zahlreichen Sterne; erst wenn sie untergeht, beginnen jene insgesamt die ihnen eigentümliche Beschaffenheit zu zeigen. [19.] 58 Sie sind aber, wie Moses selbst sagt, nicht nur geschaffen, um Licht auf die Erde zu senden, sondern auch um Vorzeichen zukünftiger Dinge erscheinen zu lassen; denn aus ihrem Auf- oder Untergange oder ihrer Verfinsterung oder ihrem Wiedererscheinen oder ihrem Verschwinden oder aus anderen Vorgängen in ihren Bewegungen erraten die Menschen künftige Ereignisse[31]: Fruchtbarkeit und Unfruchtbarkeit, das Entstehen und Vergehen von Lebewesen, heiteres Wetter und Bewölkung, Windstille und gewaltige Stürme, Anschwellen und Austrocknen der Flüsse, Meeresstille und Seesturm, Veränderungen der Jahreszeiten, sei es dass ein Sommer winterlich kalt oder ein Winter warm oder ein Frühling herbstlich oder ein Herbst frühlingsmässig wird. 59 Manche haben auch schon aus den Bewegungen am Himmel Erderschütterungen [47] und Erdbeben und sehr viele andere ungewöhnliche Dinge vorhergesagt, so dass sehr richtig gesagt ist, die Gestirne seien „zu Zeichen“ geschaffen (1 Mos. 1,14). Ferner heisst es da: „zu bestimmten Zeiten“; damit meint er die Jahreszeiten, und wohl mit Recht; denn der Ausdruck καιρός (bestimmte oder günstige Zeit) bedeutet doch nichts anderes als die Zeit der glücklichen Ausführung. Die Jahreszeiten aber führen alles glücklich durch und bringen es zur Vollendung, das Aussäen und Pflanzen der Früchte, das Entstehen und Wachsen der Lebewesen. 60 Sie sind aber auch „zu Massbestimmungen der Zeit“ geschaffen; denn durch die festgesetzten Kreisbewegungen der Sonne, des Mondes und der anderen Gestirne entstehen die Tage und die Monate und die Jahre. Zugleich ist damit auch das Nützlichste, der Begriff der Zahl, in die Erscheinung getreten, indem die Zeit ihn offenbarte; denn aus einem Tag ergab sich die Zahl 1, aus zwei Tagen die 2, aus drei Tagen die 3, aus einem Monat die 30, aus einem Jahre die Zahl, die den Tagen der 12 Monate gleichkommt, und aus der unendlichen Zeit die unendliche Zahl. 61 Auf so viele und und so notwendige nutzbringende Dinge erstrecken sich die Wirkungen der Himmelskörper und die Bewegungen der Gestirne; aber auch noch auf viele andere Dinge, könnte ich sagen, die uns zwar unklar sind – denn nicht alles ist dem Menschengeschlecht bekannt –, die aber zur Erhaltung des Weltganzen beitragen und nach den Regeln und Gesetzen, die Gott als unverrückbare Grenzsteine im All errichtet hat, überall und auf alle Weise zustande kommen.

[20.] 62 Nachdem aber Erde und Himmel mit den passenden Schmuckgegenständen ausgestattet waren, jene am dritten und dieser, wie gesagt, am vierten Tage, begann er die Arten sterblicher Wesen zu erschaffen, indem er am fünften Tage den Anfang [14 M.] mit den Wassertieren machte, in der Ueberzeugung, dass kein Ding mit einem andern so verwandt ist wie die Fünfzahl mit den Lebewesen. Denn die beseelten Wesen unterscheiden sich von den unbeseelten durch nichts so sehr wie durch die sinnliche Wahrnehmung; diese aber ist fünffach geteilt: in Gesicht-, Gehör-, Geschmack-, Geruch- und Tastsinn. Einem jeden nun teilte der Schöpfer besondere Stoffe und ein eigenes Urteilsvermögen [48] zu, mit dem er die sinnfälligen Gegenstände unterscheiden soll: der Gesichtsinn erhielt die Farben, der Gehörsinn die Laute, der Geschmacksinn die Geschmacksunterschiede, der Geruchsinn die Düfte, der Tastsinn Weichheit und Härte, Wärme und Kälte, Glätte und Rauheit. 63 Allerlei Arten von Fischen und Seetieren, verschieden an Grösse und Beschaffenheit, lässt Gott also entstehen je nach der Oertlichkeit; denn in den Meeren leben bald diese bald jene Arten, manchmal auch dieselben; nur wurden nicht überall alle Arten gebildet, und dies mit Recht; denn manche Fischarten lieben ein seichtes und nicht sehr tiefes Wasser, andere dagegen tiefe Buchten und Häfen, da sie weder aufs Land kriechen noch in weiter Entfernung vom Lande schwimmen können; wieder andere leben in der Mitte und Tiefe des Meeres und vermeiden die Vorgebirge, Inseln und Klippen. Auch gedeihen manche mehr bei heiterem Wetter und Windstille, andere bei Seesturm und hohem Wellenschlag; denn an die beständigen Schläge gewöhnt, wehren sie den Anprall kräftig ab und werden so stärker und fetter. Gleichzeitig erschuf Gott auch die Arten der Vögel, die ja den Bewohnern des Wassers verwandt sind – denn beide sind gewissermassen Schwimmer[32] –, und keine Gattung der Luftwandler liess er unvollendet.

[21.] 64 Nachdem nun das Wasser und die Luft die für sie passenden Arten von Lebewesen gleichsam zum Eigentum erhalten hatten, rief Gott wiederum die Erde zur Hervorbringung des noch übrig gebliebenen Teiles – es waren aber nach den Pflanzen noch die Landtiere übrig – und sprach: „Es möge die Erde Vieh, Gewild und Kriechtiere jeder Art hervorbringen“ (1 Mos. 1,24). Sie aber brachte sogleich die verlangten (Lebewesen) hervor, die sowohl in ihrem Bau als auch hinsichtlich ihrer Kräfte und der ihnen innewohnenden schädlichen oder nützlichen Fähigkeiten sehr verschieden waren. 65 Ganz zuletzt aber schuf er den Menschen. Auf welche Weise, werde ich später sagen, nachdem ich vorher gezeigt, dass es [49] eine sehr schöne Stufenfolge ist, in der die Schöpfung der Lebewesen nach seiner Anweisung erfolgte. Die roheste und am wenigsten ausgebildete Seele ist der Gattung der Fische zugeteilt[33], die vollkommenste und in jeder Hinsicht beste dem Menschengeschlecht, die in der Mitte zwischen beiden liegende dem Geschlecht der Landtiere und Luftwandler; die letztere ist nämlich empfindungsfähiger als die der Fische, [15 M.] aber schwächer als die im Menschen waltende. 66 Deshalb schuf er als die ersten beseelten Wesen die Fische, die mehr von der körperlichen als von der seelischen Substanz besitzen und gewissermassen Lebewesen und nicht Lebewesen sind, bewegte Unbeseelte, da ihnen nur zur Erhaltung des Körpers etwas Seelenartiges beigemischt wurde, wie etwa das Salz dem Fleisch zugesetzt wird, damit es nicht so leicht verderbe. Nach den Fischen schuf er die Vögel und Landtiere; denn diese sind schon empfindungsfähiger und zeigen in ihrer Gestaltung deutlicher die Eigenart ihrer Beseeltheit. Zuletzt, wie gesagt, schuf er den Menschen, dem er als besonderen Vorzug den Geist schenkte, gewissermassen eine Seele der Seele, wie die Pupille im Auge; denn auch diese nennen diejenigen, welche die Natur der Dinge genauer erforschen, das Auge des Auges.

[22.] 67 Damals also entstand alles zu gleicher Zeit; obwohl aber alles zugleich entstand, musste doch die Schilderung in bestimmter Ordnung gegeben werden, weil nach einer solchen in Zukunft alles aus einander entstehen sollte. Bei der Entstehung der Einzelwesen ist aber die Ordnung diese, dass die Natur mit dem Unbedeutendsten anfängt und mit dem Allerbesten aufhört[34]. Wie das gemeint ist, muss mehr verdeutlicht [50] werden. Der Same ist bekanntlich der Ursprung des Werdens der Lebewesen; dieser ist, wie der Augenschein lehrt, etwas Geringfügiges, er gleicht dem Schaume. Aber sobald er in den Mutterschoss gelangt und sich dort festsetzt, erlangt er sogleich Bewegung und verwandelt sich in organische Natur. Organische Natur aber ist ein Höheres als der Same, da ja Bewegung besser ist als Ruhe in den Geschöpfen. Die Natur aber bildet wie ein Künstler oder richtiger gesagt wie die tadellose Kunst selbst das tierische Leben, indem sie die feuchte Substanz auf die Glieder und Teile des Körpers verteilt und die geistige auf die beiden Kräfte der (tierischen) Seele, die nährende und die empfindende (denn die Denkkraft ist hier bei Seite zu lassen, da manche behaupten, dass sie von aussen hineinkommt, weil sie göttlich und ewig ist). 68 Die Natur beginnt also mit dem geringfügigen Samen und endet mit dem Höchsten, dem vollendeten Bau des Tieres und des Menschen. Ganz dasselbe geschah auch bei der Entstehung des Weltganzen: als es dem Schöpfer gefiel, Lebewesen zu schaffen, kamen in richtiger Ordnung zuerst die unbedeutendsten, die Fische, und zuletzt die besten, die Menschen; die andern aber, nämlich die Landtiere und das Geflügel, stehen in der Mitte zwischen jenen, sie sind besser als die ersten und geringer als die an zweiter Stelle genannten,

[23.] 69 Nach allen anderen Geschöpfen also ist, wie gesagt, der Mensch geschaffen worden, und zwar, wie es heisst, „nach dem Bilde Gottes und nach seiner Aehnlichkeit“ (1 Mos. 1,26). Sehr richtig; denn kein erdgeborenes Wesen ist Gott so ähnlich wie der Mensch. Diese Aehnlichkeit darf man aber nicht in der Eigentümlichkeit des Körpers vermuten; denn weder hat Gott menschliche Gestalt noch ist der menschliche Körper [16 M.] gottähnlich. Jene Ebenbildlichkeit bezieht sich nur auf den Führer der Seele, den Geist; denn nach dem einzigen führenden Geist des Weltalls als Urbild wurde der Geist in jedem einzelnen Menschen gebildet, der also gewissermassen der Gott des Körpers ist, der ihn als göttliches Bild in sich trägt. [51] Denn was der grosse Lenker im Weltall ist, das ist wohl der menschliche Geist im Menschen[35]; er ist selbst unsichtbar, sieht aber alles, er ist seinem Wesen nach unkenntlich, erkennt aber das Wesen der anderen Dinge; durch Künste und Wissenschaften bahnt er sich weitverzweigte Heerstrassen und durchwandert die ganze Erde und das Meer und erforscht alles, was in beiden ist. 70 Und dann[36] erhebt er sich im Fluge und betrachtet die Luft und ihre Veränderungen und schwingt sich immer höher hinauf zum Aether und in die Himmelskreise und dreht sich mit den Reigentänzen der Planeten und Fixsterne nach den Gesetzen der vollkommenen Musik; indem er der Liebe zur Weisheit als Führerin folgt, schreitet er über die ganze sinnlich wahrnehmbare Welt hinaus und strebt nach der rein geistigen; 71 und wenn er hier die Urbilder und die Ideen der sinnlich wahrnehmbaren Dinge, die er dort gesehen, in ihrer ausserordentlichen Schönheit betrachtet, ist er von einer nüchternen Trunkenheit[37] eingenommen und gerät in Verzückung wie die korybantisch Begeisterten[38]; und erfüllt von anderer Sehnsucht und besserem Verlangen, wird er durch dieses zum höchsten Gipfel des rein Geistigen emporgetragen und glaubt bis zum „Grosskönige“ selbst vorzudringen. Wenn er nun begierig ist zu schauen, ergiessen sich über ihn stromweise reine und ungetrübte Strahlen vollen Lichtes, so dass durch ihren Glanz das geistige Auge geblendet wird. – Da aber nicht jedes Bild dem ursprünglichen Musterbilde ähnlich ist, da im Gegenteil viele unähnlich sind, [52] so fügte er zu den Worten „nach dem Bilde“ noch hinzu „nach seiner Aehnlichkeit“, um anzudeuten, dass das Abbild genau und von klarstem Ausdruck war.

[24.] 72 Mit Recht könnte einer fragen, warum wohl Moses die Schöpfung des Menschen nicht einem Schöpfer, wie alles andere, sondern gewissermassen mehreren zuschreibt. Er lässt nämlich den Allvater also sprechen: „Lasst uns einen Menschen machen nach unserem Ebenbilde und unserer Aehnlichkeit“ (1 Mos. 1,26). Er, dem alles untertan ist, sollte ich meinen, hat doch nicht irgend eine Hilfe nötig? Damals als er den Himmel und die Erde und das Meer schuf, brauchte er keinen Mitarbeiter; den Menschen aber, ein so unbedeutendes und hinfälliges Lebewesen, war er nicht imstande ohne die Mithilfe anderer aus eigener Kraft selbst zu schaffen? Die wahre Ursache hiervon weiss selbstverständlich Gott allein; was aber nach wahrscheinlicher Vermutung die glaubhafte und einleuchtende Ursache zu sein scheint, darf nicht verschwiegen werden. 73 Es ist dies folgende. Unter den existierenden [17 M.] Dingen gibt es zunächst solche, die weder mit Tugend noch mit Schlechtigkeit etwas zu schaffen haben, wie die Pflanzen und die unvernünftigen Tiere, jene, weil sie unbeseelt und nicht mit Vorstellungsvermögen versehen sind, diese, weil Geist und Vernunft ihnen abgeht; Geist und Vernunft sind aber gleichsam das Haus, in dem Schlechtigkeit und Tugend sich aufhalten. Dann gibt es wieder solche, die nur Tugendhaftigkeit besitzen und an keiner Schlechtigkeit Anteil haben, wie die Gestirne; denn diese, sagt man, sind Lebewesen und zwar vernünftige Lebewesen, oder vielmehr jedes einzelne ganz Vernunft, jedes durchaus tugendhaft und für alles Böse unempfänglich. Endlich gibt es Wesen von gemischter Natur, wie der Mensch, der alle Gegensätze in sich aufnimmt: Verstand und Unverstand, Sittsamkeit und Zuchtlosigkeit, Tapferkeit und Feigheit, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, um es kurz zu sagen, Gutes und Böses, Schönes und Hässliches, Tugend und Laster. 74 Für Gott den Allvater geziemte es sich nun wohl, selbst und allein die tugendhaften Wesen zu erschaffen, weil sie ihm selbst verwandt sind; auch die Schöpfung der indifferenten Dinge lag ihm nicht fern, da auch [53] diese an der ihm verhassten Schlechtigkeit keinen Anteil haben; dagegen war die Schöpfung der gemischten Wesen teils passend teils unpassend für ihn, passend wegen der ihnen beigemischten besseren Idee, unpassend wegen der entgegengesetzten schlechteren. 75 Deshalb heisst es nur bei der Schöpfung des Menschen, dass Gott sprach: „lasst uns machen“, was die Hinzuziehung anderer als Mitarbeiter andeutet, damit bei den tadellosen Entschlüssen und Taten des richtig handelnden Menschen Gott, der Lenker aller Dinge, als Urheber gelte, andere Wesen dagegen, die seine Untergebenen sind, bei den entgegengesetzten; denn nicht durfte der Vater Urheber des Bösen für seine Kinder sein; ein Böses aber sind das Laster und die lasterhaften Handlungen[39]. – 76 Sehr treffend bezeichnet er die Gattung als „Mensch“ und unterscheidet dann ihre Arten, indem er sagt, „männlich und weiblich sei (der Mensch) geschaffen worden“ (1 Mos. 1,27), obwohl die Einzelwesen hier noch nicht ihre Gestalt erhielten; die nächsten Arten sind nämlich in der Gattung enthalten und zeigen sich denen, die ein scharfes Auge haben, wie in einem Spiegel[40].

