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Philon: Ueber die Weltschöpfung (De opificio mundi) übersetzt von Joseph Cohn

erforschen will, warum eigentlich dieses All geschaffen wurde, so scheint er mir das Ziel nicht zu verfehlen, wenn er behauptet – was übrigens auch schon einer der Alten gesagt hat[1] –, gütig sei der Vater und Schöpfer; deshalb hat er seine vollkommene Natur nicht der Materie vorenthalten, die aus sich selbst nichts Edles hat, aber die Fähigkeit besitzt alles zu werden. 22 Denn von selbst war sie ungeordnet, eigenschaftslos, leblos, ungleich, voll Verschiedenartigkeit, Disharmonie und Missklang; sie empfing aber ihre Veränderung und Umwandlung in die vorzüglichen Gegensätze, in Ordnung, Beschaffenheit, Beseeltsein, Gleichheit und Gleichartigkeit, Harmonie und Wohlklang und alle anderen Eigenschaften der besseren Art. [6.] 23 Von keinem Helfer – denn wer sonst existierte damals? – sondern nur von sich selbst beraten erkannte Gott, dass er mit reichen und verschwenderischen Gaben die Natur ausstatten müsse, die ohne göttliches Gnadengeschenk nicht imstande ist, irgend etwas Gutes von selbst zu erlangen. Allein nicht nach der Grösse seiner Gnade – denn diese ist grenzenlos und unendlich – erweist er Wohltaten, sondern nach Massgabe der Kräfte ihrer Empfänger; denn nicht so, wie Gott imstande ist Gutes zu tun, vermag auch das Geschöpf Gutes zu ertragen; denn über alles Mass gehen Gottes Kräfte, das Geschöpf aber ist zu schwach, um ihre ganze Grösse zu fassen, und es würde versagen, wenn er nicht in angemessener Weise jedem Einzelnen das ihm zukommende Mass abwöge und abmässe. 24 Will nun jemand einfachere Ausdrücke anwenden, so kann er wohl sagen, dass die gedachte Welt nichts anderes ist als die Vernunft des bereits welterschaffenden Gottes; denn auch die gedachte Stadt ist ja nichts anderes als der Gedanke des den Bau einer Stadt

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Philon: Ueber die Weltschöpfung (De opificio mundi) übersetzt von Joseph Cohn. H. & M. Marcus, Breslau 1909, Seite 34. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PhiloOpifGermanCohn.djvu/12&oldid=- (Version vom 9.9.2019)
  1. Plato Tim. 29e: „aus Güte hat Gott die Welt geschaffen, in seiner Güte und Neidlosigkeit wollte er, dass alles gut und vollkommen gleich ihm werde.“ Diese Anschauung, dass Gottes Güte die Ursache der Weltschöpfung sei, ist auch echt jüdisch. Vgl. Weish. Sal. XI 24: „Du liebst alles, was da ist, und verabscheust nichts, was du geschaffen hast, denn nicht hättest du etwas geschaffen, wenn du es hasstest.“ Im täglichen Morgengebet heisst es: „und in seiner Güte erneuert er an jedem Tage beständig das Schöpfungswerk“.