Seite:PhiloOpifGermanCohn.djvu/62

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Philon: Ueber die Weltschöpfung (De opificio mundi) übersetzt von Joseph Cohn

denn wie von einer Last niedergedrückt, erhebt er nur mit Mühe das Haupt, da die ungezügelte Lust ihn zu Falle bringt und zu Boden wirft; er geniesst nicht himmlische Nahrung, wie sie die Weisheit mit ihren Lehren und Grundsätzen den Schaulustigen bietet[1], sondern nur die Nahrung, die in den regelmässigen Jahreszeiten aus der Erde hervorwächst; aus dieser entstehen Trunksucht, Gefrässigkeit und Schlemmerei, die die Begierden des Leibes erregen und aufrühren und auch die heftigen Gelüste des Unterleibes erwecken. Gierig beschnüffelt er das Erzeugnis der Speisenbereiter und Kochkünstler und dreht den Kopf im Kreise herum und reckt sich, um den Duft der Leckerbissen einzuatmen; und wenn er eine wohlbesetzte Tafel erblickt, fällt er über die Speisen her, stürzt auf sie los und ist voller Eifer, sich mit allem auf einmal anzufüllen, da seine Absicht hierbei nicht ist, satt zu werden, sondern nur ja nichts von den Speisen übrig zu lassen. 159 Daher trägt er ebenso gut wie die Schlange das Gift in den Zähnen; denn diese sind die Diener und Handlanger der Unersättlichkeit: sie zerteilen und zerkleinern alles zum Essen und übergeben es erst der Zunge, die über den Geschmack entscheidet, zur Beurteilung und dann dem Schlund. Ein Unmass von Speisen ist aber natürlich tödlich [39 M.] und giftig, da sie keine Verdauung zulassen wegen der Menge der Speisen, die hinzukommen, ehe noch die früheren verdaut sind. 160 Es heisst aber, dass die Schlange menschliche Laute hervorbrachte, weil nämlich die Lust unzählige Verteidiger und Vorkämpfer hat, die die Sorge für sie und ihre Vertretung übernommen haben, die die Keckheit haben zu lehren, dass sie die Herrschaft über alles habe, über gross und klein, ohne irgend welche Ausnahme[2]. [57.] 161 Ist es doch bei der ersten Annäherung des männlichen Geschlechts

Empfohlene Zitierweise:
Philon: Ueber die Weltschöpfung (De opificio mundi) übersetzt von Joseph Cohn. H. & M. Marcus, Breslau 1909, Seite 84. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PhiloOpifGermanCohn.djvu/62&oldid=- (Version vom 9.9.2019)
  1. d. h. denen, die gern in der Betrachtung der Schaustücke der Natur verweilen und dadurch zur Philosophie und zur Weisheit gelangen (oben § 54).
  2. Gemeint ist die Lehre der Epikureer, deren Beweisgründe für die Bedeutung der Lust im folgenden angeführt werden. Vgl. Usener, Epicurea p. 274.