[54] [25.] 77 Es könnte aber einer nach dem Grunde fragen, [18 M.] weshalb der Mensch das letzte Stück der Weltschöpfung ist; denn nach allen anderen Werken hat ihn der Schöpfer und Vater geschaffen, wie die heiligen Schriften erzählen. Diejenigen nun, die tiefer in den Sinn der Gesetze eingedrungen sind und ihren Inhalt möglichst gründlich erforschen, geben als Grund an, dass Gott den Menschen durch die Gewährung der Vernunft, die ja die beste Gabe war, mit sich selbst verwandt machte und deshalb auch alles übrige ihm nicht missgönnen wollte, dass er also für ihn als das ihm verwandteste und liebste Geschöpf alles in der Welt vorher bereitstellte, weil er wollte, dass ihm gleich nach seiner Erschaffung keines der Dinge fehle, die zum Leben[41] und zum guten Leben[42] notwendig sind. Zum Leben gehören reichliche Nahrungs- und Genussmittel, das gute Leben dagegen gewährt die Betrachtung der Himmelserscheinungen; durch diese gefesselt, bekommt der Geist Lust und Verlangen nach Einsicht in ihr Wesen, und daraus ist die Wissenschaft der Philosophie erwachsen, durch die der Mensch, obwohl er sterblich ist, zur Unsterblichkeit geführt wird. 78 Gleichwie also die Gastgeber nicht eher zum Mahle rufen, als bis alles zur Mahlzeit Notwendige gut zubereitet ist[43], und die Veranstalter von gymnastischen [55] und szenischen Wettkämpfen, bevor sie die Zuschauer in das Theater und in die Rennbahn einlassen, erst die sämtlichen Wettkämpfer und alle Genüsse für Aug' und Ohr gut vorbereiten, so hat auch der Lenker des Alls wie ein Kampfspielordner und Gastgeber, als er den Menschen zum Mahle und zum Schauspiel rufen wollte, erst das zu beiden Nötige gut vorbereitet, damit er bei seinem Eintritt in die Welt sogleich ein Gastmahl und ein hehres Theater vorfände, ein Gastmahl, das gefüllt ist mit allem, was Erde und Flüsse und Meer und Luft zum Gebrauch und Genuss hervorbringen, und ein Theater, das mannigfaltige Schaustücke bietet von überraschenden Wesen, überraschenden Eigenschaften, erstaunlichen Bewegungen und Reigentänzen in harmonischen Ordnungen, in regelmässigen Zahlenverhältnissen und in übereinstimmenden Umläufen. Man wird nicht fehlgehen, wenn man in allen diesen die ursprüngliche, wahrhafte und vorbildliche Musik findet, von der die später lebenden Menschen Abdrücke in ihrer Seele aufgenommen und so eine notwendige und für das Menschenleben sehr nützliche Kunst überliefert haben[44].

[26.] 79 Das ist der erste Grund, weshalb der Mensch zuletzt geschaffen zu sein scheint; ich muss aber noch einen zweiten ebenso treffenden anführen. Gleich bei seinem Entstehen fand der Mensch alle Zurüstungen für das Leben; darin liegt eine Lehre für die Späteren, indem die Natur ihnen damit gewissermassen laut verkündet, dass sie, wenn sie den Urheber des Menschengeschlechts nachahmen, mühe- und kummerlos in reichstem Ueberfluss an den erforderlichen Dingen [19 M.] leben werden. Das wird dann geschehen, wenn weder die unvernünftigen Gelüste die Seele beherrschen, die die Völlerei und Wollust darin befestigen, noch Ruhm- und Hab- und Herschsucht die Macht über das Leben sich aneignen, noch auch die Leiden die Seele beugen und niederdrücken, noch auch die Furcht, die schlechte Beraterin, die Triebe zu tugendhaften Handlungen zurückdrängt, noch Unverstand, [56] Feigheit, Ungerechtigkeit und die unzählige Menge anderer Laster die Seele bedrängen. 80 Denn jetzt, da alle die genannten Untugenden die Oberhand haben und die Menschen sich zügellos ihren Leidenschaften und masslosen und sündhaften Begierden, die man nicht einmal aussprechen darf, hingegeben haben, kommt gleich die gebührende Strafe für ihr gottloses Treiben; und die Strafe besteht in der Schwierigkeit der Beschaffung der notwendigen Lebensbedürfnisse; mit Mühe durchpflügen sie den Acker, leiten Kanäle aus Quellen und Flüssen, säen und pflanzen, leisten die schwere Ackermannsarbeit unablässig Tag und Nacht und ernten alljährlich ihren Bedarf an Nahrung, und diese zuweilen kärglich und nicht ausreichend, weil sie aus verschiedenen Ursachen beschädigt wurde: entweder haben rasch aufeinanderfolgende Regengüsse sie verwüstet oder häufig niederstürzender schwerer Hagel sie geknickt oder der Schnee sie zum Erfrieren gebracht oder die Gewalt der Stürme sie entwurzelt; denn Wasser und Luft führen oft unerwartet Missernte herbei. 81 Würden aber die masslosen Antriebe der Leidenschaften durch Masshalten gemildert, die eifrigen Bestrebungen, unrecht zu tun, durch Gerechtigkeit und, um es kurz zu sagen, die Untugenden und die ihnen entsprechenden unnützen Handlungen durch Tugenden und tugendhaftes Wirken, und würde so der Kampf in der Seele beigelegt, der unleugbar der mühseligste und schwerste aller Kämpfe ist, und zöge dafür der Frieden ein, der in stiller und sanfter Weise den rechten Gebrauch der in uns waltenden Kräfte ermöglicht, so wäre Hoffnung vorhanden, dass Gott als Freund der Tugend und des Schönen und auch des Menschen die von selbst gewachsenen Güter fertig zum Genuss dem Menschengeschlecht gewähren wird. Denn offenbar ist es doch leichter, reichlichen Ertrag aus dem Vorhandenen ohne Bodenbearbeitung zu spenden, als das Nichtexistierende erst ins Dasein zu rufen.

[27.] 82 Dies sei als zweiter Grund angeführt; ein dritter aber ist der folgende. Da Gott Anfang und Ende der Schöpfung wie nahe Verwandte und Freunde zusammenzubringen gedachte, schuf er zuerst den Himmel und zuletzt den Menschen, jenen als das vollkommenste der unvergänglichen Dinge in der [57] Sinnenwelt, diesen als das vorzüglichste der erdgeborenen und [20 M.] vergänglichen (Geschöpfe), der so zu sagen ein kleiner Himmel ist[45], da er viele sternähnliche Wesen als Bilder in sich trägt[46] in Künsten und Wissenschaften und in den herrlichen Grundsätzen jeglicher Tugend. Denn da das Vergängliche und das Unvergängliche von Natur Gegensätze sind, so wies er von beiden Arten das Schönste dem Anfang und dem Ende zu, dem Anfang, wie gesagt, den Himmel, dem Ende den Menschen.

[28.] 83 Endlich wird noch folgendes als zwingender Grund angegeben. Der Mensch musste das letzte aller geschaffenen Dinge sein, damit er durch sein plötzliches Erscheinen als letzter den übrigen Lebewesen Schrecken einflösse; denn sobald sie ihn sahen, sollten sie ihn anstaunen und ihm Ehrfurcht bezeigen wie einem natürlichen Führer und Gebieter[47]. Deshalb wurden sie auch, als sie ihn erblickten, samt und sonders zahm; auch alle, die ihrer Natur nach sehr wild sind, wurden sofort beim ersten Anblick sehr unterwürfig und zeigten wohl gegen einander unbändige Kampfeswut, gegen den Menschen allein aber Fügsamkeit. 84 Aus diesem Grunde [58] hat ihn auch der Vater, da er ihn als ein von Natur zum Herrschen geeignetes Wesen schuf, nicht nur tatsächlich, sondern auch durch ein ausdrückliches Gotteswort zum Herrscher über alles eingesetzt, was unter dem Monde auf dem Lande und im Wasser und in der Luft lebt (1 Mos. 1,26)[48]; denn alles, was sterblich ist in den drei Elementen Erde, Wasser und Luft, ordnete er ihm unter; nur die himmlischen Wesen nahm er aus, die ja ein göttliches Los erhalten haben. Einen sehr deutlichen Beweis für diese Herrschaft liefern die täglichen Erscheinungen: unzählige Mengen von Zuchtvieh werden bisweilen von einem einzigen beliebigen Manne getrieben, der weder Waffen trägt noch ein Eisengerät oder irgend ein Abwehrmittel mit sich führt und nur ein Fell als Hülle hat und einen Stab, um damit Zeichen zu geben und sich bei seinen Wanderungen, wenn er müde wird, darauf zu stützen; 85 die zahlreichen Herden von Schafen, Ziegen und Rindern führt ein Schäfer, Ziegenhirt oder Rinderhirt, Menschen, die nicht eben körperlich stark und kräftig sind, so dass sie schon durch ihre Stattlichkeit den Tieren, die sie sehen, Furcht einflössen könnten. Und so kräftige und so gut bewehrte Tiere – denn sie haben von der Natur Werkzeuge erhalten, mit denen sie sich verteidigen – ducken sich nieder wie Sklaven vor dem Herrn und führen aus, was ihnen befohlen wird; Ochsen lassen sich einspannen zur Beackerung der Erde und reissen tiefe Furchen bei Tag und zuweilen auch bei Nacht und ziehen so eine lange Strecke dahin unter Führung eines Landmannes. Wollereiche und mit dichten Vliessen beschwerte Widder stellen sich zur Frühlingszeit auf Befehl des Schäfers gelassen hin oder legen sich ruhig nieder und lassen sich die Wolle abscheren, gewohnt wie die Städte ihren jährlichen [21 M.] Tribut ihrem Könige zu zahlen. 86 Und selbst das mutigste Tier, das Ross, wird leicht am Zügel geführt, damit es nicht im [59] Springen durchgeht; es wölbt den Rücken schön zu bequemem Sitze und nimmt den Reiter auf, trägt ihn und sprengt in gestrecktem Galopp dahin, um an den Ort (des Zieles) zu kommen und den Reiter hinzubringen, wohin dieser gelangen will; der Reiter aber vollendet ohne Ermüdung in aller Ruhe auf eines anderen Körper und Füssen seinen Weg.

[29.] 87 Noch viel mehr könnte einer anführen, wenn er ausführlich sein wollte in dem Nachweis, dass nichts frei und der Oberherrschaft des Menschen entzogen ist; allein als Probe genügt das Gesagte. Man muss aber auch wohl beachten, dass der Mensch dadurch, dass er zuletzt geschaffen ist, in seinem Range keineswegs zurückgesetzt wurde. 88 Das beweisen die Wagenlenker und Steuerleute; denn jene befinden sich hinter den Zugtieren, treiben sie aber doch, die Zügel in der Hand, wohin sie wollen, bald zu raschem Lauf sie anfeuernd, bald sie zügelnd, wenn sie mit grösserem Ungestüm als nötig ist dahinrennen; die Steuerleute wiederum sind, wiewohl sie am letzten Platz im Schiffe, auf dem Hinterdeck, stehen, so zu sagen die besten unter allen, die mitfahren, da sie das Heil des Schiffes und aller, die darauf sind, in ihrer Hand haben. Als einen Wagenlenker und Steuermann schuf also der Schöpfer zuletzt den Menschen, damit er gleichsam als Statthalter des ersten und höchsten Königs die Zügel und das Steuer der Regierung führe über alle irdischen Dinge und die Sorge für die Tier- und Pflanzenwelt übernehme.

[30.] 89 Nachdem aber die ganze Welt entsprechend der Natur der vollkommenen Sechszahl (in sechs Tagen) vollendet war, zeichnete der Allvater den folgenden siebenten Tag besonders aus, indem er ihn „segnete und heiligte“ (1 Mos. 2,3); denn er ist der Festtag nicht einer Stadt oder eines Landes, sondern der ganzen Welt, und eigentlich darf man ihn den einzigen allgemeinen Festtag und das Geburtsfest der Welt nennen. 90 Ich weiss nicht, ob einer die Natur der Siebenzahl hinlänglich zu preisen vermag, da sie über jeden Ausdruck erhaben ist. Allein darum, weil sie bewunderungswürdiger ist als die Sprache zu schildern vermag, dürfen wir uns nicht schweigend verhalten, sondern müssen versuchen, wenn es uns auch nicht möglich ist, alles oder das Hauptsächlichste anzuführen, [60] wenigstens das zu künden, was unserem Geiste erreichbar ist[49]. 91 In doppelter Bedeutung wird die Siebenzahl angewandt, erstens innerhalb der Zehnzahl, wo sie mit der Einheit allein siebenmal gemessen wird, da sie aus sieben Einheiten besteht; zweitens ausserhalb der Zehnzahl als eine Zahl, deren Anfang immer die Eins ist[50] bei zweifach, dreifach oder vielfach gleichen Zahlen[51], wie z. B. die Zahlen 64 und 729, von denen die erstere durch [22 M.] Verdoppelung von der Einheit aus hervorgebracht wird[52], die andere durch Verdreifachung[53]. 92 Beide Arten darf man nicht so obenhin betrachten. Die zweite hat einen ganz offenkundigen Vorzug; immer nämlich ist die siebente Zahl, die man, mit der Eins beginnend, durch Verdoppelung oder Verdreifachung oder jede analoge Vervielfachung erhält, sowohl eine Kubikzahl als auch eine Quadratzahl, und sie umfasst die beiden Gattungen der unkörperlichen und der körperlichen mathematischen Grösse, die der unkörperlichen in der Fläche, die die Quadrate darstellen, die der körperlichen Grösse im festen Körper, den die Würfel darstellen[54]. 93 Ein klarer Beweis sind die genannten Zahlen; denn die siebente durch Verdoppelung von [61] eins an gewonnene Zahl, die 64, ist eine Quadratzahl, nämlich das Produkt von 8×8, und zugleich eine Kubikzahl, das Produkt von 4×4×4 . Und ebenso ist die durch Verdreifachung von eins an gewonnene siebente Zahl, die 729, eine Quadratzahl, die man erhält, wenn man 27 mit sich selbst multipliziert, und zugleich eine Kubikzahl, nämlich das Produkt von 9×9×9. 94 Und so wird einer, wenn er statt der Eins die siebente Zahl zum Ausgangspunkt nimmt und diese nach derselben Analogie bis zur Siebenzahl multipliziert, stets finden, dass das Produkt zugleich eine Kubikzahl und eine Quadratzahl ist. Geht man z. B. von der Zahl 64 aus, so ergibt sie durch Verdoppelung (Multiplikation mit 2) als siebente Zahl 4096[55], die zugleich Quadrat- und Kubikzahl ist, Quadratzahl mit der Wurzel 64, Kubikzahl mit der Wurzel 16.

[31.] 95 Nun müssen wir auch zur anderen Art der Siebenzahl übergehen, die sich innerhalb der Zehnzahl befindet und eine merkwürdige und ebenso bedeutsame Beschaffenheit zeigt wie die zuerst genannte Art. Die 7 besteht nämlich aus 1+2+4, die zwei sehr harmonische Verhältnisse bilden, nämlich das zweifache (2:1) und das vierfache (4:1) ; das zweifache Verhältnis stellt aber die Konsonanz διὰ πασῶν (Oktave) dar, das vierfache die Konsonanz δὶς διὰ πασῶν (Doppeloktave). Die Siebenzahl lässt ferner auch andere Zerlegungen zu, die gewissermassen paarweise entstehen; denn sie zerfällt erstens in 1+6 , dann in 2+5 und endlich in 3+4. 96 Musikalisch aber ist auch die Proportion dieser Zahlen; denn 6:1 enthält das sechsfache Verhältnis; dieses aber ergibt das allergrösste Intervall, nämlich den Abstand des höchsten Tones vom tiefsten, wie wir zeigen werden, wenn wir von den Zahlen zu den Harmonien übergehen werden; das Verhältnis 5:2 hat sehr viel harmonische Kraft, beinahe so viel wie die Oktave, was in der Theorie der [23 M.] Musik klar gemacht wird; das Verhältnis 4:3 ergibt die erste Harmonie 11/3, die διὰ τεσσάρων (Quart) heisst.

[32.] 97 Die Siebenzahl weist noch eine andere hervorragende Schönheit auf. Zusammengesetzt aus der Drei- und Vier zahl, stellt [62] sie das von Natur gerade und aufrecht stehende Prinzip in den Dingen dar. Inwiefern dies der Fall ist, muss deutlicher gezeigt werden. Das rechtwinklige Dreieck, das ja der Anfang aller Qualitäten ist, besteht aus den Zahlen 3, 4 und 5; die 3 und 4, die zusammen das Wesen der Siebenzahl ausmachen, bilden den rechten Winkel; denn der stumpfe und spitze Winkel zeigen das Unregelmässige, Ungeordnete und Ungleiche, da (von 2 stumpfen oder spitzen) einer stumpfer oder spitzer als der andere sein kann, während der rechte Winkel keine Vergleichung zulässt und einer nicht rechtwinkliger als der andere sein kann, sondern immer derselbe bleibt und niemals seine Natur ändert. Da nun das rechtwinklige Dreieck die erste der mathematischen Figuren und Qualitäten ist und das Wesen der Siebenzahl, die Summe aus 3+4, das Notwendigste vom Dreieck, den rechten Winkel, darstellt, so muss sie natürlich als die Quelle jeder Figur und jeder Qualität betrachtet werden. 98 Zu dem Gesagten muss noch hinzugefügt werden, dass die Drei die Zahl der ebenen Figur ist – da der mathematische Punkt durch 1, die Linie durch 2 und die Fläche durch 3 bestimmt wird – und die Vier die Zahl des mathematischen Körpers, der durch Hinzufügung der Eins entsteht, indem die Höhe zu der Fläche hinzukommt. Hieraus geht klar hervor, dass das Wesen der Siebenzahl das Prinzip der Geometrie und Stereometrie ist und kurz gesagt das Prinzip der unkörperlichen und der körperlichen Dinge.

[33.] 99 So viele herrliche Vorzüge sind in der Siebenzahl enthalten, dass sie im Vergleich zu allen andern Zahlen innerhalb der Dekade , eine besondere Stellung einnimmt. Denn unter jenen Zahlen sind einige, die hervorbringen und nicht hervorgebracht werden, andere wieder, die hervorgebracht werden und nicht hervorbringen, endlich solche, die sowohl hervorbringen als auch hervorgebracht werden. Die Sieben allein sieht man in keiner dieser Gruppen. Diese Behauptung muss näher begründet werden. Die Eins bringt der Reihe nach alle Zahlen hervor, wird aber von keiner andern hervorgebracht. Die Acht wird durch 2×4 hervorgebracht, bringt aber selbst keine andere Zahl in der (ersten) Dekade hervor; die Vier andererseits gehört sowohl zu der Abteilung der Eltern als der [63] der Kinder; denn sie bringt die Acht hervor, wenn sie zweimal genommen wird, und wird hervorgebracht durch 2×2. 100 Nur die Sieben, wie gesagt, kann weder hervorbringen noch hervorgebracht [24 M.] werden. Aus diesem Grunde vergleichen gewöhnlich die Philosophen die Siebenzahl mit der mutterlosen Nike und Parthenos[56], die der Sage nach aus dem Kopfe des Zeus entsprungen sein soll, die Pythagoreer dagegen mit dem Lenker des Weltalls. Denn das, was weder erzeugt noch erzeugt wird, bleibt unbeweglich; in der Bewegung nämlich besteht das Werden, da sowohl das Erzeugende wie das was erzeugt wird nicht ohne Bewegung ist; das eine hat das Ziel, zu erzeugen, das andere, erzeugt zu werden. Das einzige aber, das weder bewegt noch bewegt wird, ist der erhabene Herrscher und Lenker, als dessen Ebenbild füglich die Siebenzahl bezeichnet werden könnte. Diese meine Ansicht bestätigt auch Philolaos[57] mit den Worten: „Es existiert ein Herrscher und Lenker aller Dinge, ein einziger ewiger Gott, der beständig ist und unbewegt, nur sich selbst gleicht und von allen anderen verschieden ist.“

[34.] 101 So zeigt die Siebenzahl in den rein geistigen Dingen den Charakter des Unbeweglichen und Unveränderlichen; aber sie hat auch eine grosse und umfassende Macht in den sinnlich wahrnehmbaren Dingen, ⟨nämlich durch die Kreisbewegungen der Planeten⟩[58], durch die alles auf Erden gefördert wird, und durch die Umläufe des Mondes. Inwiefern dies geschieht, soll untersucht werden. Addiert man der Reihe nach die Zahlen von 1 bis 7, so erhält man die vollkommene und ihren Teilen gleichkommende Zahl 28[59]. Die so hervorgebrachte Zahl ist aber diejenige, die den Mond wieder in seine frühere Stellung zurückbringt, da er bei seiner Abnahme wieder zu der Gestalt zurückkehrt, in der er sichtlich zu wachsen begonnen hat. Denn er wächst von dem [64] ersten mondähnlichen (sichelförmigen) Aufleuchten bis zum Halbmond in sieben Tagen, sodann wird er in ebenso vielen Tagen zum Vollmond, und darauf kehrt er wieder um und durchläuft denselben Weg vom Vollmond bis zum Halbmond in wiederum sieben Tagen und vom Halbmond zur Mondsichel in der gleichen Zeit, womit die genannte Zahl (28) erreicht wird.

102 Bei denen, die gewohnt sind die Wörter im eigentlichen Sinne zu gebrauchen, heisst die Siebenzahl auch „die Vollendung bringende“, weil durch sie alles zur Vollendung gebracht wird. Beweisen kann man das daraus, dass jeder organische Körper drei Ausdehnungen hat: Länge, Breite und Tiefe, und vier Grenzen: Punkt, Linie, Fläche und geometrischen Körper, durch deren Addition die Siebenzahl entsteht. Es wäre aber unmöglich, die Körper mit der Siebenzahl nach ihrer Zusammensetzung aus den drei Ausdehnungen und vier Grenzen zu messen, wenn nicht die Ideen der ersten Zahlen, der 1, 2, 3 und 4, auf denen die Zehnzahl beruht, schon die Natur der Sieben enthielten; denn die genannten Zahlen haben vier Grenzen: die erste, die zweite, die dritte und die vierte, und drei Ausdehnungen: die erste geht von 1 bis 2, die [25 M.] zweite von 2 bis 3, die dritte von 3 bis 4.

[35.] 103 Ausser dem Gesagten zeigen deutlich die vollendende Kraft der Sieben auch die Altersstufen des Menschen, die von der Kindheit bis zum Greisenalter so gemessen werden: in der 1. Jahrwoche erfolgt das Wachsen der Zähne, in der 2. beginnt die Zeugungsfähigkeit, in der 3. der Bartwuchs, in der 4. die Steigerung der Manneskraft, in der 5. die Zeit zur Verehelichung, in der 6. der Höhepunkt der Einsicht, in der 7. die fortschreitende Verbesserung und Stärkung des Geistes und der Redekraft, in der 8. die Vollendung beider; in der 9. beginnt die Milde und Sanftmut, da die Leidenschaften dann schon mehr bezähmt sind; in der 10. Jahrwoche kommt das erwünschte Ende des Lebens, wenn auch die organischen Glieder noch beisammen sind; denn das lange Greisenalter pflegt jeden niederzuwerfen und zu schwächen. Diese Lebensalter beschrieb auch Solon, der Gesetzgeber der Athener, in folgender Elegie:

[65] 104 Noch nicht erwachsen, ein unmündig Kind, im ersten Jahrsiebent

Bringt es hervor und verliert wieder der Zähne Geheg'.

Aber lässt Gott es vollenden der Jahre noch weitere sieben,

Stellen allmählich sich ein Zeichen der werdenden Kraft.

Im Jahrsiebent dem dritten, da noch die Glieder sich dehnen,

Deckt sich das Kinn mit dem Flaum, wechselt die Farbe die Haut.

Im Jahrsiebent dem vierten erlangt wohl ein jeder die höchste

Stärke, die auch als Beweis männlicher Tüchtigkeit gilt.

Aber das fünfte gemahnet den Mann, dass er, reif zur Vermählung,

Sorge für Nachkommenschaft, Zukunft des Menschengeschlechts.

Und in dem sechsten reifet im Mann die ernste Gesinnung;

Würdevoll mag er nicht mehr treiben törichtes Spiel.

Vierzehn Jahre nun kommen, das siebent' und achte Jahrsiebent,

Wo den Gipfel erreicht Einsicht und Redegewalt.

Auch in dem neunten ist stark noch die Tatkraft des Mannes, doch sanfter

Wirket zu edlem Tun Weisheit und Redegewalt.

Doch wer das zehnte vollendet und so bis ans Ziel hin gelanget,

Der ist nicht mehr zu jung, wenn ihn der Tod überfällt.

[36.] 105 Solon zählt also im Menschenleben die genannten zehn Jahrwochen. Dagegen sagt der Arzt Hippokrates, es gebe [26 M.] sieben Lebensalter, das Alter des Kindes, des Knaben, des Jünglings, des jungen Mannes, des (reifen) Mannes, des alten Mannes, des Greises, und diese werden ebenfalls nach Jahrwochen gemessen, die aber nicht der Reihe nach gleichmässig verlaufen. Seine Worte lauten folgendermassen: „Im Leben des Menschen gibt es sieben Zeitabschnitte, die man Lebensalter nennt: das Kind, der Knabe, der Jüngling, der junge Mann, der Mann, der Alte, der Greis. Ein Kind ist er bis zu 7 Jahren, bis zum Ausfall der ersten Zähne, ein Knabe bis zum Eintritt der Mannbarkeit, bis zu 2×7 Jahren, ein Jüngling bis zum Wachsen des Bartes, bis zu 3×7, ein junger Mann, bis der ganze Körper ausgewachsen ist, bis zu 4×7, ein Mann bis zu 49 Jahren, bis zu 7×7, ein Alter bis zu 56, bis zu 7×8 Jahren, von da an ein Greis.“

[66] 106 Man erwähnt auch noch folgendes zum Beweise, dass die Sieben einen bewunderungswürdigen Rang in der Natur einnimmt, weil sie aus 3+4 besteht. Wenn man die doppelten Zahlen nimmt (mit zwei multipliziert), wird man finden, dass die dritte Zahl, von 1 an gezählt, eine Quadratzahl ist[60], die vierte eine Kubikzahl[61], die aus beiden zusammengesetzte siebente aber zugleich Kubikzahl und Quadratzahl[62]; die dritte Zahl nämlich, von 1 an gezählt, in dieser Verdoppelungsrechnung (Multiplikation mit 2), die 4, ist eine Quadratzahl; die vierte, die 8, ist eine Kubikzahl; die siebente aber, die 64, ist zugleich Kubik- und Quadratzahl. Somit bringt die siebente Zahl wirklich die Vollendung, da sie die beiden gleichmässigen Grössen anzeigt, die Fläche durch das Quadrat wegen ihrer Verwandtschaft mit der 3 und den festen Körper durch den Würfel wegen seiner Verwandtschaft mit der 4; aus 3+4 besteht aber die Sieben.

[37.] 107 Sie bringt aber nicht bloss Vollendung, sie ist auch so zu sagen die harmonischste Zahl und gewissermassen die Quelle des schönsten musikalischen Schemas, das alle Harmonien, die Quart, die Quint, die Oktave, und alle Analogien (Proportionen), die arithmetische, die geometrische und die harmonische umfasst[63]. Das Schema wird gebildet aus folgenden Zahlen: 6, 8, 9, 12. Die 8 steht zur 6 im Verhältnis 4:3, durch das die Quart entsteht; die 9 zur 6 im Verhältnis 3:2, durch das die Quint entsteht; die 12 zur 6 im Verhältnis 2:1 , durch das die Oktave entsteht. 108 Sie enthält aber auch, wie ich sagte, alle Proportionen, die arithmetische aus 6 und 9 und 12 – denn wie die mittlere die erste um 3 überragt, so wird sie um ebenso viel von der letzten übertroffen –, die geometrische aus den 4 Zahlen (6, 8, 9, 12) – denn wie sich die 8 zur 6 verhält, so verhält sich die 12 zur 9; es ist dies das Verhältnis [27 M.] [67] 4:3 –, die harmonische aus 3 Zahlen, 6, 8 und 12. 109 Bei der harmonischen Proportion unterscheidet man aber zwei Arten; die eine entsteht, wenn die Differenz der letzten Zahl von der mittleren sich zur Differenz der mittleren von der ersten so verhält wie die letzte Zahl zur ersten. Einen klaren Beweis erhält man aus den vorliegenden Zahlen 6, 8, 12: die letzte (die 12) ist das Doppelte der ersten (der 6), und die Differenz ist auch das Doppelte; denn 12 ist um 4 grösser als 8 und 8 um 2 grösser als 6, 4 aber ist das Doppelte von 2. 110 Die andere Art der harmonischen Proportion entsteht, wenn die mittlere Zahl um denselben Bruchteil sich von den äusseren Zahlen unterscheidet; denn die mittlere, die 8, übertrifft die erste Zahl um 1/3; zieht man nämlich 6 ab, so bleiben 2 übrig, das ist ein Drittel der ersten Zahl; die 8 wird aber, von der letzten Zahl um das Gleiche übertroffen; denn wenn 8 von 12 abgezogen wird, so ist der Rest 4, das ist ein Drittel der letzten Zahl.

[38.] 111 So viel sei bemerkt über die hohe Würde, die das Schema oder die Figur, oder wie man es sonst nennen muss, besitzt; so viele Eigenschaften und noch viel mehr zeigt die Sieben im Bereich des Unkörperlichen und Geistigen. Aber ihre Natur dehnt sich noch weiter aus und erstreckt sich über das ganze sichtbare Sein, den Himmel und die Erde, die Grenzen des Alls. Denn welcher Teil der Welt ist nicht Freund der Sieben, ist nicht überwältigt von Liebe und Sehnsucht nach der Sieben? 112 Der Himmel ist, wie man sagt, von sieben Kreisen umgürtet; ihre Namen sind: der nördliche und der südliche Polarkreis, der Frühjahrs- und der Herbstwendekreis, der Aequator, der Tierkreis, endlich die Milchstrasse. Der Horizont nämlich ist nur unsere subjektive Empfindung, da die sinnliche Wahrnehmung, je nachdem einer weit- oder kurzsichtig ist, bald einen kleineren bald einen grösseren Kreis absteckt. 113 Die Planeten ferner, das Himmelsheer, das dem der Fixsterne entgegengesetzt ist, werden in sieben Ordnungen geteilt; sie zeigen sehr viel Hinneigung zur Luft und zur Erde; denn jene (die Luft) verändern und verwandeln sie in die sogenannten Jahreszeiten, indem sie in jeder dieser Jahreszeiten unzählige Veränderungen herbeiführen, durch Windstille, [68] durch heiteres Wetter, durch Bewölkungen und durch ungewöhnliche gewaltige Stürme; sie füllen die Flüsse an und verringern sie, machen die Felder zu Sümpfen und trocknen sie wieder aus; sie bewirken die Veränderungen der Meere, Ebbe und Flut; bisweilen sind nämlich breite Meerbusen, wenn das Meer zur Zeit der Ebbe zurückweicht, plötzlich ein weitgestreckter Strand, und kurz darauf, wenn es wieder zurückströmt, ein tiefes Meer, das nicht nur von kleinen Booten, [28 M.] sondern auch von ungeheuren Lastschiffen befahren wird. Auch bringen die Planeten alles auf Erden, Tiere und fruchttragende Pflanzen, zum Wachstum und zur Reife, indem sie die Natur eines jeden Dinges befähigen, ihren Kreislauf zu vollenden, so dass Neues aus Altem erblüht und reift zu ausreichender Verpflegung derer, die sie nötig haben. [39.] 114 Der grosse Bär ferner, der, wie man sagt, der Begleiter der Seefahrer ist[64], besteht aus sieben Sternen. Auf ihn blickend durchschnitten die Schiffslenker auf vielen Wegen das Meer, indem sie sich an eine unsichere und für die menschliche Natur zu grosse Sache heranwagten; geleitet von den genannten Sternen entdeckten sie die vorher unbekannten Länder, Festlandsbewohner die Inseln und Inselbewohner die Festländer; durch den Himmel nämlich, den reinsten Teil der Schöpfung, sollten dem Lebewesen, das Gott am meisten liebt, dem Menschengeschlechte, die innersten Räume der Erde und des Meeres gezeigt werden. 115 Ausserdem besteht auch der Chor der Plejaden aus sieben Sternen, deren Auf- und Untergänge grosse Vorteile für alle herbeiführen; denn wenn sie untergehen, werden Ackerfurchen zur Aussaat gezogen, und wenn sie im Begriffe sind aufzugehen, kündigen sie die Getreideernte an, und nach ihrem Aufgange ermuntern sie die frohen Ackersleute zum Einsammeln der notwendigen Lebensmittel, und freudig bergen diese die Nahrungsmittel für den Bedarf eines jeden Tages. 116 Auch die Sonne, die grosse [69] Beherrscherin des Tages, gibt dadurch, dass sie zweimal in jedem Jahre, im Frühling und im Herbst, eine Tag- und Nachtgleiche herbeiführt, nämlich die des Frühlings im Zeichen des Widders und die des Herbstes im Zeichen der Wage, einen sehr deutlichen Beweis von der göttlichen Würde der siebenten Zahl; denn jede dieser Tag- und Nachtgleichen tritt im siebenten Monat ein[65], und während derselben werden, wie im Gesetz verordnet ist, die grössten Feste unter Teilnahme des ganzen Volkes gefeiert, da um diese Zeit alle Erdfrüchte reifen, im Frühjahr die Brotfrucht und die andern Saatfrüchte, im Herbst die Frucht des Weinstocks und der meisten anderen Obstbäume.

[40.] 117 Da aber infolge einer natürlichen Sympathie die irdischen Dinge von den himmlischen abhängig sind, so stieg das Prinzip der Siebenzahl, nachdem es oben begonnen, auch zu uns herab und näherte sich den sterblichen Geschlechtern. So zerfällt, wenn wir von der Vernunft absehen, der übrige Teil unserer Seele in sieben Teile: in die fünf Sinne, das Sprachwerkzeug und das Zeugungsorgan[66]. Alle diese werden gleichsam wie auf dem Puppentheater von der Vernunft an Sehnen gezogen und sind bald in Ruhe bald in Bewegung, jeder in seinen harmonischen Zuständen und Bewegungen. 118 Wenn aber einer die äusseren und inneren Teile des Körpers untersuchen will, wird er ebenso finden, dass sie beide sieben an der Zahl sind; die sichtbaren Teile sind: Kopf, Brust, Bauch, [29 M.] zwei Hände und zwei Füsse; die inneren, die sogenannten Eingeweide, sind: Magen, Herz, Lunge, Milz, Leber und die [70] zwei Nieren. 119 Ferner hat der hervorragendste Teil in einem Lebewesen, der Kopf, sieben notwendige Dinge: zwei Augen, zwei Ohren, zwei Nasenlöcher und siebentens einen Mund, durch den, wie Plato[67] sagt, der Einzug der vergänglichen und der Auszug der unvergänglichen Dinge erfolgt; hineingehen in ihn Speisen und Getränke, die vergänglichen Nahrungsmittel des vergänglichen Körpers, herauskommen die vernünftigen Reden als unsterbliche Gesetze der unsterblichen Seele, durch die das vernünftige Leben geleitet wird. [41.] 120 Auch was durch den vorzüglichsten der fünf Sinne, das Gesicht, allgemein unterschieden wird, hat Anteil an dieser Zahl; denn siebenfacher Art sind die gesehenen Dinge: Körper, Ausdehnung, Gestalt, Grösse, Farbe, Bewegung, Ruhe und weiter nichts. 121 Auch die Wandlungen der Stimme sind im ganzen sieben: der hohe, der tiefe, der gedehnte Ton, viertens der rauhe (gehauchte), fünftens der dünne, sechstens der lange und siebentens der kurze Ton. 122 Desgleichen gibt es sieben Bewegungen: hinauf, hinab, nach rechts, nach links, vorwärts, rückwärts und im Kreise; alle zusammen zeigen besonders diejenigen, die einen Tanz aufführen. 123 Man sagt auch, dass die Ausscheidungen des Körpers der genannten Zahl unterworfen sind; denn vermittelst der Augen werden Tränen vergossen, durch die Nase gehen die aus dem Kopfe kommenden Reinigungen, durch den Mund der Speichel, der ausgespieen wird; dann gibt es zwei Behälter zur Absonderung des Ueberflüssigen, einer vorn, einer hinten; die sechste ist der Schweiss, der am ganzen Körper vergossen wird, und die siebente die natürliche Samenergiessung durch die Geschlechtsorgane. 124 Ferner sagt der naturkundige Hippokrates, in sieben Tagen vollziehe sich die Festigung des Samens und die Embryobildung. Bei den Frauen beträgt auch die Dauer der monatlichen Reinigung höchstens sieben Tage. Auch die Frucht im Mutterschosse reift in sieben Monaten völlig aus, so dass etwas sehr Sonderbares hierbei eintritt: die siebenmonatigen Kinder nämlich werden lebenskräftig, während die achtmonatigen gewöhnlich nicht am Leben erhalten werden können. 125 Auch die schweren Krankheiten [71] des Körpers, besonders wenn infolge schlechter Mischung unserer Kräfte anhaltendes Fieber sich einstellt, entscheiden sich meistens am siebenten Tage; dieser Tag entscheidet den Kampf ums Leben, indem er den einen Rettung, den andern den Tod zuerkennt.

[42.] 126 Die Wirksamkeit der Siebenzahl erstreckt sich aber nicht bloss auf die genannten Dinge, sondern auch auf die vorzüglichsten Wissenschaften, die Grammatik und die Musik. Denn die siebensaitige Lyra[68], die dem Chor der Planeten entspricht, bringt vorzügliche Harmonien hervor und nimmt [30 M.] unter allen Musikinstrumenten nahezu den ersten Rang ein. In der Grammatik sind unter den Buchstaben sieben die mit Recht so genannten „Tönenden“ (Vokale)[69], da sie sowohl für sich selbst tönen, als auch in Verbindung mit den andern artikulierte Laute hervorbringen; denn sie ergänzen einerseits das, was den Halbvokalen[70] fehlt, und machen sie volltönend, andererseits verändern sie die Natur der „Stimmlosen“ (der Konsonanten) dadurch, dass sie ihnen von ihrer eigenen Kraft etwas einflössen, damit die unaussprechbaren (Buchstaben) aussprechbar werden. 127 Aus diesen Gründen glaube ich, dass diejenigen, welche den Dingen am Anfang ihre Namen gegeben haben, als weise Männer diese Zahl „ἑπτά“ genannt haben wegen der ihr gezollten Verehrung (σεβασμός) und der mit ihr verbundenen Würde (σεμνότης). Die Römer, die den von den Griechen ausgelassenen Buchstaben σ hinzufügen, verdeutlichen den Ausdruck noch besser, da sie die Zahl richtiger „septem“ nennen wegen der Ableitung, wie gesagt, von σεμνός (ehrwürdig) und σεβασμός (Verehrung).

[43.] 128 Solches und noch viel mehr wird über die Siebenzahl gesagt und philosophiert. Darum hat sie auch in der Natur die höchste Auszeichnung erlangt und wird von den angesehensten Hellenen und Barbaren, die sich mit der [72] mathematischen Wissenschaft beschäftigen, hoch geehrt; besonders aber wird sie von dem Tugendfreunde Moses ausgezeichnet, der ihre Schönheit auf den heiligen Tafeln des Gesetzes beschrieben und allen seinen Anhängern ins Herz gegraben hat, da er ihnen befahl, immer nach sechs Tagen den siebenten heilig zu halten, an ihm sich aller Arbeiten zur Aufsuchung und Herbeischaffung von Lebensbedürfnissen zu enthalten und sich einzig und allein dem ernsten Nachdenken zu widmen zur Verbesserung der Sitten und zur Prüfung der Stimme des Gewissens, die der Seele eingepflanzt ist und sich nicht scheut wie ein Richter zu strafen, bald durch heftigere Drohungen, bald durch sanftere Warnungen: durch Drohungen in den Fällen, wo einer mit Ueberlegung unrecht gehandelt zu haben scheint, durch Warnungen, wo einer wider Willen aus Unbedacht gesündigt hat, damit er sich niemals wieder so vergehe.

[44.] 129 Er schliesst aber den Weltschöpfungsbericht mit dem zusammenfassenden Satze: „Dieses ist das Buch der Schöpfung des Himmels und der Erde, als sie geschaffen wurden, an dem Tage, an dem Gott den Himmel und die Erde erschuf und alles Gras des Feldes, bevor es auf der Erde entstand, und alles Kraut des Feldes, bevor es gewachsen“ (1 Mos. 2,4.5). Führt er uns hier nicht deutlich die unkörperlichen und gedachten Ideen vor, die die Siegel für die sinnlich wahrnehmbare Wirklichkeit wurden[71]? Denn ehe die Erde grünte, sagt er, war eben dieses Grün in der Natur der Dinge vorhanden, und ehe Kraut auf dem Felde hervorkeimte, war Kraut vorhanden – d. h. unsichtbar[72]. 130 Man [73] muss aber in Gedanken ergänzen, dass auch von allen anderen Dingen, die die Sinne unterscheiden, vorher die [31 M.] älteren Formen und Masse vorhanden waren, nach denen alles Gewordene gestaltet und bemessen wurde; denn wenn er auch nicht alle Dinge insgesamt Stück für Stück durchgeht, da er sich wie nur irgend einer der Kürze befleissigt, so sind nichtsdestoweniger schon die wenigen genannten Dinge (hinreichende) Beweise für die Allnatur, die ohne ein unkörperliches Vorbild keines der Dinge in der Sinnenwelt erzeugt.

[45.] 131 Indem er nun die Reihenfolge festhält und auf die Verbindung des Folgenden mit dem Vorhergehenden genau achtet, sagt er weiter: „Eine Quelle aber stieg auf von der Erde und tränkte die ganze Oberfläche der Erde“ (1 Mos. 2,6)[73]. Die Philosophen behaupten, sämtliches Wasser sei eins von den vier Elementen, aus denen die Welt geschaffen wurde. Moses aber, der gewohnt ist, selbst das Fernliegende mit schärferen Augen gründlich zu betrachten und zu erfassen, hält für ein Element und für den vierten Teil des Weltganzen nur das grosse Meer (das salzhaltige Wasser), das die Späteren Ocean nennen, in dem, wie sie glauben, unsere schiffbaren Meeresflächen nur etwa die Grösse von Häfen haben[74]; das süsse und trinkbare Wasser aber unterschied er von dem Meerwasser, rechnete es zur Erde und sah es als einen Teil der Erde, nicht des Meeres, an, (und zwar ist es dies) aus dem schon früher erwähnten Grunde, damit die Erde durch die süsse Beschaffenheit (des Wassers) nach Art eines kittenden Leimes wie durch ein festes Band zusammengehalten werde; denn wäre sie trocken geblieben und nicht eine Flüssigkeit hinzugekommen, die vielfach gespalten durch [74] die Poren drang, so wäre sie auseinandergefallen. Sie wird aber eben zusammengehalten und besteht dauernd teils durch die Macht des verbindenden Lebensodems, teils weil die Flüssigkeit es nicht zulässt, dass sie völlig austrocknet und in kleine und grosse Bruchstücke zerfällt. 132 Dies ist ein Grund; ich muss aber noch einen andern erwähnen, der die Wahrheit wie das Ziel trifft. Keines der Erdgeborenen kann ohne feuchte Substanz bestehen: das beweist die Ergiessung des Samens, der doch entweder feucht ist, wie bei den Lebewesen, oder nicht ohne Feuchtigkeit keimt, wie der Pflanzensame. Hiernach ist es klar, dass die erwähnte flüssige Substanz notwendigerweise ein Teil der Erde, der alles gebärenden, ist, wie bei den Frauen der Fluss der monatlichen Reinigung; denn diese bildet, wie die Naturforscher behaupten, die körperliche Substanz des Foetus. 133 Mit dem Gesagten steht auch folgendes im Einklang: jeder Mutter gab die Natur als notwendigen Teil quellende Brüste, indem sie damit die Nahrung für den zukünftigen Sprössling vorbereitete; eine Mutter aber ist natürlich auch die Erde; darum schien es auch den Alten gut, ihr den aus Meter und Ge zusammengesetzten Namen Demeter[75] (Mutter Erde) zu geben. Denn, wie Plato[76] sagt, nicht ahmt die Erde das Weib [32 M.] nach, sondern umgekehrt das Weib ahmt die Erde nach, die die Dichter mit Recht die Allmutter, die Fruchttragende, die Allgeberin zu nennen pflegen, da sie die Urheberin der Entstehung und des Bestehens aller Lebewesen und Pflanzen ist. Vernünftigerweise hat nun die Natur auch der Erde, der ältesten und fruchtbarsten aller Mütter, gleichsam Brüste gegeben, nämlich die Fluten der Ströme und Quellen, damit die Pflanzen bewässert würden und alle Lebewesen reichlich zu trinken hätten.

[46.] 134 Hierauf sagt er: „Gott bildete den Menschen, indem er Staub von der Erde nahm, und blies ihm ins Angesicht den Hauch des Lebens“ (1 Mos. 2,7). Hiermit zeigt [75] er ganz klar, dass ein sehr grosser Unterschied besteht zwischen dem Menschen, der jetzt gebildet wurde, und dem, der früher nach dem Ebenbilde Gottes geschaffen war; denn der jetzt gebildete Mensch war sinnlich wahrnehmbar, hatte schon eine bestimmte Beschaffenheit, bestand aus Körper und Seele, war Mann oder Weib und von Natur sterblich; dagegen war der nach dem Ebenbilde Gottes geschaffene eine Idee oder ein Gattungsbegriff oder ein Siegel, nur gedacht, unkörperlich, weder männlich noch weiblich, von Natur unvergänglich[77]. 135 Er sagt aber, das Gebilde des sinnlich wahrnehmbaren Einzelmenschen sei aus irdischer Substanz und göttlichem Hauche zusammengesetzt; der Körper sei dadurch entstanden, dass der Meister Erdenstaub nahm und eine menschliche Gestalt daraus bildete, die Seele aber stamme nicht von einem geschaffenen Wesen her, sondern vom Vater und Lenker des Alls; denn was er einblies, war nichts anderes als ein göttlicher Hauch, der von jenem glückseligen Wesen zum Heile unseres Geschlechts herniederkam[78], damit dieses, wenn es auch hinsichtlich seines sichtbaren Teiles sterblich ist, doch wenigstens in seinem unsichtbaren Teile die Unsterblichkeit besitze. Darum kann man eigentlich sagen, dass der Mensch auf der Grenze steht zwischen der sterblichen und unsterblichen Natur, da er an beiden soviel, wie nötig ist, teilhat, und dass er zugleich sterblich und unsterblich geschaffen ist, sterblich in Bezug auf seinen Körper, unsterblich hinsichtlich seines Geistes.

[47.] 136 Jener erste Mensch aber, der erdgeborene, der Stammvater unseres ganzen Geschlechts, war, wie mir scheint, der vorzüglichste Mensch, sowohl hinsichtlich der Seele als des Körpers, und übertraf die Nachkommen in hohem Grade durch ausserordentliche Vorzüge beider Teile seines Wesens. [76] Er war wirklich der „wahrhaft Schöne und Edle.“ Auf die Wohlgestalt seines Körpers kann man aus drei Umständen schliessen. Der erste ist folgender: als infolge der Absonderung des vielen Wassers, das „Meer“ genannt wurde, [33 M.] die eben neu gegründete Erde sichtbar wurde, war der Urstoff aller Dinge, die geschaffen wurden, ungemischt, unverfälscht und rein, ausserdem dehnbar und gut zu bearbeiten, und so waren die aus ihm gefertigten Dinge natürlich tadellos. 137 Zweitens lässt sich denken, dass Gott dieses menschenähnliche Gebilde mit der höchsten Sorgfalt schaffen wollte, und dass er deshalb nicht von dem ersten besten Stücke der Erde Staub nahm, sondern von der ganzen Erde das Beste, vom reinen Urstoff das Reinste und Allerfeinste absonderte, was sich am meisten zu seiner Bildung eignete; denn es wurde doch zur Wohnung oder zum heiligen Tempel für die vernünftige Seele gebildet, die der Mensch als das gottähnlichste Bild in sich tragen sollte[79]. 138 Der dritte Umstand, der in keinem Vergleich steht zu den bereits genannten, ist folgender: der Schöpfer war ein Meister sowohl in allen andern Dingen als auch ganz besonders in der Fertigkeit (des Bildens), so dass jeder der Teile des Körpers sowohl an und für sich die ihm zukommenden Proportionen erhielt als auch zweckmässig für die Gemeinschaft des ganzen Körpers mit Sorgfalt geformt wurde. Mit diesem Gleichmass (der Glieder) verlieh er dem Körper auch das rechte Mass von Beleibtheit und schmückte ihn mit gesunder Farbe, da er wollte, dass der erste Mensch so schön wie nur möglich anzusehen sei. [48.] 139 Dass er aber auch hinsichtlich der Seele vorzüglich war, ist ebenso klar; denn zu ihrer Bildung benützte Gott als Vorbild nicht eins von den in der Schöpfung vorhandenen Dingen, sondern, wie gesagt, einzig und allein seine eigene Vernunft; deren Abbild und Nachahmung, sagt er also, sei der Mensch geworden, da ihm in das Antlitz gehaucht wurde, wo der Sitz der Sinne ist, mit denen der Schöpfer den Körper beseelte; nachdem er aber die Vernunft [77] als Herrscherin eingesetzt hatte, übergab er diesem führenden Teil die Sinne, dass er sich von ihnen zur Aufnahme von Farben, Tönen, Geschmack, Gerüchen und anderen Dingen bedienen lasse, da er durch sich allein ohne die sinnliche Wahrnehmung sie zu erfassen nicht imstande war. Natürlich muss die Nachbildung eines schönen Vorbildes auch schön sein. Die göttliche Vernunft aber ist besser als die Schönheit selbst, wie sie sich in der Natur zeigt, und nicht mit Schönheit geschmückt, sondern selbst, die Wahrheit zu sagen, ihr schönster Schmuck.

[49.] 140 So beschaffen an Leib und Seele scheint mir der erste Mensch gewesen zu sein; alle, die jetzt leben und vor uns gelebt haben, übertraf er bei weitem; denn wir stammen von Menschen ab, ihn aber hat Gott gebildet. Je vorzüglicher der Meister, desto besser ist doch das Werk. Gleichwie das Blühende stets besser ist als das Verblühte, sei es ein Lebewesen oder eine Pflanze oder eine Frucht oder irgend ein andres Ding in der Natur, so war auch offenbar der zuerst gebildete Mensch die höchste Blüte unseres ganzen Geschlechts, während die späteren nicht mehr zu gleicher Blüte gelangten, da die Nachkommen immer schwächere Formen [34 M.] und Kräfte bekommen[80]. 141 Dies habe ich auch bei den Werken der Malerei und Bildhauerkunst wahrgenommen; die Nachahmungen bleiben nämlich hinter den Urbildern zurück, und die nach diesen Nachahmungen gemalten und geformten Werke noch viel mehr, da sie vom Original weit entfernt sind. Eine ähnliche Veränderung zeigt auch der Magnetstein; denn der Eisenring, der ihn unmittelbar berührt, wird am stärksten festgehalten, der folgende aber, der diesen berührt, schon weniger; es hängt nun noch ein dritter am zweiten, ein vierter am dritten, ein fünfter am vierten u. s. w. in langer Reihe, alle von einer Kraft angezogen und zusammengehalten, aber nicht auf gleiche Weise; denn die Ringe, die weit entfernt vom Ausgangspunkte hängen, werden immer schlaffer, weil die Anziehungskraft nachlässt und sie nicht mehr mit gleicher Stärke festhalten [78] kann. Aehnliches also scheint das Geschlecht der Menschen zu erfahren, da sie mit jeder Generation immer mattere Fähigkeiten und Eigenschaften sowohl des Körpers als der Seele erhalten.

142 Wir werden uns aber ganz wahrheitsgemäss ausdrücken, wenn wir jenen Urahn nicht bloss den ersten Menschen, sondern auch den einzigen Weltbürger nennen. Denn Haus und Stadt war ihm die Welt, da noch kein Gebäude von Menschenhand aus Baumaterial von Stein und Holz gezimmert war; in ihr wohnte er wie in der Heimat mit vollkommener Sicherheit und ohne Furcht, da er der Herrschaft über die Erdenwelt gewürdigt wurde und alle sterblichen Wesen sich vor ihm duckten und belehrt oder gezwungen waren, ihm als ihrem Gebieter zu gehorchen, und sündlos lebte er im frohen Genusse eines kampflosen Friedens. [50.] 143 Da aber jeder wohlgeordnete Staat eine Verfassung hat, so musste der Weltbürger natürlich nach derselben Verfassung leben wie die ganze Welt. Diese Verfassung ist das vernünftige Naturgesetz, das man besser θεσμός (göttliche Satzung) nennt, da es göttliches Gesetz ist, nach welchem einem jeden das ihm Gebührende und Zukommende zuteil wird[81]. Dieser Staat und diese Staatsverfassung musste aber schon vor dem Menschen Bürger haben, die mit Recht Grossbürger genannt werden könnten, da sie dazu bestimmt waren, den grössten Umkreis zu bewohnen, und im grössten und vollkommensten Staatswesen als Bürger eingetragen waren. 144 Wer anders aber sollte das sein als jene vernünftigen und göttlichen Wesen, die teils unkörperlich und rein geistig teils – wie die Gestirne – nicht ohne Körper sind? Im Verkehr und im Zusammenleben mit diesen verbrachte er natürlich seine Zeit in ungetrübtem Glücke; ganz nahe verwandt mit dem Weltenlenker, da doch der göttliche Hauch voll in ihn geflossen [79] war, bestrebte er sich alles nur zum Wohlgefallen des Vaters und Königs zu reden und zu tun, indem er seinen [35 M.] Spuren auf den Heerstrassen folgte, die die Tugenden bahnen, da nur den Seelen, die als Ziel die Aehnlichkeit mit dem göttlichen Schöpfer ansehen, sich ihm zu nähern gestattet ist.

[51.] 145 Wir haben nun über des zuerst geschaffenen Menschen seelische und körperliche Schönheit, wenn auch für ihr wahrhaftes Wesen viel zu wenig, so doch das, was in unseren Kräften stand, gesagt. Seine Nachkommen aber, die seine Eigenart teilen, müssen auch die Merkmale der Verwandtschaft mit dem Ahnherrn, wenn auch getrübt, bewahren. 146 Worin aber besteht diese Verwandtschaft? Jeder Mensch ist hinsichtlich seines Geistes der göttlichen Vernunft verwandt, da er ein Abbild, ein Teilchen, ein Abglanz ihres seligen Wesens ist; in dem Bau seines Körpers aber gleicht er der ganzen Welt; denn er ist eine Mischung aus denselben Elementen, aus Erde, Wasser, Luft und Feuer, indem jedes Element seinen Teil beitrug zur vollständigen Herstellung des hinreichenden Stoffes, den der Schöpfer nehmen musste, um dieses sichtbare Abbild zu formen[82]. 147 Ferner lebt er in allen den genannten Elementen wie in eigenen und vertrauten Räumen, er ändert seinen Wohnsitz und betritt bald dieses bald jenes Element, so dass man wirklich sagen kann: der Mensch ist alles, Land-, Wasser-, Luft- und Himmelsbewohner; [80] denn insofern er auf Erden wohnt und wandelt, ist er ein Lebewesen des Landes, insofern er untertaucht und schwimmt und häufig das Meer befährt, ein Bewohner des Wassers – Kauffahrer, Schiffsherren, Purpurfischer und alle, die auf Austern- und Fischfang ausgehen, sind ein deutlicher Beweis dafür –; insofern aber der Körper von der Erde emporsteigt und sich in die Höhe schwingt, darf man den Menschen einen Luftwanderer nennen; endlich aber ist er auch ein Himmelsbewohner, da er durch das Sehvermögen, den vorzüglichsten der Sinne, der Sonne, dem Monde und jedem andern Gestirne, den Planeten und Fixsternen, sich nähert[83].

[52.] 148 Treffend schreibt er auch dem ersten Menschen die Namengebung zu; denn Sache der Weisheit und Königswürde ist dies; ein Weiser aber war er durch Selbstunterricht und durch eigene Belehrung, da er von Gottes Hand geschaffen war, und auch ein König; dem Herrn aber kommt es zu, jedem seiner Untergebenen einen Namen zu geben. Eine ausserordentliche Herrschermacht umgab aber natürlich [36 M.] den ersten Menschen, den Gott mit Sorgfalt gebildet und des zweiten Ranges gewürdigt hat, indem er ihn zu seinem Statthalter und zum Herrn über alle übrigen Geschöpfe einsetzte, da doch auch die um so viele Generationen später lebenden Menschen, wiewohl unser Geschlecht infolge des langen Zeitraumes schon sehr geschwächt ist, nichtsdestoweniger noch über die unvernünftigen Geschöpfe gebieten und gleichsam die vom ersten Menschen überkommene Fackel der Herrschermacht bewahren[84]. 149 Er sagt also, dass Gott alle Tiere zu Adam hinführte, da er sehen wollte, welchen Namen er jedem [81] beilegen würde (1 Mos. 2,19), nicht weil er in Zweifel darüber war – denn nichts ist Gott unbekannt –, sondern weil er wusste, dass er die Denkkraft im Menschen mit selbständiger Bewegung ausgestattet hatte, um nicht selbst Anteil am Bösen zu haben[85]. Er prüfte ihn, wie ein Lehrer den Schüler, indem er die in der Seele ruhende Fähigkeit erweckte und sie zu einem der ihr obliegenden Geschäfte berief, damit er aus eigener Kraft die Namen gebe, nicht ungehörige und unpassende, sondern solche, die die Eigenschaften der Dinge sehr gut zum Ausdruck bringen. 150 Denn da die Denkkraft in der Seele noch ungetrübt war und noch keine Schwäche oder Krankheit oder Leidenschaft eingedrungen war, so nahm er die Vorstellungen von den Körpern und Gegenständen in voller Reinheit in sich auf und gab ihnen die zutreffenden Namen, da er gut erriet, was sie bezeichneten, so dass an ihrer Benennung zugleich auch ihr Wesen erkannt werden konnte. So war er in allem Schönen ausgezeichnet und gelangte bis hart an das Endziel menschlicher Glückseligkeit.

[53.] 151 Da aber nichts in der Schöpfung beständig ist, alles Sterbliche vielmehr Wandlungen und Veränderungen erfahren muss, so musste auch der erste Mensch die Folgen einer schlechten Tat verspüren. Die Veranlassung zum sündhaften Leben gab ihm das Weib. Solange er nämlich für sich allein war, glich er in seinem Alleinsein der Welt und Gott und prägte in seiner Seele die Wesenscharaktere beider aus, nicht alle, aber soviel davon ein sterbliches Wesen in sich aufzunehmen vermag. Als aber auch das Weib gebildet war, sah er ein ihm gleiches Gesicht und eine verwandte Gestalt; er freute sich des Anblicks, trat an sie heran und begrüsste sie. 152 Da sie aber kein Lebewesen wahrnahm, das ihr ähnlicher war als er, freute sie sich ebenfalls und erwiderte züchtig seinen Gruss. Nun trat die Liebe hinzu, die sie wie zwei getrennte Hälften eines Wesens vereinigte und [82] zusammenfügte, indem sie beiden das Verlangen nach inniger Gemeinschaft einflösste zur Erzeugung eines ähnlichen Wesens. Dieses Verlangen aber erzeugte auch jene Wollust des Körpers, die der Anfang ungerechter und ungesetzlicher Handlungen ist, um derentwillen die Menschen das sterbliche [37 M.] und unglückliche Leben für ein unsterbliches und glückseliges eintauschen. [54.] 153 Als der Mann noch ein einsames Leben führte und das Weib noch nicht gebildet war, wurde, wie erzählt wird, ein Garten von Gott gepflanzt, der mit den jetzt bei uns vorhandenen keine Aehnlichkeit hatte. In diesen ist das Material unbeseelt, denn es besteht aus verschiedenartigen Bäumen, die teils zu beständiger Augenweide immer grünen, teils zur Frühlingszeit sich verjüngen und knospen; manche von ihnen tragen edle Früchte für den Menschen, nicht nur zu notwendigem Nahrungsbedarf, sondern auch zu entbehrlichem Genuss für ein üppiges Leben; andere tragen wilde Frucht, die den Tieren überwiesen werden muss. In dem göttlichen Garten dagegen sind alle Pflanzen mit Seele und Vernunft begabt: denn die Früchte, die sie tragen, sind die Tugenden und die reine Erkenntnis und Geistesschärfe, durch die das Schöne und das Hässliche erkannt wird, ferner gesundes Leben und Unvergänglichkeit und ähnliches dieser Art. 154 Ich glaube jedoch, dass dies eher sinnbildlich als im eigentlichen Sinne aufgefasst werden muss; denn Bäume des Lebens oder der Erkenntnis sind weder früher jemals auf Erden zum Vorschein gekommen, noch ist es wahrscheinlich, dass sie in Zukunft sich zeigen werden. Vielmehr deutet er, wie es scheint, mit diesem Garten auf den führenden Teil der Seele (die Vernunft) hin, der ja gleichsam wie von Pflanzen von unzähligen Vorstellungen erfüllt ist; mit dem „Baume des Lebens“ deutet er auf die grösste aller Tugenden hin, die Gottesfurcht, durch die die Seele unsterblich wird, und mit dem „Baume der Erkenntnis des Guten und Bösen“ auf die mittelste Tugend, die Einsicht, welche die von Natur gegensätzlichen Dinge unterscheidet. [55.] 155 Nachdem Gott diese Ziele in der Seele aufgestellt hatte, beobachtete er wie ein Richter, nach welcher von beiden Seiten sie sich neigen würde. Wie er sie aber zum Bösen [83] sich hinneigen und Gottesfurcht und Frömmigkeit, durch die das unsterbliche Leben gewonnen wird, geringschätzen sah, verwarf er sie mit Recht, jagte sie aus dem Garten hinaus und liess ihr, da sie schwere, ja unheilbare Sünden begangen hatte, keine Hoffnung auf Wiederkehr, denn ungemein tadelnswert war die Ursache der Verführung, die wir nicht verschweigen dürfen. 156 Es heisst nämlich, das giftige erdgeborene Kriechtier (die Schlange) habe früher menschliche Laute hervorgebracht und habe sich einmal der Frau des ersten Menschen genähert und sie wegen ihrer Unschlüssigkeit und zu grossen Aengstlichkeit getadelt, dass sie zaudere und Bedenken trage sich eine Frucht zu pflücken, die sehr schön zum Anschauen, sehr angenehm zum Essen und ausserdem sehr nützlich sei, da sie dadurch Gutes und Böses würde erkennen können (1 Mos. 3,5.6). Da habe sie ohne Ueberlegung infolge ihres schwachen und unbeständigen [38 M.] Sinnes eingewilligt, habe von der Frucht gegessen und auch ihrem Manne davon gegeben; das stürzte beide urplötzlich aus der Unschuld und Einfalt ihres Herzens in Sünde. Der Allvater sei hierüber sehr erzürnt gewesen und habe die gebührenden Strafen über sie verhängt; denn ihre Handlungsweise verdiente seinen Zorn, da sie an dem Baume des unsterblichen Lebens, der Vollendung der Tugend, durch die sie ein langes und glückliches Leben gewinnen konnten, vorübergegangen waren und sich das flüchtige und sterbliche Leben, das eigentlich nicht ein „Leben“, sondern nur eine „Zeit“ ist voll von Missgeschick, erwählt hatten.

[56.] 157 Es sind das aber nicht etwa mythische Gebilde, an denen das Dichter- und Sophistenvolk Gefallen findet, sondern typische Beispiele, die zu allegorischer Deutung nach ihrem verborgenen Sinn auffordern. Wenn man demnach einer natürlichen Vermutung folgen will, wird man sagen, dass die erwähnte Schlange ein Sinnbild der Wollust ist, weil sie erstens ein Tier ohne Füsse ist und vornüber gebeugt auf dem Bauche kriecht; zweitens weil sie Erdschollen als Nahrung zu sich nimmt; drittens weil sie das Gift in den Zähnen herumträgt, mit dem sie die von ihr Gebissenen tötet. 158 Auch dem Lüstling fehlt nichts von alledem; [84] denn wie von einer Last niedergedrückt, erhebt er nur mit Mühe das Haupt, da die ungezügelte Lust ihn zu Falle bringt und zu Boden wirft; er geniesst nicht himmlische Nahrung, wie sie die Weisheit mit ihren Lehren und Grundsätzen den Schaulustigen bietet[86], sondern nur die Nahrung, die in den regelmässigen Jahreszeiten aus der Erde hervorwächst; aus dieser entstehen Trunksucht, Gefrässigkeit und Schlemmerei, die die Begierden des Leibes erregen und aufrühren und auch die heftigen Gelüste des Unterleibes erwecken. Gierig beschnüffelt er das Erzeugnis der Speisenbereiter und Kochkünstler und dreht den Kopf im Kreise herum und reckt sich, um den Duft der Leckerbissen einzuatmen; und wenn er eine wohlbesetzte Tafel erblickt, fällt er über die Speisen her, stürzt auf sie los und ist voller Eifer, sich mit allem auf einmal anzufüllen, da seine Absicht hierbei nicht ist, satt zu werden, sondern nur ja nichts von den Speisen übrig zu lassen. 159 Daher trägt er ebenso gut wie die Schlange das Gift in den Zähnen; denn diese sind die Diener und Handlanger der Unersättlichkeit: sie zerteilen und zerkleinern alles zum Essen und übergeben es erst der Zunge, die über den Geschmack entscheidet, zur Beurteilung und dann dem Schlund. Ein Unmass von Speisen ist aber natürlich tödlich [39 M.] und giftig, da sie keine Verdauung zulassen wegen der Menge der Speisen, die hinzukommen, ehe noch die früheren verdaut sind. 160 Es heisst aber, dass die Schlange menschliche Laute hervorbrachte, weil nämlich die Lust unzählige Verteidiger und Vorkämpfer hat, die die Sorge für sie und ihre Vertretung übernommen haben, die die Keckheit haben zu lehren, dass sie die Herrschaft über alles habe, über gross und klein, ohne irgend welche Ausnahme[87]. [57.] 161 Ist es doch bei der ersten Annäherung des männlichen Geschlechts [85] an das weibliche die Lust, die sie zusammenführt; durch ihre Vermittlung erfolgt Begattung und Zeugung. Die Neugeborenen sind zunächst mit nichts anderem so bekannt wie mit ihr, da sie an der Lust ihre Freude haben und ihr Gegenteil, den Schmerz, hassen; deshalb fängt das Kind bei der Geburt zu weinen an, wie es scheint, aus Schmerz über die Kälte; denn aus einem sehr warmen, ja feurigen Räume, dem Mutterschosse, wo es lange geweilt, kommt es plötzlich hinaus an einen kühlen und ungewohnten Ort, an die Luft, ist erschrocken und liefert durch sein Weinen den klarsten Beweis, dass es Schmerz empfindet und über den Schmerz unwillig ist. 162 Ferner, behaupten sie, trachtet jedes Lebewesen nach Lust als dem notwendigsten und wichtigsten Strebeziel, und am meisten der Mensch; denn die anderen erstreben sie nur mittels des Geschmacks und des Zeugungsorgans, der Mensch dagegen auch vermittelst der übrigen Sinne, da er allen Sehenswürdigkeiten und jedem Ohrenschmaus nachgeht, die den Ohren und Augen Genuss zu bereiten vermögen. 163 Noch sehr viel mehr wird zum Lobe dieser Empfindung gesagt und zum Beweise, dass sie mit den Lebewesen eng verbunden ist; [58.] aber das Gesagte erklärt zur Genüge, warum die Schlange anscheinend menschliche Laute hervorbrachte. Deshalb, scheint mir, hat auch der Gesetzgeber in den Spezialgesetzen, da wo er über die Tiere schreibt, die wir geniessen dürfen oder nicht dürfen, den sogenannten „Schlangenbekämpfer“ besonders gelobt (3 Mos. 11,22) – es ist dies ein Kriechtier, das „oberhalb der Füsse Schenkel besitzt, mit denen es am Erdboden hüpft“ (3 Mos. 11,21) und sich emporhebt, wie das Heuschreckengeschlecht überhaupt –. 164 Der „Schlangenbekämpfer“ scheint mir nämlich nur ein Sinnbild der Enthaltsamkeit zu sein, die einen endlosen Kampf und unversöhnlichen Krieg gegen Unmässigkeit und Wollust führt; denn die Enthaltsamkeit liebt ganz besonders Einfachheit und Genügsamkeit und was zu einem ernsten und heiligen Leben nötig ist, die Lust dagegen liebt übertriebene Geschäftigkeit und grossen Aufwand, die in der Seele und im Körper Ueppigkeit und Verweichlichung verursachen, wodurch das sündhafte Leben entsteht, [86] das nach Ansicht der Edeldenkenden noch schlimmer ist als der Tod.

[59.] 165 Die Lust wagt aber nicht, ihre listigen Verführungskünste dem Manne gegenüber anzuwenden, sondern sie verführt die Frau und durch sie den Mann; sehr geschickt [40 M.] und treffend; denn der Geist in uns ist das männliche Prinzip, die Sinnlichkeit das weibliche; die Lust aber pflegt zuerst mit den Sinnen Verkehr und täuscht durch sie den führenden Geist; denn sobald die einzelnen Sinne ihren Lockungen unterlegen sind, freuen sie sich über das, was ihnen dargeboten wird: das Auge über die Mannigfaltigkeit der Farben und Gestalten, das Ohr über die Harmonie der Töne, der Geschmack über die Süssigkeit der Fruchtsäfte, das Riechorgan über den Wohlgeruch der aufsteigenden Düfte; sie nehmen die Gaben in Empfang und reichen sie dem Geist, wie Diener ihrem Herrn, und bringen als Beistand die Ueberredungskunst mit, damit er keine zurückweise. Er aber lässt sich betören und verwandelt sich sofort aus dem Herrn in einen Untergebenen, aus dem Gebieter in einen Sklaven, aus einem Bürger in einen Verbannten und aus einem Unsterblichen in einen Sterblichen. 166 Man muss nämlich überhaupt wissen, dass die Lust gleichsam wie eine buhlerische Dirne danach trachtet, einen Liebhaber zu bekommen, und sich Kuppler sucht, um durch sie einen solchen einzufangen; den Liebhaber vermitteln und verschaffen ihr aber die Sinne; hat sie diese betört, so unterwirft sie sich mit Leichtigkeit auch den Geist; ihm führen die Sinne die äusseren Erscheinungen zu, sie melden sie an und zeigen sie, sie prägen ihm die Formen aller Dinge ein und erzeugen in ihm die entsprechende Empfindung; denn wie das Wachs nimmt er die durch die Sinne vermittelten Vorstellungen in sich auf, durch die er die Körper erfasst, da er es, wie ich schon sagte[88], durch sich selbst nicht vermag.

[60.] 167 Den Lohn für ihre Lust nun bekamen sie, die zuerst Sklaven dieser bösen und schwer zu heilenden Leidenschaft [87] geworden waren, sofort. Die Frau musste starke Beschwerden auf sich nehmen, die Schmerzen bei den Geburten und die wechselnden Sorgen während ihres übrigen Lebens, besonders bei der Geburt und beim Aufziehen der Kinder, sowohl wenn sie erkranken als wenn sie gesund sind, wenn sie Glück und wenn sie Unglück haben; sodann den Verlust der Freiheit und die Abhängigkeit von dem Ehemanne, dessen Befehlen sie gehorchen muss. Der Mann andererseits (erhielt zur Strafe) die Arbeiten, Mühsale und beständigen Anstrengungen zur Herbeischaffung der Lebensbedürfnisse und den Verlust der von selbst kommenden guten Gaben, die die Erde bisher ohne die Kunst des Landmannes hervorgebracht hatte; denn nun musste er selbst die unablässigen Arbeiten zum Erwerbe des Lebensunterhaltes und der Nahrung übernehmen, um nicht durch Hunger umzukommen. 168 Ich meine nämlich: gleichwie die Sonne und der Mond immer leuchten, nachdem es ihnen einmal, gleich bei der ersten Entstehung des Weltalls, befohlen war, und wie sie dieses göttliche Gebot deswegen [41 M.] genau beobachten, weil die Sünde aus den Himmelsgrenzen verbannt ist, ebenso würde auch der fruchtbare und ertragreiche Erdboden ohne die Kunst und Mitwirkung von Ackersleuten reiche Ernten in den einzelnen Jahreszeiten tragen; nun aber, da das Laster anfing über die Tugenden zu triumphieren, wurden die ewig sprudelnden Quellen der göttlichen Gnade gehemmt, damit sie nicht etwa Unwürdigen zugute käme. 169 Eigentlich hätte das Menschengeschlecht, wenn es die gerechte Strafe erleiden sollte, wegen seiner Undankbarkeit gegen Gott, seinen Wohltäter und Retter, vertilgt werden müssen. Aber da Gott seinem Wesen nach gnädig ist, so milderte er aus Erbarmen die Strafe, indem er das Menschengeschlecht bestehen liess und ihm nur die Nahrung nicht mehr in derselben Weise fertig zum Genuss gewährte, damit die Menschen nicht infolge zweier Uebel, Müssiggang und Ueberfluss, in Sünde und Frevel gerieten.

[61.] 170 So war das Leben der ersten Menschen, die anfangs in Unschuld und Einfalt lebten, später aber die Sünde der Tugend vorzogen. In dem hier besprochenen Bericht über die Weltschöpfung gibt uns Moses mancherlei Lehren, [88] die besten und schönsten von allen sind aber folgende fünf: die erste, dass Gott existiert und waltet, gibt er uns wegen der Gottlosen, die teils über sein Dasein Zweifel hegen und hin und her schwanken[89], teils mit grosser Keckheit sich erdreisten zu behaupten, dass er überhaupt nicht existiere und dass das nur von Menschen behauptet werde, die die Wahrheit durch mythische Gebilde verdunkeln. 171 Die zweite, dass Gott einzig ist, wegen der Vertreter der Vielgötterei, die so schamlos sind, die schlechteste der schlechten Staatsverfassungen, die Massenherrschaft, von der Erde in den Himmel zu verpflanzen. Die dritte, dass die Welt, wie gesagt, geschaffen ist, mit Rücksicht auf diejenigen, die da meinen, dass die Welt unerschaffen und ewig ist, und Gott gar nichts zuschreiben. Die vierte Lehre ist, dass auch die Welt einzig ist, weil der Schöpfer einzig ist, der durch die Einzigkeit sein Schöpfungswerk sich selbst gleich machte und den ganzen Urstoff zur Erschaffung des Alls verwandte[90]; denn ein Ganzes wäre es nicht, wenn es nicht aus allen Bestandteilen (des Urstoffes) zusammengefügt und zusammengesetzt wäre; es gibt nämlich manche, die mehrere, ja sogar unendlich viele Welten annehmen, Leute, die in Wahrheit selbst unerfahren[91] und in völliger Unkenntnis der Dinge sind, die zu wissen für sie gut wäre. Die fünfte Lehre ist, dass Gott der Welt seine Fürsorge angedeihen lässt; denn dass der Schöpfer für sein Werk Sorge trägt, ist nach den Gesetzen und Bestimmungen der Natur notwendig, denen zufolge auch Eltern für ihre Kinder sorgen. 172 Wer alle diese [42 M.] bewundernswerten und kostbaren Grundsätze nicht mit dem [89] Ohr, sondern vielmehr mit seinem Geiste erfasst und seiner Seele tief eingeprägt hat, dass Gott ist und waltet, dass der wahrhaft Existierende einzig ist, dass er die Welt geschaffen und nur diese eine geschaffen, indem er sie, wie gesagt, sich selbst durch die Einheit gleich machte, und dass er stets für die von ihm geschaffene Welt Sorge trägt, der wird, durchdrungen von den Lehren der Gottesfurcht und Frömmigkeit, ein glückliches und seliges Leben führen.



  1. Philo sieht in dem Umstände, dass die Thora mit der Weltschöpfung beginnt, eine Uebereinstimmung mit der Lehre der Stoiker, nach der die wahre Sittlichkeit darin besteht, dass man der Natur folgt und nach der Natur lebt (ὁμολογουμένως τῇ φύσει ζῆν, secundum naturam vivere). Die Mosaische Gesetzgebung lehrt die wahre Sittlichkeit; also stehen Gesetz und Welt (Natur) im Einklang mit einander, und der nach dem Gesetz lebende Mensch ist zugleich der wahre Weltbürger (κοσμοπολίτης), da er sich nach demselben Willen der Natur richtet, von dem die Welt beherrscht ist. Eine ähnliche Verknüpfung liegt in der Bemerkung des Midrasch Tanchuma zu 1 Mos. 1,1, dass die Welt auf der Thora gegründet ist, und des Talmud Nedarim f. 32a, dass Himmel und Erde nicht ohne die Thora bestehen. Vgl. auch Beresch. R. zu Anfang: „im Hinblick auf die Thora schuf Gott die Welt“.
  2. Die Worte sind hauptsächlich gegen Aristoteles gerichtet, der in Uebereinstimmung mit älteren griechischen Philosophen die Anfangslosigkeit und Ewigkeit der Welt behauptete. In der Schrift „über die Unzerstörbarkeit der Welt“ verteidigt Philo ausführlich die mit der Lehre Platos und der Stoiker übereinstimmende biblische Anschauung von der Erschaffung der Welt. Zum Gedanken vgl. Weish. Sal. XIII 3ff.
  3. Die Unterscheidung der zwei Weltprinzipien, der wirkenden Ursache und der passiven Materie, ist stoische und pythagoreische Anschauung. Die Weltschöpfung ist bei Philo nicht (wie in der Bibel) eine Schöpfung aus WS: Die auf der nächsten Seite fortgesetzte Anmerkung wurde hier vervollständigt dem Nichts, sondern eine Weltbildung (ebenso Weish. Sal. XI 17). Wenn Philo an andern Stellen die Schöpfung aus dem μὴ ὄν d. h. dem Nichtseienden geschehen lässt, so versteht er mit Plato unter dem μὴ ὄν nicht das absolute Nichts, sondern das was in keiner bestimmten Form vorlag d. h. die formlose leblose Materie, die erst durch Gott Form, Leben und wirkliches Sein erhält. Unter den jüdischen Religionsphilosophen des Mittelalters vertritt denselben Standpunkt Levi b. Gerson (Gersonides), während Maimonides an der Schöpfung ex nihilo streng festhält. Ebenso ist die Gleichstellung der wirkenden Ursache (Gott) mit dem Geist des Weltalls (νοῦς τῶν ὅλων), der Weltseele, stoisch. „Rein und lauter“ ist der νοῦς im Gegensatz zur Kreatur, die aus Mischung besteht.
  4. d. h. mit anderen Worten: wenn die Welt nicht geschaffen ist, dann gibt es auch keine Vorsehung. Die Polemik richtet sich gegen die Lehre der Epikureer, die eine Vorsehung leugneten.
  5. Die Sechs hat nach der pythagoreischen Zahlenlehre schöpferische und belebende Kraft; sie gilt als die erste vollkommene Zahl, weil sie gleich der Summe oder dem Produkt ihrer Teile ist (6 = 3×2 oder 2×3 oder 1×6 ) und weil sie die erste gerad-ungerade Zahl ist. Die Pythagoreer bezeichneten die ungerade Zahl als das männliche, die gerade Zahl als das weibliche Prinzip; die erste gerade Zahl ist 2, die erste ungerade 3 (die 1 als die allerbedeutsamste Zahl wird dabei nicht mitgerechnet), aus der Verbindung (Multiplikation) beider entsteht die 6, also ist sie die erste gerade-ungerade Zahl. Gerade-ungerade (ἀρτιοπέριττοι) nannten die Pythagoreer solche Zahlen, die durch eine gerade Zahl geteilt eine ungerade ergeben und umgekehrt, also 6, 10, 14, 18 u. s. w.
  6. Die Zahl 1 ist in der pythagoreischen Zahlenlehre, weil sie die Quelle aller Zahlen ist, das Symbol des Urgrunds aller Dinge, sie nimmt daher eine besondere Stellung unter den Zahlen ein. Philo findet diese Wertschätzung der 1 auch in der Bibel ausgedrückt, weil in der Septuaginta beim ersten Schöpfungstage (in wörtlicher Uebersetzung des hebräischen יום אחד‎) die Kardinalzahl gebraucht ist: „und es ward Abend und es ward Morgen, ein Tag“ (1 Mos. 1,5) ἡμέρα μία, nicht πρώτη.
  7. Am ersten Tage wurde nach Philos Ansicht die Idealwelt (κόσμος νοητός) geschaffen, das Urbild der sinnlich wahrnehmbaren Welt (κόσμος αἰσθητός). Ihren Ursprung hat diese Ansicht in der platonischen Ideenlehre, speziell in den Gedanken, die Plato im Timaeus p. 28ff. entwickelt.
  8. Den Vergleich vom König und Baumeister hat auch der Midrasch. Beresch. R. c. 1 Anfang: „Die Thora sagt: ich war das Werkzeug Gottes. Wenn ein König von Fleisch und Blut einen Palast baut, so baut er ihn nicht nach eigener Einsicht, sondern nach der Einsicht eines Baumeisters, der auch nicht nach seinem Gutdünken baut; er hat vielmehr Papiere und Tafeln, aus denen er die Einteilung der Zimmer und Bäume erkennt. Ebenso blickte Gott auf die Thora und schuf die Welt.“
  9. „Grossstadt“ nennt Philo häufig die Welt, indem er sie nach dem Beispiel der Stoiker mit einer Stadt vergleicht.
  10. Plato Tim. 29e: „aus Güte hat Gott die Welt geschaffen, in seiner Güte und Neidlosigkeit wollte er, dass alles gut und vollkommen gleich ihm werde.“ Diese Anschauung, dass Gottes Güte die Ursache der Weltschöpfung sei, ist auch echt jüdisch. Vgl. Weish. Sal. XI 24: „Du liebst alles, was da ist, und verabscheust nichts, was du geschaffen hast, denn nicht hättest du etwas geschaffen, wenn du es hasstest.“ Im täglichen Morgengebet heisst es: „und in seiner Güte erneuert er an jedem Tage beständig das Schöpfungswerk“.
  11. d. h. der Mensch als Teil des Weltganzen.
  12. Unter dem Ebenbilde Gottes (εἰκὼν θεοῦ) versteht Philo die göttliche Vernunft, den Logos: dieser ist Abbild Gottes und Urbild aller Dinge. Nach Philo ist also der Mensch nicht unmittelbar ein Ebenbild Gottes, sondern ein Ebenbild des göttlichen Logos. Eine ähnliche Vorstellung findet sich im Midrasch. Schemot R. c. 30: „Adam ist geschaffen im Ebenbilde der Engel des Dienstes“, und c. 32 zu 2 Mos. 23,20: „Dem ersten Menschen habe ich ein Gebot gegeben, dass er es halte, und ich habe ihn gleich gemacht den Engeln des Dienstes, denn es heisst (1 Mos. 3,22): siehe, Adam ist wie unser einer“.
  13. Stoische Definition der Zeit.
  14. Die älteren griechischen Philosophen hatten angenommen, dass die Zeit älter sei als die Welt. Philo folgt Plato, der entsprechend seiner Annahme eines Weltanfangs behauptete, dass die Zeit erst mit der Welt entstanden sei.
  15. Philo nennt den Himmel aus dem reinsten Bestandteil der Materie gebildet, weil er sich nach stoischer Lehre den Himmel und die Himmelskörper aus dem Feuer entstanden denkt, das als das feinste und reinste der vier Elemente galt.
  16. Unter den sichtbaren Göttern sind die Gestirne gemeint, die von den meisten griechischen Philosophen für vernünftige göttliche Wesen gehalten wurden. Philo schliesst sich in der Ausdrucksweise und philosophischen Terminologie eng an seine griechischen Quellen an; trotz seines Monotheismus trägt er selbst kein Bedenken, die Gestirne als „Götter“ oder als „göttliche Wesen“ zu bezeichnen, ganz so wie es Plato, Aristoteles, die Stoiker und die Pythagoreer taten.
  17. Sieben Teile unterscheidet Philo in der Idealwelt, die nach seiner Ansicht am ersten Tage geschaffen wurde: die Ideen des Himmels, der Erde, der Luft, des leeren Raumes, des Wassers, des Lufthauches und des Lichts. Diese 7 Dinge las Philo aus den drei ersten Versen der Bibel heraus: „Im Anfang schuf Gott den Himmel und die Erde ... und Finsternis lag auf dem Abgrund, und der Geist (πνεῦμα = Lufthauch, Odem) Gottes schwebte über dem Wasser; und Gott sprach, es werde Licht“. Merkwürdig ist, dass auch nach dem Talmud vor der eigentlichen Weltschöpfung sieben ideelle Dinge geschaffen wurden (Pesachim f. 54a). Auch im Buch der Jubiläen cap. 2 wird erzählt, dass 7 Dinge am ersten Tage geschaffen wurden. Im Midrasch Tadsche cap. 6 ist Philo benutzt (A. Epstein, Revue des études juives XXI S. 83).
  18. Philo identifiziert den biblischen Ausdruck σκότος (Finsternis) mit der Idee der Luft (ἀήρ). Die altgriechische Anschauung versteht nämlich unter ἀήρ die untere dichte neblige Luft und geradezu den finsteren Nebel im Gegensatz zu αἰθήρ (Aether), der oberen Luftschicht, dem klaren Himmel.
  19. Der Ausdruck der LXX ἄβυσσος (= תהום‎) bedeutet Untiefe, Abgrund, womit die Untiefen der Wassermassen gemeint sind, die die Erde bedeckten. Philo versteht darunter die Idee des leeren Raumes, weil dieser sehr tief und unermesslich ist.
  20. Das πνεῦμα (Pneuma) ist nach der Anschauung der griechischen Philosophen, insbesondere der Stoiker, das Lebensprinzip, die Lebenskraft.
  21. Aehnlich erläutert der Midrasch den Ausdruck ויבדל‎ (1 Mos. 1,4) durch ein Gleichnis von zwei streitenden Feldherren eines Königs. Vgl. Beresch. R. c. 3.
  22. Philo bringt nach falschen Etymologien das Wort οὐρανός (Himmel) mit ὅρος (Grenze) und ὁρατός (sichtbar) zusammen.
  23. Aus Philo übernommen ist der Gedanke, dass Gott die Pflanzenwelt eher als Sonne und Mond geschaffen, um seine Allmacht zu zeigen, im Midrasch Tadsche (A. Epstein, Revue des études juives XXI, 87).
  24. παντέλεια (höchste Vollendung, Vollkommenheit) wurde in der pythagoreischen Zahlensymbolik die Zahl 10 genannt.
  25. Gemeint ist das Dezimalsystem in der Benennung der Zahlen von 1 bis 10, die immer wieder verwendet werden.
  26. In der Vierzahl (in den Zahlen 1–4) sind alle Verhältnisse (λόγοι) der musikalischen Konsonanzen (συμφωνίαι) enthalten. Die Griechen nannten συμφωνία die Konsonanz oder das Zusammenstimmen zweier Töne und διάστημα das Intervall zwischen solchen 2 Tönen von verschiedener Höhe. Solcher Intervalle nennt Philo hier und an anderen Stellen vier: 1. διὰ τεττάρων, die Quart; 2. διὰ πέντε, die Quint; 3. διὰ πασῶν, die Oktave; 4. δὶς διὰ πασῶν, die Doppeloktave. Die Ausdrücke (bei denen χορδῶν zu ergänzen ist) beziehen sich auf die achtsaitige pythagoreische Leier (ὀκτάχορδος). Der Ausdruck λόγοι bezeichnet in der Musik die Zahlenverhältnisse der Schwingungen bei zwei Tönen in derselben Zeit. Die Zahl der Schwingungen verhält sich umgekehrt zur Länge der Saiten. Wenn die Hälfte der Saite die Oktave des Grundtons gibt, 3/4 die Quart, 2/3 die Quint, so macht umgekehrt die Oktave doppelt soviel Schwingungen als der Grundton, es entsteht also der λόγος διπλάσιος (2) oder das Verhältnis 2:1 oder 4:2; die Doppoloktave macht 4mal soviel Schwingungen, es entsteht also der λόγος τετραπλάσιος (4) oder das Verhältnis 4:1; die Quart macht 4 Schwingungen, während der Grundton 3 ist, also entsteht der λόγος ἐπίτριτος (11/3) oder das Verhältnis 4:3; die Quint macht 3 Schwingungen, während der Grundton 2 ist, also entsteht der λόγος ἡμιόλιος (1½) oder das Verhältnis 3:2.
  27. Die Pythagoreer führten alle Eigenschaften auf Zahlen zurück, so auch die Gerechtigkeit auf die 4 als das erste Quadrat; denn wie das Quadrat in gleiche Teile zerfällt, teilt die Gerechtigkeit allen das Gleiche zu.
  28. Diese auch sonst von Philo zitierte Abhandlung ist verloren gegangen.
  29. nämlich die tägliche Bewegung um die Erde und die Bewegung um die Sonne.
  30. Philo bezeichnet oft im Anschluss an die Pythagoreer die Bewegung der Gestirne als harmonische Reigentänze. Unter der „vollkommenen Musik“ ist die Harmonie der Sphären gemeint, die nach pythagoreischer Lehre darin besteht, dass in den Bewegungen der Himmelskörper die richtigen Zahlenverhältnisse herrschen und infolge dessen ein musikalischer Zusammenklang.
  31. Den Bewegungen der Gestirne sowie den Sonn- und Mondfinsternissen schrieb die Astrologie nicht nur Einfluss auf die Witterung und bestimmte Naturereignisse, sondern auch auf Menschenschicksale zu; Philo erwähnt nur die Einwirkungen in ersterem Sinne.
  32. Der griechische Ausdruck für „schwimmen“ (νήχειν) wird bisweilen auch vom Flug der Vögel gebraucht. Vgl. das deutsche Wort „Luftschiffer“.
  33. Die Fische wurden im Altertum auf eine niedrigere Stufe gestellt als die übrigen Tiere. Plato teilt die Tiere in 4 Stufen ein: Vögel, zahme Landtiere, wilde Tiere, Fische (Tim. 92a).
  34. Philo vergleicht die Reihenfolge, in der die verschiedenen Tiergattungen nach dem biblischen Schöpfungsbericht geschaffen wurden, mit den Entwicklungsphasen in der Entstehung des einzelnen Tieres, wobei er sich an die stoische Einteilung aller Wesen in 4 Klassen hält: 1. solche die nur ἕξις oder leblose Beschaffenheit haben (unorganische Wesen); 2. solche die φύσις oder organische Natur haben (Pflanzen); 3. solche die ψυχή oder animalisches Leben haben (Tiere), und zwar zerfällt die tierische Seele in WS: Die auf der nächsten Seite fortgesetzte Anmerkung wurde hier vervollständigt 2 Hauptkräfte, die θρεπτική (Nährkraft) und die αἰσθητική (Wahrnehmungs- und Empfindungsvermögen); 4. die Menschen, die durch die ψυχὴ λογική (Vernunft) sich von den andern Tieren unterscheiden.
  35. Ganz ähnlich im Talmud Berachot f. 10a: „Wie Gott die ganze Welt erfüllt, so erfüllt auch die Seele den ganzen Körper; wie Gott sieht und nicht gesehen wird, so sieht auch die Seele und wird nicht gesehen“. Vgl. Midr. Tehill. 103,4.
  36. Die Schilderung des im Verlangen nach Erkenntnis emporstrebenden menschlichen Geistes lehnt sich an die Schilderung des philosophischen Triebes der Seele (des platonischen Eros) in Platos Phaedrus an.
  37. „Nüchterne Trunkenheit“ ein Lieblingsausdruck Philos zur Bezeichnung des Rausches der Begeisterung.
  38. Die Korybanten waren nach der Vorstellung der Griechen die mythischen Vorbilder der Priester der phrygischen Göttin Kybele, die in ekstatischer Verzückung unter Lärm und Geschrei mit wilder Musik und Waffentänzen ihren Dienst verrichteten.
  39. Den Plural in den Worten der Bibel „wir wollen einen Menschen schaffen nach unserem Ebenbilde“ nimmt Philo buchstäblich und erklärt ihn aus der zwiespältigen Natur des Menschen, in dessen Seele das Gute wie das Böse seinen Sitz hat. Das Böse aber, meint Philo, liegt Gott fern, Gott, der die Quelle aller Vollkommenheit ist, darf nicht als Urheber des Bösen angesehen werden; nur das Gute in der Menschenseele rührt von Gott selbst her, das Böse dagegen von anderen. Daher sind nach Philos Auffassung des Ausdrucks der Bibel bei der Schöpfung des Menschen gleichsam mehrere Demiurgen beteiligt. Selbstverständlich denkt Philo dabei nicht an andere Götter, die Urheber des Bösen im Menschen sind vielmehr göttliche Kräfte (θεῖαι δυνάμεις), die das ausführen, was Gott bei seiner Erhabenheit nicht selbst tut, wie Philo an anderer Stelle ausdrücklich sagt (de fuga § 69), dass Gott selbst den Geist, das Unsterbliche im Menschen, bildete, den sterblichen Teil dagegen durch seine Kräfte bilden liess. Der Grundsatz, dass von Gott nur das Gute, nicht das Böse, ausgehen könne, findet sich auch im Midrasch. Vgl. Beresch. R. c. 3 zu 1 Mos. 1,5: „R. Eleasar sagte: Gott verbindet seinen Namen niemals mit dem Bösen, sondern nur mit dem Guten“. Echa R. c. 2.
  40. Philo nimmt auch beim Menschen eine doppelte Schöpfung an, die des Idealmenschen und die des wirklichen ersten Menschen (vgl. § 134). Hier spricht er von dem Idealmenschen oder der Gattung Mensch, und WS: Die auf der nächsten Seite fortgesetzte Anmerkung wurde hier vervollständigt diesem Idealmenschen spricht er Doppelgeschlechtigkeit zu, indem er in den Worten der Septuaginta „ein männliches und ein weibliches erschuf er sie“ die Andeutung finden will, dass in ihm die beiden Arten Mann und Weib potenziell vorhanden waren. Veranlasst ist diese Auffassung Philos wahrscheinlich durch die Stelle in Platos Gastmahl, wo der Komiker Aristophanes in einem von ihm erzählten Mythus sagt, dass der Urmensch doppelgeschlechtig war. Diese Anschauung von der mannweiblichen Natur des ersten Menschen wird auch im Midrasch Beresch. R. cap. 8 erwähnt (aus Philo entlehnt?): „In der Stunde, da Gott den ersten Menschen schuf, schuf er ihn mannweiblich (אנדרוגינום‎); denn es heisst: Mann und Weib schuf er sie“.
  41. d. h. das körperliche Leben.
  42. d. h. das geistige Leben.
  43. Philos Bild vom Gastgeber wiederholen die Kirchenschriftsteller Ambrosius (Epist. 43) und Gregorius von Nyssa (de hom. opif. cap. 2). Ein ähnlicher Vergleich findet sich in dem syrischen „Buche von der Erkenntnis der Wahrheit“ (übers. von K. Kayser (1893) S. 242ff). Vgl. auch Talmud Sanhedr. f. 38a. Midrasch Beresch. R. c. 8 und Jalkut c. 15.
  44. Die Musik der Menschen ist nach der Ansicht der Pythagoreer nur eine Nachahmung und ein Abbild der himmlischen Sphärenmusik.
  45. Einen „kleinen Himmel“ oder eine „kleine Welt“ nennt Philo öfter den Menschen nach aristotelischer, stoischer und pythagoreischer Ausdrucksweise im Gegensatz zum Makrokosmos, zur Welt, die umgekehrt von Philo bisweilen der „grosse Mensch“ genannt wird. Der Gegensatz von Makrokosmos und Mikrokosmos zieht sich auch durch die ganze Philosophie des Mittelalters.
  46. Philo vergleicht den menschlichen Geist mit dem Himmel: wie am Himmel die Gestirne, die nach Philo göttliche Naturen (θεῖαι φύσεις) sind, sich herumbewegen, so bewegt der Mensch in seiner Seele gleichsam sternähnliche oder göttliche Naturen d. h. göttliche Gedanken.
  47. Eine altjüdische Legende erzählte, dass, nachdem Adam geschaffen war, alle Tiere zu ihm kamen und sich vor ihm als ihrem Herrn bückten. Vgl. Pirke Rabbi Elieser cap. 11. In dem syrischen Buche „die Schatzhöhle“ (ed. Bezold S. 3) wird erzählt: In Jerusalem (sic) ward Adam zum König, Priester und Propheten gemacht, und dort gab ihm Gott die Herrschaft über alle Geschöpfe und sie kamen zu Adam und er gab ihnen Namen und sie beugten ihr Haupt vor ihm und beteten ihn an und dienten ihm. Ebenso im aethiopischen Adambuch S. 34. Vgl. Grünbaum, Neue Beiträge zur semit. Sagenkunde S. 56f.
  48. In dem Midrasch Pesikta Rabbati Zusatz 21 heisst es: „Und Gott der Herr dachte daran, ihn zum Herrscher über seine Welt einzusetzen und zum König über alle seine Geschöpfe, indem er sprach: ich bin König über die obere Welt und der Mensch ist König über die untere Welt“.
  49. Die Zahl 7 galt sowohl bei den orientalischen Völkern als bei den Griechen für eine heilige Zahl. In der pythagoreischen Zahlensymbolik spielte sie eine grosse Rolle neben der 1, der 4 und der 10. Als Quelle für die folgenden Erörterungen (§ 91–127) benutzte Philo wahrscheinlich den (verlorenen) Kommentar des Stoikers Posidonius zu Platos Timaeus.
  50. d. h. man muss bei den Multiplikationen mit der gleichen Zahl immer mit der 1 beginnen und diese als erstes Glied in der Sieben-Reihe mitzählen.
  51. d. h. wenn man immer mit der gleichen Zahl (2 oder 3 u. s. f.) multipliziert.
  52. d. h. wenn man jedesmal mit 2 multipliziert (1; 2×1 = 2; 2×2 = 4; 2×4 = 8; 2×8 = 16; 2×16 = 32; 2×32 = 64), erhält man die Zahl 64 d. i. die Quadratzahl von 8 und die Kubikzahl von 4.
  53. d. h. wenn man jedesmal mit 3 multipliziert (1; 3×1 = 3; 3×3 = 9; 3×9 = 27; 3×27 = 81; 3×81 = 243; 3×243 = 729), erhält man die Zahl 729 d. i. die Quadratzahl von 27 und die Kubikzahl von 9.
  54. Die durch solche Multiplikation hervortretende Beziehung der Siebenzahl zu den Quadrat- und Kubikzahlen galt deshalb für wichtig, weil das Quadrat als Vertreter des Unkörperlichen, der Kubus (κύβος, Würfel) als Vertreter des Körperlichen angesehen wurde.
  55. 64; 2×64 = 128; 2×128 = 256; 2×256 = 512; 2×512 = 1024; 2×1024 = 2048; 2×2048 = 4096.
  56. d. i. der Göttin Pallas Athene.
  57. Pythagoreischer Philosoph, Zeitgenosse des Sokrates.
  58. Im Text ist hier eine Lücke, die am besten wohl durch obige Worte auszufüllen ist.
  59. 1+2+3+4+5+6+7 = 28: diese Zahl ist ihren Teilen gleich, denn 7×4 oder 4×7 = 28.
  60. 1; 1×2 = 2; 2×2 = 4.
  61. 1; 1×2 = 2; 2×2 = 4; 4×2 = 8.
  62. s. oben zu § 91 Anm. 4.
  63. Dasselbe, was oben § 48 bei der Zahl 4 gesagt ist, wird hier von der Zahl 7 wiederholt, weil die Zahlen, die bei diesen Verhältnissen in Betracht kommen, innerhalb der Zahlenreihe 1–7 liegen.
  64. Nach den Sternen des grossen Bären richteten sich die griechischen Schiffer, weil diese Sterne nie untergehen. Der Inhalt der §§ 114–123 ist übernommen im Midrasch Tadsche (A. Epstein, Revue des ét. juives XXI, S. 88).
  65. Die Aequinoctien fallen immer in den siebenten Monat, weil die jüdische Einteilung des Jahres eine doppelte war. Nach der älteren natürlichen Zählung beginnt das Jahr mit dem Monat Nissan, dann fällt das Herbst-Aequinoctium in den siebenten Monat (Tischri), in dem die Wein- und Obstlese stattfand und das Neujahrsfest, der Versöhnungstag und das Hüttenfest gefeiert wurden. Nach der andern bürgerlichen Zahlung beginnt das Jahr mit dem Monat Tischri, dann fällt das Frühlings-Aequinoctium in den siebenten Monat (Nissan), in dem (in Palästina) die erste Saatfrucht reift und das Pessachfest gefeiert wird.
  66. Nach der Lehre der Stoiker, der Philo hier folgt, zerfällt die Seele in die Vernunft (τὸ ἡγεμονικόν) und den vernunftlosen Teil (τὸ ἄλογον), der letztere wieder in die genannten sieben Teile.
  67. Plato Timaeus 75 d.
  68. Die ältere griechische Leier hatte sieben Saiten (Heptachord); an ihre Stelle trat später die pythagoreische achtsaitige (Oktachord).
  69. α, ε, η, ι, ο, υ, ω.
  70. Halbvokale heissen in der griechischen Grammatik die Buchstaben λ, μ, ν, ρ, σ.
  71. d. h. alles, was wir mit den Sinnen wahrnehmen, verhält sich zu den Ideen wie die Siegelabdrücke zum Petschaft.
  72. Philo sieht in den Worten 1 Mos. 2,4.5 eine Rekapitulation des im 1. Kapitel erzählten Schöpfungswerkes und eine Bestätigung seiner Unterscheidung einer Idealwelt und einer körperlichen Welt. Der Grund liegt in der Uebersetzung der LXX, die das hebräische טרם‎, das hier soviel wie „noch nicht“ bedeutet, nach der gewöhnlichen Bedeutung irrtümlich mit πρὸ τοῦ (bevor) übersetzt. Aus den Worten „er schuf alles Gras und Kraut, bevor Gras und Kraut auf Erden war“ schliesst Philo, dass hier das ideale Gras und Kraut gemeint ist und damit die ganze Idealwelt.
  73. In den Worten 1 Mos. 2,6 sieht Philo wiederum nur eine Wiederholung von 1 Mos. 1,9.10 (Scheidung von Meer und Erde und Unterscheidung von Meerwasser und Süsswasser). Die folgenden Ausführungen § 131–133 sind daher im wesentlichen auch nur eine Wiederholung des Gedankens, der bereits § 38 erörtert ist.
  74. Im Verhältnis zu der grossen Ausdehnung des Oceans nehmen sich die im Altertum am besten bekannten Teile des Mittelländischen Meeres wie Häfen oder Buchten aus.
  75. Der Name der Göttin Demeter wurde gewöhnlich von δῆ = γῆ (Erde) und μήτηρ (Mutter) abgeleitet.
  76. Plato Menex. 238a.
  77. Philo findet in dem zweiten Bericht der Bibel über die Erschaffung des Menschen (1 Mos. 2,7) die eigentliche Schöpfung des ersten Menschen, während in dem ersten Bericht (1 Mos. 1,27) nur von dem Menschen in der Idee (dem Idealmenschen) die Rede sein soll (s. ob. § 76).
  78. Auch nach der Lehre der Stoiker ist die Seele ein warmer göttlicher Hauch, der den ganzen Körper durchdringt. Vgl. Diog. La. VII 157. Galen, de Hipp. et Plat. III 1 tom. V p. 287. Seneca Epist. 66,12.
  79. Die vernünftige Seele thront gewissermassen in dem menschlichen Körper wie die Götterbilder in einem Tempel.
  80. Ein ähnlicher Gedanke findet sich bei dem Neuplatoniker Plotin; vgl. Zeller, Philosophie der Griechen III 2⁴,558.
  81. Philo schreibt dem ersten Menschen (vor dem Sündenfall) die Eigenschaften des stoischen Ideals des Weisen zu; er ist nach ihm das Prototyp des Kosmopoliten, der in vollster Harmonie mit dem ὀρθὸς λόγος φύσεως (dem Welt- oder Naturgesetz) lebt und bestrebt ist, ganz nach dem Willen des Weltenlenkers zu handeln, um so das Ziel alles sittlichen Strebens, die Annäherung an Gott, zu erreichen. Vgl. Diog. La. VII 88. Mark Aurel V 27.
  82. Der Gedanke kehrt oft bei Philo wieder, dass bei der Bildung des Menschen kleine Teilchen von jedem der vier Elemente, aus denen die ganze Welt zusammengesetzt ist, zur Anwendung kamen. Er stammt aus der pythagoreischen Lehre vom Makrokosmos und Mikrokosmos (oben S. 57). Vgl. auch Sanhedr. f. 38 a: היה ר' מאיר אומר אדם הראשון מכל העולם כלו הוצבר עפרו‎ „R. Meir sagte: der Staub, aus dem der erste Mensch geschaffen wurde, war aus der ganzen Welt zusammengebracht“. Pirke R. Elieser c. 11. Dieselbe Vorstellung findet sich auch in der syrischen Literatur. In dem syrischen Adambuch „Die Schatzhöhle“ S. 3 (ed. Bezold) wird erzählt, dass Gott von jedem der vier Elemente ein sehr kleines Teilchen nahm und daraus Adam bildete, damit alles, was in der Welt ist, ihm untertänig sei. In dem „Buch von der Erkenntnis der Wahrheit“ (übers. von Kayser) S. 35 heisst es wie bei Philo, dass der Mikrokosmos (der Mensch) aus denselben vier Elementen besteht, aus denen der Makrokosmos zusammengesetzt ist.
  83. Die zuletzt erwähnte Eigenschaft des Menschen bezieht sich auf das vierte Element, das Feuer, weil der Aether oder Himmel in der antiken Vorstellung als aus Feuer bestehend gedacht wurde.
  84. Das Bild ist hergenommen von dem Fackelwettlauf, der verschiedenen Göttern zu Ehren (besonders in Athen) veranstaltet wurde, und bei dem es darauf ankam, eine Fackel noch brennend zuerst ans Ziel zu bringen; die einzelnen Teilnehmer der wettkämpfenden Parteien waren in bestimmten Entfernungen aufgestellt und ein jeder hatte im schnellsten Lauf seine Fackel, ohne sie ausgehen zu lassen, dem nächsten zu übergeben. Aehnlich wie diese Fackelträger vererben gewissermassen die Menschen die göttliche Fackel ihrer Herrschaft über die anderen Geschöpfe ihren Nachkommen.
  85. d. h. dem Menschen ist selbständiges Denken (und Willensfreiheit) verliehen, damit die Fehler, die er begeht, nicht auf Gott zurückgeführt werden können (s. ob. § 75 Anm.).
  86. d. h. denen, die gern in der Betrachtung der Schaustücke der Natur verweilen und dadurch zur Philosophie und zur Weisheit gelangen (oben § 54).
  87. Gemeint ist die Lehre der Epikureer, deren Beweisgründe für die Bedeutung der Lust im folgenden angeführt werden. Vgl. Usener, Epicurea p. 274.
  88. Vgl. § 139.
  89. Philo zählt hier die Skeptiker zu den Atheisten.
  90. Die Einheit der Welt vertritt Philo in Uebereinstimmung besonders mit Plato und den Stoikern. Vgl. Plato Tim. 31a 32c. Diog. La. VII 143. Philos Polemik richtet sich gegen die Epikureer, die (mit Demokrit) behaupteten, dass das Weltall aus unendlich vielen begrenzten Einzelwelten (ἄπειροι κόσμοι) bestehe.
  91. ἀπείρους, ἄπειροι ein im Deutschen nicht wiederzugebendes Wortspiel: ἄπειρος bedeutet zugleich „unendlich viel“ und „unerfahren.“ Philo hat dieses Wortspiel aus Plato übernommen (Plat. Tim. 55c.).
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